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Chinas Griff nach Taiwan: In dieser Hinsicht irrt sich Xi Jinping gewaltig


Konflikt um Taiwan
Darum begeht Xi Jinping einen historischen Fehler

Von Marc von Lüpke

11.01.2024Lesedauer: 7 Min.
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Xi Jinping vor einer Karte Taiwans: Chinas Präsident betrachtet den Inselstaat als "abtrünnig".Vergrößern des Bildes
Xi Jinping vor einer Karte Taiwans: Chinas Präsident betrachtet den Inselstaat als "abtrünnig". (Quelle: Alkis Konstantinidis/Reuters/dpa/ Zoonar/MB Media Solutions (Montage: U.Frey)/imago-images-bilder)

Taiwan wählt, Peking lässt immer wieder die Säbel rasseln: Um jeden Preis will Präsident Xi Jinping China "wiedervereinigen". Doch seine Ansprüche auf Taiwan sind historisch eher Schall und Rauch.

Zigtausende strömten seit den frühen Morgenstunden des 1. Oktober 1949 zum Platz des Himmlischen Friedens in Peking. An diesem Tag, um 10 Uhr, schlug die große Stunde des Mao Zedong: Der Führer der chinesischen Kommunisten verkündete die Gründung der Volksrepublik China. Schluss mit der jahrzehntelangen Ausplünderung und Demütigung des Landes, so versprachen es die neuen Machthaber.

Sehr wohl als Demütigung empfand ein anderer chinesischer Politiker und Militär die Ereignisse des 1. Oktober 1949: Chiang Kai-shek, seines Zeichens Generalissismus und Führer des nationalistischen Kuomintang (Nationale Volkspartei). Seit Jahrzehnten hatten sich Chiangs Nationalisten und Maos Kommunisten einen blutigen Bürgerkrieg geliefert, wesentlich nur unterbrochen vom Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg zwischen 1937 und 1945.

Ein Schatz aus Gold und Kunst

1949 zog schließlich Mao im Triumph in Peking ein, dem unterlegenen Chiang Kai-shek blieb nur noch die Flucht: Am 10. Dezember bestieg er ein Flugzeug, Ziel war die Insel Taiwan. Allerdings war Chiang Kai-shek bei seinem Exodus nicht allein. 300.000 Soldaten erwarteten ihn bei seiner Ankunft, auch war der Generalissismus alles andere als mittellos: Gold und Kunstschätze hatte er zuvor in Tausenden Kisten auf die Insel in Sicherheit bringen lassen.

Seitdem existiert China praktisch zweimal: Einmal in Form der Volksrepublik China, die das Festland kontrolliert, und einmal als Republik China auf Taiwan und einigen anderen kleineren Inseln. Dieser Zustand währt bis heute, auch wenn Xi Jinping als Präsident der Volksrepublik dies zu ändern entschlossen ist. Zur Not wohl auch mit Gewalt.

Gegenwärtig ist die Lage besonders brenzlig, denn in Taiwan stehen Wahlen an. Demokratische Wahlen, das muss man betonen, denn genau das ist Taiwan im Gegensatz zur Volksrepublik: eine Demokratie. Und Xi Jinping auch aus diesem Grunde ein Dorn im Auge. Unentwegt posaunt die offizielle Propaganda der Kommunistischen Partei im In- und Ausland Xis Sichtweise heraus: Seit dem Altertum gehöre Taiwan zu China, der Inselstaat habe praktisch keine eigene Geschichte. Doch da irrt sich Xi Jinping gewaltig.

Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde das weit von der Pekinger Machtzentrale entfernte Taiwan ein Teil Chinas. Warum? Weil die Insel bereits damals einen Zufluchtsort darstellte. Auf dem Festland trieb die aufstrebende Kaiserdynastie der Qing ihre Vorgänger aus der Ming-Dynastie in die Enge, ein Getreuer der Ming flüchtete sich mit Tausenden Bewaffneten nach Taiwan. 1683 unterwarfen die Qing dann diese letzte Bastion des Widerstands. "Fast nebenbei wurde Taiwan erstmals in das chinesische Reich eingegliedert", stellt der Sinologe Kai Vogelsang in seinem Buch "Geschichte Chinas" fest.

"Kranker Mann von Asien"

Die indigenen Ethnien Taiwans hatten es zuvor mit den Europäern zu tun bekommen. 1583 hatten die Portugiesen das Eiland entdeckt und als "Ilha Formosa", die "schöne Insel", tituliert. Ihnen folgten später Spanier und Niederländer, die Teile Taiwans jeweils in ihren Besitz nahmen. Die Eingliederung Taiwans ins Chinesische Reich beendete letztlich dann auch koloniale Ambitionen weiterer Mächte auf der Insel – zumindest für eine gewisse Zeit, und auch nur, solange China stark war.

