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Pflegeheim: Steigende Kosten – wird die Pflege jetzt unbezahlbar?


Pflegekosten
"Das ist heftig"


Aktualisiert am 20.09.2022Lesedauer: 6 Min.
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Mann in einem Pflegeheim (Archiv): "Das war mit Ansage", sagt ein Experte. (Quelle: IMAGO/Ute Grabowsky/photothek.de)

Die Kosten für einen Platz in einem Pflegeheim sind bereits hoch – und steigen derzeit drastisch. Doch die Regierung geht das Problem nicht an.

Der Brief, der Laura Gedeck schlucken lässt, kommt Ende Juli. Ihre Großmutter hat sie bereits vorgewarnt, die Enkelin voller Sorge aus dem Brandenburger Pflegeheim angerufen, in dem sie lebt: Es solle wohl Erhöhungen geben, die Bewohner redeten. Gedeck beruhigte ihre 86-jährige Großmutter: So schlimm werde es schon nicht kommen.

Der dreiseitige Brief aber, den das Heim dann schickt, hat es in sich. Statt wie bisher 1.600 Euro sollen die Gedecks ab 1. September 2.100 Euro pro Monat für den Platz zahlen. Die Gründe für das drastische Plus von 500 Euro: höhere Löhne für die Pflegekräfte und das Reinigungspersonal sowie gestiegene Energiekosten.

"Das ist heftig", sagt Gedeck, die eigentlich anders heißt. Zwar habe das Heim, in dem ihre Großmutter seit zwei Jahren wohnt, immer mal wieder die Kosten erhöht. "Aber das ist ein anderes Kaliber, das ist zu viel auf einmal."

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Für maximal sechs Jahre wird es reichen

Als sie den Brief gelesen hat, fängt die 31-jährige Gedeck sofort an zu rechnen. Ihre Großmutter bezieht zwei Renten, mit denen sich die Heimkosten bisher gerade so tragen ließen. Nun muss zwangsläufig das mühsam Ersparte ihrer Großmutter, die unter anderem als Näherin gearbeitet hat, angebrochen werden. Gedecks Bilanz ist bitter: Für maximal sechs Jahre wird das Geld reichen.

Wenn alles gut geht. Denn Gedeck fürchtet bereits den nächsten Brief. Das Heim kündigt an, dass im nächsten Frühjahr weitere Erhöhungen möglich sind. "Was, wenn es wieder so viel ist?", fragt sie. "Was, wenn es so weiter geht?"

Entlastungen? Fehlanzeige

Diese Fragen stellt sich derzeit nicht nur Gedeck. 800.000 Menschen werden in Deutschland in Pflegeheimen betreut. Viele bekommen derzeit ähnlich bedrückende Post. Auch wenn die Preise der Heime grundsätzlich variieren, ist die Tendenz eindeutig: Die Kosten für die Heimbewohner explodieren, die ohnehin schon enorm teure Pflege könnte bald für die meisten unbezahlbar sein.

Und die wichtigste Ursache ist nicht einmal die hohe Inflation infolge des Ukraine-Krieges. Natürlich spielen die steigenden Energiekosten auch eine Rolle, aber das drastische Preisplus ist vor allem politikgemacht. Ein wesentlicher Treiber sind Regelungen, die für bessere Löhne in der Pflege sorgen sollen. Der Schritt ist überfällig, um den Job attraktiver zu machen. Denn fast überall herrscht Fachkräftemangel.

Doch die entstehenden Mehrkosten reichen die Heimbetreiber nahezu eins zu eins an die Pflegebedürftigen und ihre Familien weiter. Die wiederum lässt die Politik bisher weitgehend im Stich. Es zeichnet sich bislang nicht ab, dass das Bundesgesundheitsministerium das Problem wirklich angehen will.

Experte: "Das war mit Ansage"

"Es gibt jetzt einen großen Aufschrei: Überraschung, Überraschung, die Eigenanteile steigen – daran ist aber nichts überraschend. Das war mit Ansage", sagt Heinz Rothgang von der Universität Bremen. Er ist einer der renommiertesten Pflegeexperten Deutschlands. "Die Kostensteigerungen für die Pflegebedürftigen werden von der Regierung in Kauf genommen."

Einer der jüngsten Auslöser für die steigenden privaten Zahlungen ist die sogenannte Tariftreueregelung, die seit dem 1. September greift. Das Gesetz sieht vor, dass Pflegeheime, die bislang nicht nach Tarif oder nach kirchlichen Regelungen bezahlt haben, die Löhne für Pflegekräfte entsprechend anheben müssen.

