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Cannabis: Helge Timmerberg findet Verbote gefährlicher


Bestsellerautor über Cannabis
"Wer nimmt denn keine Drogen?"

InterviewVon Nicole Sagener

Aktualisiert am 07.10.2023Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Helge Timmerberg: Der Autor hat für sein neues Buch Länder bereist, in denen Cannabiskonsum legal ist. (Quelle: via www.imago-images.de/imago-images-bilder)

Deutschland streitet über die Cannabis-Legalisierung. Der Autor Helge Timmerberg hat Orte bereist, die legalisiert haben und meint: Verbieten ist riskanter.

In Deutschland wird aktuell der Gesetzesentwurf von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zur Cannabis-Legalisierung diskutiert, den das Bundeskabinett bereits abgesegnet hat. Wie sieht die Situation in Ländern aus, die Cannabis schon legalisiert haben? Der Autor Helge Timmerberg hat für sein gerade erschienenes Buch "Joint Adventure – Eine Reise in die Welt des Cannabis" einige dieser Orte bereist, unter anderem Malta, Thailand, Amsterdam. Im Gespräch mit t-online erzählt Timmerberg, der selbst seit mehr als 50 Jahren Cannabis konsumiert, warum er Verbote für sinnlos hält – und welche Länder er für gute Vorbilder bei der Legalisierung hält.

t-online: Herr Timmerberg, braucht der Mensch Süchte?

Helge Timmerberg: Wer um Gottes willen ist denn völlig abstinent und nimmt keine Drogen? Mal abgesehen von Kaffee und Zigaretten. Da müssen sie nur auf die Zahlen schauen: Es gibt im deutschsprachigen Raum derzeit etwa fünf bis sechs Millionen Kiffer – also Menschen, die sich für Cannabis als Gewohnheitsdroge entschieden haben, so wie andere für Bier oder Wein.

Ein Freund von mir behandelt als Arzt, Neurologe, Psychologe, Schmerztherapeut fast ausschließlich Angstpatienten. Der sagt, zweieinhalb Millionen Deutsche nehmen regelmäßig jeden Tag Benzos – eine extrem starke Droge ("Benzos" steht für Benzodiazepine – synthetische Wirkstoffe, die dämpfend auf das Zentralnervensystem (ZNS) wirken und darum in der Medizin bei Angststörungen und Schlaflosigkeit eingesetzt werden. Anm. d. Red.). Der Entzug ist in etwa so heftig wie der von Heroin.

Und wie viel Kokain konsumiert wird, zeigen ja die Abwasserproben etwa aus Frankfurt.

Ja. Die Banker kommen anscheinend ohne Koks gar nicht zurecht. Das gilt auch für etliche Schriftsteller, Stephen King zum Beispiel schrieb unter Kokain. Und wer weder kifft, kokst oder Tabletten nimmt, der trinkt.

Warum haben wir den gelegentlichen Rausch offenbar so nötig?

Wir brauchten anscheinend schon immer kleine Fluchten aus dem Schicksal des Menschseins, das bedeutet: Du sollst dein Brot im Schweiße deines Angesichts verdienen, du sollst unter schweren Schmerzen Kinder gebären. Und dann noch das Wissen, dass alles umsonst ist, weil das Leben irgendwann vorbei ist.

Kann man denn nicht ohne Drogen Abstand von der Realität bekommen?

Ich meditiere jeden Tag, genauso lange wie ich kiffe: seit 50 Jahren. Aber diese Sonntagsreden, à la wir können das alles ohne Drogen, mit längeren Spaziergängen oder so – das schafft ja kaum einer. Ich habe Freunde, die schalten abends mit Weizenbier ab. Aber wenn man denen am Abend ihr Bier wegnimmt oder den Wein, dann sind die genauso angefressen wie ich.

In Deutschland wird viel Alkohol konsumiert – zuletzt rund zehn Liter reinen Alkohols pro Kopf und Jahr. Wie erklären Sie sich das?

Alkohol bietet eine Flucht vor Ängsten und Mutlosigkeit. Man spricht ja nicht umsonst von "Mut antrinken". Eine Freundin von mir liebt Wein, und zwar aus einem Grund: Sie ist übersensibel, Lautstärke und all diese Dinge stören sie extrem. Und Alkohol ist gegen ihre Übersensibilität genau das Richtige. Dadurch wird sie cool.

Und welche Wirkung hat Cannabis?

Cannabis macht sensibler und schiebt die Kreativität an. Gleichzeitig wirkt es beruhigend und ist darum ein sehr gutes Schlafmittel, etwas, was mir sehr hilft. Meine Mutter, von der ich die Schlafprobleme geerbt habe, konnte nie ohne Schlaftabletten einschlafen.

