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HomePolitikUwe Vorkötter: Elder Statesman

Europawahl: Mischt Sahra Wagenknecht das politische Gefüge auf?


Das Kalkül der Wagenknecht-Partei
Sie hält die schrägen Vögel fern

  • Uwe Vorkötter
MeinungEine Kolumne von Uwe Vorkötter

28.05.2024Lesedauer: 5 Min.
Meinung
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Im Osten stark: Sahra Wagenknecht und das BSW. (Quelle: Sebastian Kahnert/dpa)

Die Partei trägt ihren Namen, ist ganz auf ihre Gründerin zugeschnitten: Das Bündnis Sahra Wagenknecht tritt erstmals bei der Europawahl an. Eine neue politische Kraft, die die politische Landschaft der Republik verändern kann.

OMG (Oh Mein Gott), was soll die Frau nicht alles bewirken: den Enttäuschten in Deutschland eine neue politische Heimat bieten, das an allererster Stelle. Also all denen, die in der Ampelkoalition nur noch die Karikatur einer Regierung erkennen: den aufgebrachten Protestwählern im Osten, die sich vom Westen und seinem System abwenden. Den Menschen, die bei der AfD gelandet sind, obwohl sie mit dem ganzen Nazi-Kram der Rechtsextremen nichts am Hut haben. Den alten Linken, die mit den jungen Grünen wenig anfangen können.

Wer sonst außer Sahra Wagenknecht könnte verhindern, dass Björn Höcke im Herbst die Wahl in Thüringen gewinnt? Sie wird als Koalitionspartnerin der CDU gehandelt, vielleicht kommen nur mit ihr im Osten noch demokratische Mehrheiten zustande. Ihr Gefolge, die Wagenknechte, trauen ihr das alles zu. Sogar die politischen Wettbewerber trauen ihr viel zu.

Wie gut kennen Sie Sahra Wagenknecht? Eine Intellektuelle, die reden kann, im Bundestag und in der TV-Talkshow, das ist sie ganz sicher. Kaum ein Porträt kommt ohne den Vergleich mit Rosa Luxemburg aus, der Revolutionärin von einst. Die strenge Frisur, die Kleidung schlicht, aber auch explizit, wie die Fachpresse fürs Modische urteilt, eine Persönlichkeit mit Ausstrahlung. Gravitätisches Auftreten, eher distanziert als volkstümlich. Sie galt als Ikone der Linken, eine Identifikationsfigur des Ostens. Jetzt macht Sahra Wagenknecht Wahlkampf für das Bündnis Sahra Wagenknecht. Und sie beherrscht nicht nur den politischen Salon, nicht nur das Hintergrundgespräch mit Journalisten. Sie kann auch Marktplatz. Menschen aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern begegnen ihr interessiert, ohne Vorurteile. Ihre Fanbase wächst.

Uwe Vorkötter
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online schreibt er jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".

Das ist bemerkenswert für eine Politikerin, die in ihrer Biografie meistens auf der falschen Seite der Geschichte stand. Als die DDR-Bürger sich im Frühjahr 1989 in Scharen von ihrem Staat abwandten, trat Sahra Wagenknecht der SED bei. Die friedliche Revolution, die zum Fall der Berliner Mauer führte, nannte sie eine Konterrevolution. Als der Warschauer Pakt zerbrach und der Kommunismus dem Untergang geweiht schien, schloss sie sich der Kommunistischen Plattform an, einer sektiererischen Vereinigung. In ganz Osteuropa schleiften Menschen die Stalin-Denkmale, aber sie entdeckte die guten Seiten des Tyrannen.

Das alles ist eine Weile her. Heute steht sie allerdings wieder auf der falschen Seite der Geschichte. Vier Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine begründete sie im Fernsehstudio bei Anne Will wortreich, warum Putin ganz sicher nicht in sein Nachbarland einmarschieren werde. Als die russische Armee einmarschierte, wirkte sie einen Moment verunsichert, räumte ihren Irrtum ein.

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Suada aus vielen Sätzen

Eine Woche später war ihr Weltbild wieder intakt. Seitdem folgt Wagenknechts Rede diesem Muster: Russland hat das Völkerrecht gebrochen, deshalb ist der Krieg zu verurteilen. Ein Satz. Dann eine lange Suada aus vielen Sätzen, in denen sie erklärt, was die Nato alles falsch gemacht hat, wo der Westen in der Welt überall versagt hat. Und, besonders wichtig, dass hinter allem die USA stecken. Seit zehn Jahren ist Sahra Wagenknecht mit Oskar Lafontaine verheiratet. In dieser privaten und politischen Beziehung verbindet sich Wagenknechts gefestigter ostdeutscher Anti-Amerikanismus mit Lafontaines gefestigtem westdeutschen Anti-Amerikanismus.