"Wenn Pflegekräfte höhere Löhne bekommen – was absolut richtig ist –, wird die Pflege natürlich teurer", so Rothgang, der zu Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik arbeitet. Der Fehler aber sei, dass die höheren Kosten an die Pflegebedürftigen weitergereicht werden.

Versicherung trägt nur einen Teil der Kosten

Das hat vor allem damit zu tun, dass – anders als in der Krankenversicherung – die Pflegeversicherung nur einen Teil der Kosten für die reine Pflege trägt. Für Heimbewohner kommen weitere Kosten dazu: für Unterkunft, Verpflegung und auch ein Posten für Investitionen in den Einrichtungen. Als "Teilkasko" wird die Pflegeversicherung deshalb oft bezeichnet. Steigen die Ausgaben für die Pflegeheime an, reichen die Betreiber die Kosten zu großen Teilen an die Pflegebedürftigen weiter.

Steuere die Politik nicht dagegen an, würden die Kosten für die Pflegebedürftigen weiter steigen, ist sich Rothgang sicher. Ab Juli 2023 etwa wird ein neues Verfahren gelten, das vielerorts dazu führen wird, dass mehr Pflegekräfte eingestellt werden müssen, um eine bessere Versorgung zu gewährleisten.

Experte: "Das Thema ist untergegangen"

Eine Kostenbremse ist also nicht in Sicht. Im Gegenteil. Dabei haben sich SPD, Grüne und FDP eigentlich darauf verständigt, das Problem angehen zu wollen. "Wir werden in der stationären Pflege die Eigenanteile begrenzen und planbar machen", heißt es im Koalitionsvertrag. Auch eine Kommission wurde zum Start der neuen Regierung angekündigt. Sie soll prüfen, wie die Pflegeversicherung um eine Vollversicherung ergänzt werden kann, welche "die Übernahme der vollständigen Pflegekosten umfassend absichert".

Doch seitdem ist nicht viel passiert. Warum? "Das Thema ist untergegangen", so die Einschätzung von Pflegeexperte Rothgang. "Nach Antritt der neuen Regierung kam der Ukraine-Krieg, und die Corona-Pandemie ist auch noch nicht vorbei." Gesundheitsminister Karl Lauterbach erwecke den Eindruck, sich nur um Corona und nicht um die Pflege zu kümmern.

Der Pflegeexperte sieht nur eine Lösung, um das Problem wirklich in den Griff zu bekommen: eine dauerhafte Begrenzung der Eigenanteile. Er hat ein spezielles Konzept dafür in der Schublade, das er "Sockel-Spitze-Tausch" nennt. Klingt kompliziert, ist aber eine simple Idee: Wer im Pflegeheim untergebracht ist, zahlt einen Festbetrag; alles, was darüber hinaus anfällt, trägt die Versicherung. Das jetzige Prinzip würde also auf den Kopf gestellt: Nicht mehr die Pflegebedürftigen wären mit plötzlich stark ansteigenden Kosten konfrontiert, sondern die Versicherung.

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"Die Kosten wären damit auf mehr Schultern verteilt"

Natürlich hätte das wiederum Folgen für die Versicherten, denn die Beiträge würden steigen. "Irgendwer muss es ja zahlen", sagt Rothgang. Trotzdem sieht er einen entscheidenden Vorteil: "Die Kosten wären damit auf deutlich mehr Schultern verteilt." Schließlich gibt es deutlich mehr Versicherte als Pflegebedürftige.

Unter Lauterbachs Vorgänger Jens Spahn wäre es beinahe zu der skizzierten Begrenzung der Eigenanteile der Pflegebedürftigen gekommen. In einem Eckpunkte-Papier im Jahr 2020 griff der CDU-Gesundheitsminister den Vorschlag auf. "Doch Spahn ist mit dem Vorschlag in seiner eigenen Fraktion gescheitert", so Rothgang.

Worauf sich die Große Koalition aber noch einigen konnte: Seit Januar dieses Jahres bekommen Heimbewohner einen sogenannten Leistungszuschlag. Die Pflegekasse übernimmt dann einen Teil der Kosten. Der Zuschlag richtet sich nach der Pflegestufe und steigt mit der Dauer des Heimaufenthalts. Der Haken: Der Zuschlag kann die steigenden, selbst zu zahlenden Anteile nur teilweise abfedern, so eine Auswertung des Verbands der Ersatzkassen.