In den beiden Opiumkriegen von 1839 bis 1842 und 1856 bis 1860 demütigte Großbritannien die einst so stolzen Kaiser in Peking. Und auch das aufstrebende Japan gierte nach Einfluss und Land: China erlitt verheerende Niederlagen im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg von 1894 bis 1895 gegen die überlegenen Streitkräfte des Gegners, in einem demütigenden Frieden musste Peking unter anderem Taiwan aufgeben. Fortan war die Insel eine japanische Kolonie.

"Kranker Mann von Asien": So beschreibt Sinologe Vogelsang die damalige Sichtweise auf China. Daran sollte sich lange Zeit wenig ändern, auch dann nicht, als mit Puyi der letzte Kaiser 1912 abdankte – und China eine Republik wurde. Der Bedrängung durch auswärtige Mächte schloss sich seit den 1920er-Jahren das Chaos im Inneren an. "Was folgte, war unfassbares Grauen", schildert Kai Vogelsang die Ereignisse. "Jahrzehntelang wurde das chinesische Volk von Krieg, Terror und Massenmord heimgesucht." Damit gemeint: der Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten sowie der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg, den Japan mit Grausamkeit führte.

Für die Alliierten im Zweiten Weltkrieg – allen voran die USA – war der chinesische Kriegsschauplatz eher zweitrangig. "Es war für den Westen eindeutig keine Priorität, China zum Sieg über Japan zu verhelfen", stellt der Sinologe Klaus Mühlhahn in seinem Werk "Geschichte des modernen China. Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart" fest. Als dann gleichwohl das Japanische Kaiserreich nach den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki im September 1945 die Waffen streckte, war die Wiederaufnahme der Kämpfe zwischen Chiang Kai-shek und Mao Zedong nur eine Frage der Zeit.

Drohung mit der Atombombe

Das Ergebnis ist bekannt, die chinesischen Nationalisten flüchteten nach Taiwan, das seit 1945 wieder zu China gehörte. Willkommen waren die vermutlich mehr als anderthalb Millionen Neuankömmlinge bei den Bewohnern der Insel nicht. Bereits 1947 hatten Chiang Kai-sheks Schergen während eines Massakers Tausende Taiwaner umgebracht. Es war der Beginn des sogenannten Weißen Terrors durch die Kuomintang. Chiang beherrschte den letzten Rest der Republik China diktatorisch unter jahrzehntelanger Anwendung des Kriegsrechts.

Warum aber machte der Sieger Mao nicht kurzen Prozess mit seinem Erzfeind auf Taiwan? Immerhin trennen nur rund 130 Kilometer die Insel vom chinesischen Festland. Mao hegte tatsächlich entsprechende Pläne, nur fehlten ihm durch den 1950 ausgebrochenen Koreakrieg die Kräfte. Hunderttausende sogenannte Freiwillige hatte Peking bei der Unterstützung des nordkoreanischen Verbündeten Kim Il Sung verloren, der nach dem Norden der Halbinsel auch den Süden mit Gewalt vergeblich hatte kommunistisch machen wollen.

Aber nicht nur die horrenden Verluste hielten die Volksrepublik von einem Angriff auf Taiwan ab, sondern auch das erwachte Interesse der USA an Chiang Kai-Shek. "Taiwan galt nunmehr als Hort des 'freien China'", schreibt Kai Vogelsang. Deswegen entsandten die Vereinigten Staaten Kriegsschiffe in die Taiwanstraße. Mao wollte es ein paar Jahre darauf doch wagen und ließ seine Truppen 1958 das Feuer auf eine Insel vor Taiwan eröffnen – erneut konzentrierte die US Navy starke Kräfte vor der Insel.

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"Tatsächlich ging China in diesen Jahren keinem Konflikt aus dem Weg", so Vogelsang. Um Mao die Entschlossenheit Washingtons deutlich zu machen, Taiwan nicht in kommunistische Hände fallen zu lassen, verwies US-Präsident Dwight D. Eisenhower auf das Atomwaffenarsenal seines Landes. Mao gab klein bei. Unter amerikanischem Schutz war Taiwan zunächst sicher, zumal die Gegnerschaft zwischen der bestehenden Supermacht USA und der zukünftigen Supermacht China groß war.

Vorteil für Peking

Während Mao in Peking von der "Wiedervereinigung" mit Taiwan fabulierte, so träumte auch in Taipeh Chiang Kai-shek von einer Rückkehr aufs Festland. Eine völlig abwegige Idee angesichts der Machtverhältnisse. Trost fand er in der Tatsache, dass seine Republik China immerhin das gesamte Riesenreich seit 1945 bei den Vereinten Nationen repräsentierte. Trotz Niederlage im Bürgerkrieg. Doch dies sollte nicht mehr lange währen.