Was historisch falsch ist, kann politisch trotzdem erfolgreich sein. Eine Mehrheit der Deutschen findet die Unterstützung der Ukraine zu teuer oder zu risikoreich, ist skeptisch gegenüber einer Politik der militärischen Stärke, will keine "kriegstüchtige" Bundeswehr. Viele Menschen haben Angst. Ihr Gefühl sagt, Deutschland soll sich heraushalten. Wagenknecht liefert die Politik zu diesem Gefühl: keine Waffen für die Ukraine, keine Wirtschaftssanktionen gegen Russland, billiges Gas für unseren Wohlstand. Verhandeln statt schießen, Diplomatie, Entspannung, Abrüstung, das sind die Schlüsselbegriffe ihres Programms. Und dann die knallharte Polarisierung: "Krieg oder Frieden" steht auf ihren Plakaten im Europawahlkampf – eine perfide Parole. Weil der Frieden, den sie da propagiert, ein Frieden unter Putins Knute wäre. Ihr Frieden ist die Kapitulation der Ukraine.

Anwältin einfacher Leute

Was Wagenknecht über Russland sagt, ist der AfD-Position zum Verwechseln ähnlich. Der Unterschied: Wagenknecht ist keine Marionette des Kremls, schon gar keine bezahlte Agentin Moskaus, ihr Platz ist nicht in der Schmuddelecke der Politik. Ihre Gegner rücken sie auch sonst in die Nähe der AfD. Zum Beispiel, weil sie die Migration strikt begrenzen will; das will die AfD auch. Aber wieder geht der Vergleich ins Leere. Fremdenfeindlichkeit und völkische Deutschtümelei, der Markenkern der AfD, sind nicht ihre Sache.

Wagenknecht macht sich zur Anwältin einfacher Leute. Sie spricht für diejenigen, die auf dem Wohnungsmarkt die Konkurrenz der Einwanderer zu spüren bekommen. Sie prangert die Überforderung der Schulen an, die fehlenden Kita-Plätze. Das ist Sozialpolitik, kein Rassismus. Sie hat die Lebenswirklichkeit von Menschen im Blick, die auf eine funktionierende Bahn angewiesen sind, die unter der Inflation beim Discounter leiden, die auf einen Termin beim Facharzt Wochen, wenn nicht Monate warten. Früher vertraten die Sozialdemokraten deren Interessen.

 
 
 
 
 
 
 

Ist sie noch eine Linke? Ja klar, gemessen an traditionellen Kriterien der Politik. Sahra Wagenknecht ist eine sehr linke Wirtschaftspolitikerin, eine der schärfsten Kritikerinnen des internationalen Finanzkapitalismus und seiner Exzesse. Neuerdings nimmt sie Anleihen bei den Gründern der sozialen Marktwirtschaft, zeigt Sympathien für Ludwig Erhard, den Kanzler des westdeutschen Wirtschaftswunders nach dem Krieg. "Wohlstand für alle" lautete sein Motto, das macht sie sich zu eigen. Aber das ist PR, die Marktwirtschaft ist ihr eigentlich suspekt: Alle Grundbedürfnisse – egal ob Strom oder Heizung, Wohnung oder Krankenhaus – sollen der privaten Wirtschaft entzogen und staatlich organisiert werden. Offenbar war nicht alles schlecht in der DDR.

Sahra Wagenknecht hat mit der Linkspartei gebrochen, nicht weil sie selbst sich verändert hätte, sondern weil ihre frühere Partei auf Abwege geriet. Für Wagenknecht geht es immer noch um Kapital und Arbeit, Oben- und Untenbleiben sind die Kategorien ihrer Gesellschaftsanalyse.

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Linke, Grüne und viele Sozialdemokraten denken heute in anderen Kategorien: Wer schwarz und queer ist, verdient Zuwendung. Wer weiß und hetero ist, gilt als privilegiert. Wer sich diskriminiert fühlt, hat recht. Eine akademische Elite gendert sich durchs Politologendeutsch, doziert über Postkolonialismus und Identitätspolitik. Wagenknecht zieht gegen dieses Milieu der "Lifestyle-Linken" in den Wahlkampf. Hafermilch-Latte und Lastenfahrrad sind nicht die Insignien ihres Publikums. Filterkaffee und eine Filterlose dagegen sehr wohl.

Gute Leute an Bord

Was ist Sahra Wagenknecht bei den kommenden Wahlen zuzutrauen? Ein früherer Versuch mit ihrer Sammlungsbewegung "Aufstehen" ist kläglich gescheitert, schon an mangelnder Organisation. Aber jetzt hat sie Leute um sich, die das politische Management beherrschen. Und Leute, die aus der One-Woman-Show eine Partei machen: ihre Co-Vorsitzende Amira Mohamed Ali, den Finanzexperten Fabio De Masi und den früheren Düsseldorfer Oberbürgermeister und langjährigen Sozialdemokraten Thomas Geisel, die beiden Spitzenkandidaten für die Europawahl. Gerade ist Oliver Ruhnert zu ihrem Bündnis gestoßen, hauptberuflich Fußballmanager bei Union Berlin. Die Egomanen, die Exzentriker und die schrägen Vögel, die üblicherweise neu gegründete Parteien kapern, hält das BSW dagegen systematisch fern.

Also, rechnen Sie mit Sahra Wagenknecht – egal ob Sie die Frau nun gut finden oder nicht. Sie erreicht ein vielfältiges Publikum: enttäuschte Linke, ehemalige Sozialdemokraten, Protestwähler, die bisher bei der AfD sind. Zweistellige Wahlergebnisse sind drin. Und damit ganz neue Konstellationen in der Parteienlandschaft.

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen
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