Helge Timmerberg, geboren 1952 in Hessen, ist Journalist und Autor zahlreicher Bücher. Er schreibt Reisereportagen aus aller Welt und wurde als Schriftsteller unter anderem mit "Tiger fressen keine Yogis" und "Das Haus der sprechenden Tiere" bekannt. Gerade ist Timmerbergs neues Buch "Joint Adventure" erschienen. Aktuelle Termine zu den Lesungen finden Sie hier.

Das klingt alles etwas verharmlosend. Alkohol birgt schließlich ernste Gesundheitsgefahren, ebenso wie Cannabis, oder nicht?

Viele Wissenschaftler und Ärzte halten Alkohol für gefährlicher als Cannabis. Zum einen körperlich. Zum anderen gesellschaftlich. Häusliche Gewalt und viele Gewalttaten passieren auf der Basis von Alkohol. Cannabis macht einen auch nicht lieber, aber Aggression und Stress willst du dann nicht. Trotzdem wird Alkohol einfach als harmlos akzeptiert, Cannabis dagegen als Droge verteufelt. Das ist Gehirnwäsche seit 100 Jahren.

Das ärgert Sie?

Natürlich. Nehmen Sie die Weinkultur. Neulich im Zug in der Schweiz blätterte ich in einem Magazin über Wein. Da lesen Sie Texte übers gepflegte Saufen, über alles, was zu Wein passt, welche Lektüre und so. Aber stellen Sie sich ein Magazin über gepflegtes Kiffen vor! Das ist schizophren.

Etwa jede zehnte Straftat wird unter Alkoholeinfluss begangen, bei rund fünf Prozent aller Verkehrsunfälle mit geschädigten Personen ist Alkohol im Spiel. Sollte man Alkohol dann nicht strikter regulieren?

Die Mehrheit kann durchaus mit Alkohol umgehen, wie die Mehrheit auch mit Cannabis umgehen kann. Den Umgang mit Alkohol haben wir gelernt. Ich von meinem Vater, der von seinem. Ich weiß genau, unter der Woche geht mal ein Gläschen Weißwein, am Wochenende ist Partyzeit mit Longdrinks. Wenn ich ein Date habe, trinke ich nicht gläserweise Wodka. Und in Ländern wie Marokko oder Indien, wo traditionell viel mehr Cannabis konsumiert wird, haben die Leute auch damit umzugehen gelernt. Ein persisches Sprichwort sagt zu Recht: "Ein Körnchen Haschisch macht dich zum Weisen, das Körnchen zu viel zum Esel."

Dennoch: Es gibt auch die, die ihr Leben unter Alkohol und Cannabis nicht mehr im Griff haben und deren Gesundheit leidet. Sind trotz der Risiken Verbote unnötig?

Es ist immer eine Frage der Aufklärung sowie des Vertrauens. So viel Achtung vor den Menschen sollte man haben, dass man jeden seine eigenen Erkenntnisse aus Erfahrungen ziehen lässt.

Gilt das auch für Jugendliche? In Deutschland wird heftig über den Gesetzesentwurf von Karl Lauterbach zur Cannabis-Legalisierung gestritten – auch wegen der geplanten Altersgrenze von 18 Jahren. Bei jungen Menschen bis 25 gilt das Gehirn als noch nicht ausgereift und die Gefahr für psychotische Leiden wie Schizophrenie, Angststörungen, Depressionen ist bei regelmäßig konsumierenden Jugendlichen laut Untersuchungen erhöht.

Die Frage ist: Was ändert sich für Jugendliche, wenn nicht legalisiert wird? In allen offenen Gesellschaften weltweit ist der Cannabis-Konsum trotz aller Verbote ständig gestiegen. Jeder Jugendliche kriegt es an jeder Ecke. Bei Nicht-Legalisierung würde der Cannabis-Konsum trotzdem ständig steigen. Nur hätten der Staat, die Gesellschaft, dann weiter keinen Zugriff. Und wir wissen alle um die negativen Auswirkungen eines Verbots.

Sie meinen auch die oft sehr hohe Konzentration des psychoaktiven Wirkstoffs der Hanfpflanze, THC?

Bei etwa einem Prozent der Nutzer besteht das Risiko, dass Psychosen ausbrechen. Und das steigt, je höher das Cannabis potenziert ist. Eigentlich haben alle Probleme des Konsums mit Überdosen zu tun. Und das lässt sich durch die Legalisierung besser kontrollieren – im illegalen Bereich geht das nicht. Die Drogenmafia ist ja daran interessiert, die Käufer schnell süchtig zu machen.