1972 reiste der damalige US-Präsident Richard Nixon nach China. "Dies war die Woche, die die Welt veränderte", zitiert Klaus Mühlhahn die damalige Wahrnehmung von Amerikanern und chinesischen Kommunisten. Während sich Washingtons Verhältnis zu Peking nun erwärmte, kühlte es zu Taipeh ab. Bereits 1971 hatte Taiwan den Sitz Chinas bei den Vereinten Nationen an die Volksrepublik abtreten müssen.

1979 kam es dann zur Aufnahme offizieller diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und der Volksrepublik, im selben Jahr ließ sich Parteiführer Deng Xiaoping mit einem Cowboyhut auf dem Kopf während eines USA-Besuchs ablichten. Die Vereinigten Staaten zementierten in diesen Jahren ihre eigene Form der "Ein-China-Politik": Sie anerkannten damit endgültig, dass die Volksrepublik China und dessen Interessen innerhalb der internationalen Politik vertritt.

Ganz fallen ließen die USA Taiwan aber trotzdem nicht, im Gegenteil: So kaufen die Taiwaner immer wieder Waffen in den Vereinigten Staaten, zudem hatten sich die USA 1979 dazu bekannt, die Republik China bei einer Invasion zu schützen.

Besagtes Taiwan – das nur von einigen wenigen Staaten der Welt diplomatisch anerkannt wird (Deutschland gehört nicht dazu) – hat im Laufe der Jahrzehnte wiederum eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen: Die nach dem verlorenen Bürgerkrieg auf die Insel geflohenen Nationalisten herrschten zunächst wie Besatzer, wie Kai Vogelsang betont: "In dieser Zeit wurden Taiwanesen nicht an der Regierung beteiligt – weder die Ureinwohner noch die in der Qing-Zeit übergesiedelten Chinesen". Doch die autoritäre Herrschaft bröckelte nach und nach, erst recht nach dem Tod Chiang Kai-Sheks 1975, der mit seinen alten Mitstreitern in den Denkmustern des Festlandes, nicht denen Taiwans verhaftet geblieben war.

Drohung mit Raketen

Dem Aufstieg Taiwans zur wirtschaftlichen und technologischen Großmacht folgte ein politisches Tauwetter. 1987 wurde das Kriegsrecht aufgehoben, ein Jahr später zog Lee Teng-hui von der Kuomintang in den Präsidentenpalast in Taipeh ein: erstmals ein auf Taiwan geborener Politiker. Drei Jahre später konnten die Taiwaner frei ihr Parlament wählen. "Seither ist Taiwan immer taiwanesischer geworden", resümiert Kai Vogelsang.

Erst recht, seit die Kuomintang im Jahr 2000 von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) überflügelt worden ist. Mit Chen Shui-bian entsandte die Partei einen Politiker ins Präsidentenamt, der Taiwan als unabhängigen Staat sehen wollte. Schluss mit "Ein China"? Weder die Kuomintang noch die Kommunisten auf dem Festland hörten und hören derlei Worte gerne. Tsai Ing-wen, die nun scheidende gegenwärtige Präsidentin Taiwans von der DPP, betrieb hingegen ebenso eine energische Politik zur Wahrung der Autonomie ihres Landes.

Wahrlich ein Ritt auf der Rasierklinge. Denn Peking hat nicht nur unzählige Raketen abschussbereit auf Taiwan ausgerichtet, sondern stößt auch einen beständigen Strom an Drohungen gegen die Republik China aus. Die "Wiedervereinigung Chinas" betrachtet Xi Jinping als seine historische Mission, ein Auftrag, den er sich selbst erteilt hat.

Was die Taiwaner hingegen wollen, interessiert Xi Jinping wenig. Nur drei Prozent der Bevölkerung verständen sich explizit als Chinesen, 63 Prozent hingegen als Taiwaner, berichtet der "Spiegel". Steht zu hoffen, dass die Volksrepublik nicht mit Gewalt die demokratische Entwicklung in der Zukunft auf der Insel stoppen wird – nach einem ihr nicht "genehmen" Wahlausgang.

Experte Vogelsang bilanziert in seiner "Geschichte Chinas": "Fast 75 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs erscheint die Gefahr eines Kriegs um Taiwan realer denn je." Ein Krieg, der unweigerlich mit der Volksrepublik China und den USA als Schutzmacht Taiwans zwei Atommächte in Konflikt miteinander führen würde.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Klaus Mühlhahn: "Geschichte des modernen China. Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München 2021
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