Pflegebeauftragte: "Hier erwarte ich also Lösungen"

Vor allem all jenen, die erst seit Kurzem pflegebedürftig sind, hilft der Zuschlag fast nichts: "Wenn man weniger als ein Jahr im Heim ist, zahlt man immer noch 95 Prozent aller Preissteigerungen aus eigener Tasche", sagt Experte Rothgang. "Das können viele nur schwer bezahlen."

Die Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Claudia Moll, sieht in den Zuschüssen immerhin einen "ersten, wichtigen Schritt". Auch sie fordert allerdings, dass die "Kosten zudem begrenzt und somit viel besser planbar gemacht werden", sagt die ausgebildete Altenpflegerin t-online. "Das ist aber nicht meine exklusive Meinung – genauso steht es im Koalitionsvertrag. Hier erwarte ich also Lösungen".

Wenn die Kosten steigen und immer weniger Pflegebedürftige die Zahlungen selbst stemmen können, müssen letztlich die Sozialämter einspringen und die Kosten übernehmen. Rothgang rechnet damit, dass die Ämter von entsprechenden Anträgen überrannt würden.

Das könnte schlimmstenfalls zu Chaos führen, aber das Problem vielleicht auch lösen. Denn genau darin sieht der Gesundheitswissenschaftler den einzigen Hebel, wie es doch noch zu einer Begrenzung der von den Betroffenen zu zahlenden Kosten kommen könnte: "Eine Deckelung der Eigenanteile wird weder aus höherer Einsicht eingeführt werden, noch, weil sich die Regierung um die armen Pflegebedürftigen sorgt", ist sich Rothgang sicher. "Es wird nur dann geschehen, falls die Kommunen und die Länder über die Sozialhilfeausgaben klagen werden – und dann Druck ausüben."

Länder machen Druck auf Lauterbach

Ganz unplausibel klingt das Szenario nicht. Auf Länderebene rumort es bereits. Einige Länder haben inzwischen eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht. Um eine absolute Deckelung geht es dabei zwar nicht, aber um eine rasche Nothilfe. Initiatoren sind Niedersachsen und Schleswig-Holstein, auch Brandenburg, Berlin und Hessen haben unterzeichnet.

Mit der niedersächsischen Sozialministerin Daniela Behrens zählt ausgerechnet eine Parteifreundin von Lauterbach zu seinen schärfsten Kritikerinnen bei dem Thema. "Entlastung ist absolut erforderlich!", sagte die SPD-Politikerin t-online. "Die Pflegeversicherung ist die einzige Sozialversicherung ohne Steuerzuschuss des Bundes. Damit Pflege bezahlbar bleibt, muss sich genau das ändern." Der Eigenanteil müsse ebenso wie der Versicherungsbeitrag mit einem Steuerzuschuss in Balance gebracht werden, fordert sie.

"Das wäre ein Hoffnungsschimmer"

In ihrem Antrag formulieren die Länder konkrete Forderungen an den Bund. Die wichtigste: eine deutliche Anhebung der Zuschläge, mit denen die Eigenanteile von Pflegebedürftigen reduziert werden. 25 statt 5 Prozent sollen Pflegekassen im ersten Pflegejahr übernehmen, im zweiten 50 statt wie bisher 25 Prozent und ab dem dritten sogar 70 statt 45 Prozent. Und die Änderungen sollen so rasch wie möglich kommen: Der Beschluss solle "umgehend" und noch deutlich vor der nächsten Tagung der Sozial- und Arbeitsministerkonferenz im Oktober gefasst werden, heißt es im Antrag.

Laura Gedeck atmet auf, als sie von dem Vorstoß hört. Bisher werde in der Politik nur geredet, viel diskutiert, aber nichts tatsächlich unternommen, so ihr Gefühl. "Das würde wirklich helfen", sagt sie nun über die Länderinitiative. "Das wäre ein Hoffnungsschimmer."

Noch aber kann sie darauf nicht setzen. In der zweiten Septemberwoche haben die Länder ihre Forderungen an den Bund übermittelt. Eine Antwort steht nach wie vor aus.

Hilfe für Betroffene

Die Pflegekassen sind zur kostenlosen Beratung verpflichtet. Darüber hinaus gibt es Pflegestützpunkte, die beraten und konkrete Hilfestellungen liefern. Hier können Sie nach einem Pflegestützpunkt in Ihrer Nähe suchen. Auch die Verbraucherzentralen, Kommunen, kirchliche Anbieter und Wohlfahrtsverbände bieten Pflegeberatungen an.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Persönliches Gespräch mit Laura Gedeck* am 15. September 2022
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