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Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek spricht sich strikt gegen eine Legalisierung aus. Er ist davon überzeugt, dass Cannabis dadurch verharmlost wird.

Herr Holetschek verhält sich wie ein Rumpelstilzchen. Weizenbier ist quasi heilig, Cannabis eine böse Droge. Entweder ist er wirklich ein Fanatiker oder einfach nur Profipolitiker, der um Mehrheiten buhlt. Und in Bayern hat man einfach eine Mehrheit von Weizenbier-Freaks.

Sie sind für Ihr neues Buch an etliche Orte gereist, in denen Cannabis schon legalisiert ist. Welche Herangehensweise hat sie besonders überzeugt?

Malta macht das gut. Da ist Cannabis komplett legal. Jeder darf vier Pflanzen anbauen, bis zu 50 Gramm zu Hause haben und bis zu 30 Gramm auf der Straße dabeihaben. In der Öffentlichkeit dürfen die Leute aber nicht rauchen. Und wer Cannabis an Kinder und Jugendliche abgibt, bekommt sehr hohe Strafen. Als Tourist bekommst du es auch nicht einfach auf der Straße.

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Kanada gilt Befürwortern der Legalisierung auch als Positivbeispiel. Ihnen auch?

Ja. Selbst die Soldaten dürfen dort bis 24 Stunden vor Dienstantritt rauchen – aber trotzdem ist Werbung verboten. Die Verpackung darf auch nicht attraktiv sein. Das muss alles so aussehen, wie die Butterverpackung in der DDR. Dadurch ist ein Jahr nach der Freigabe in Kanada der Konsum erst leicht hochgegangen, mittlerweile aber unter dem Wert vor der Freigabe gesunken. Das Argument, wenn wir jetzt freigeben, kiffen noch mehr Menschen, stimmt also nicht.

Wohin ein florierender Schwarzmarkt führen kann, zeigen die Niederlande mit ihrer inkonsistenten Gesetzeslage: Der Besitz kleiner Mengen wurde 1976 entkriminalisiert, Coffeeshops dürfen Cannabis verkaufen. Aber: Die müssen bei illegalen, oft zur organisierten Kriminalität gehörenden Händlern kaufen, weil Anbau und Handel im großen Stil verboten sind …

Der liberale Ansatz war gut, aber die Umsetzung dumm, weil man den Schwarzmarkt gepusht und neben den sehr hoch potenzierten, riskanteren Cannabis-Sorten auch andere Drogen ins Land geschwemmt hat. Das ist ein Treppenwitz der Geschichte.

War der Ansatz trotz allem gut?

Ja. Für "Joint Adventure" war ich ja wieder in Amsterdam in einem der alten Coffeeshops. Was mir auffiel: Die Qualität war unheimlich gut, sehr sauber.

Sie haben für Ihr Buch auch Marokko bereist – den größten Haschisch-Exporteur der Welt , um mit den Cannabis-Bauern zu sprechen. Bittere Erkenntnis: Die Bauern verdienen an einem Gramm ein paar Dutzend Cent, der Endverbraucher zahlt hier im Schnitt 10 Euro. Die Bauern wussten auch, wie nach dem Weiterverkauf gestreckt wird – unter anderem mit Zucker oder Fischmehl. Hat Sie das erschreckt?

Ich ahnte das natürlich, aber vom Fischmehl wusste ich nichts. Stellen Sie sich das mal für Alkohol vor: Sie müssten irgendwo in dunklen Ecken bei unkoscheren Gesellen etwas kaufen, was irgendwie nach Alkohol riecht. Auf dem Schwarzmarkt für Cannabis ist das aber gängige Praxis. Und die Qualitätsunterschiede sind extrem.

Also auch aus diesem Grund besser akzeptieren statt kriminalisieren?

Einen Platz zu haben, an dem es reine Ware gibt und beraten wird, ist ein Schritt nach vorne – wie etwa in den Coffeeshops oder Social Clubs (Social Clubs sind nichtkommerzielle Vereine, in denen Mitglieder gemeinsam Cannabis anbauen und konsumieren. Anm. d. Red.). In der Schweiz, wo ich lebe, gibt es jetzt zum Beispiel in vier Kantonen Social Clubs. Das ist sinnvoll. Es ist schließlich viel praktikabler, wenn man den richtigen Umgang mit Cannabis propagiert, als es zu bekämpfen – was eh nicht funktioniert. Denn wie sollen in einer offenen Gesellschaft keine Drogen hineinkommen? Selbst im Knast gibt's Drogen.

Herr Timmerberg, vielen Dank für das Gespräch!

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Helge Timmerberg via Videokonferenz
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