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Einwanderungsland Deutschland? Warum die Bundesregierung jetzt handeln muss


So geht Deutschland den Bach runter

Von Miriam Hollstein

Aktualisiert am 24.03.2023Lesedauer: 6 Min.
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Arbeitsminister Hubertus Heil wirbt mit Deutschlandflagge bei Studierenden am Humber College in Kanada für Deutschland.Vergrößern des Bildes
Arbeitsminister Hubertus Heil wirbt mit Deutschlandflagge bei Studierenden am Humber College in Kanada für Deutschland. (Quelle: Britta Pedersen)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

"Wer die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise." Diese Empfehlung stammt vom Schriftsteller Kurt Tucholsky. Ich muss gestehen: Noch nie habe ich Deutschland als so eng(stirnig) empfunden wie in den vergangenen Tagen, als ich Tausende Kilometer von meiner Heimat entfernt war.

Was war passiert? Ich hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) auf eine Reise nach Kanada begleitet, wo sich beide über die Einwanderungspolitik des Landes informieren wollten.

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Was ich dort sah, hat mich zutiefst deprimiert. Überall, wo wir waren – in Unternehmen, an einer Berufsschule, ja, sogar in einem Restaurant –, erlebten wir, wie sich Kanada optimal für die Zukunft aufstellt. Während Deutschland dabei ist, die seine zu verspielen.

Nehmen wir Shreeram, einen 33-jährigen Inder, den wir in einem kleinen Unternehmen in Ottawa trafen, das sich auf Technologieprodukte für die Beton-Industrie spezialisiert hat. Shreeram gehört zu jenen Arbeitskräften, die wir in Deutschland wie Goldstaub suchen. Jung, hochqualifiziert, mobil und sogar deutschlandaffin. Ein Jahr hat er in Paderborn gearbeitet. Er überlegte, dauerhaft zu bleiben. Dann erfuhr er, welche bürokratischen Hürden er dafür überwinden müsste. Da ging er lieber nach Kanada. Wenn es ihm gefällt, will er sich einbürgern lassen. Das kann man in Kanada nach drei Jahren. In Deutschland war das bislang frühestens nach acht Jahren möglich. Nun soll es auf fünf Jahre verkürzt werden.

Ich traf in Kanada einen Ägypter, leitender Angestellter in einem kanadischen Unternehmen, der sich gerade hatte einbürgern lassen. Mit leuchtenden Augen und voller Stolz erzählte er von der feierlichen Zeremonie. In diesem Moment musste ich an einen italienischen Freund denken, der vor ein paar Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt hatte. Zwölf Monate prüfte die Behörde, ob er, in Deutschland geboren und Professor für Medizin, auch wirklich Deutscher werden darf. Dann bekam er einen Termin, musste eine Wartenummer ziehen und erhielt schließlich die Urkunde. Immerhin rang sich der Beamte noch ein "Herzlichen Glückwunsch" ab.

"Kanada und Deutschland? Das ist wie Äpfel mit Birnen vergleichen", werden jetzt einige rufen. Richtig ist, dass Kanadas Erfolg bei der Einwanderung mit einer sehr restriktiven Flüchtlingspolitik einhergeht. Außerdem kann es im Gegensatz zu Deutschland dank einer einzigen Außengrenze die Zahl der Flüchtlinge auch sehr gut regulieren.

Richtig ist auch, dass eine gute Einwanderungspolitik nur funktionieren kann, wenn man den Eindruck hat, dass die, die kommen, sich auch an die Regeln halten. Und dass die, die dies nicht tun, das Land wieder konsequent verlassen müssen.

Falsch ist aber der Glaube, dass allein das den Erfolg Kanadas ausmacht. "It’s the spirit, stupid!", möchte man den Kann-man-nicht-vergleichen-Kritikern zurufen. Während Deutschland immer noch darüber diskutiert, ob es wirklich ein Einwanderungsland sein will, tut Kanada seit Jahrzehnten sehr viel dafür, um die, die es im Land haben will, dann auch erfolgreich zu integrieren.

In Kanada werden die Fremden von heute als wertvolle Staatsbürger von morgen gesehen. In Deutschland oft als die Sozialschmarotzer von morgen.

"Wir fragen nicht, woher kommst du? Wir fragen: Was kannst du beitragen?", erklärte uns in Toronto der Geschäftsführer eines Unternehmens für Antriebstechnik. Das bringt den Unterschied auf den Punkt. In Kanada wird eine Vielfalt der Kulturen als Bereicherung, in Deutschland sehr häufig als Bedrohung erlebt.

Wie fatal diese Einstellung ist, zeigt ein Blick in die Prognosen: 2035 könnten uns bis zu sieben Millionen Fachkräfte fehlen, weil dann die Babyboomer in Rente gegangen sind. Es ist deshalb dringend an der Zeit, mit ein paar Lebenslügen aufzuräumen:

  • Wenn Deutschland seinen Wohlstand erhalten will, muss es sich als Einwanderungsland definieren und dieses Ziel konsequent verfolgen. Dazu gehört eine Strategie, die von Politik, Wirtschaft und Bevölkerung gemeinsam getragen und gelebt werden muss.
  • Nicht die hochqualifizierten Fachkräfte müssen dankbar sein, wenn sie in Deutschland "arbeiten dürfen". Vielmehr müssen wir dankbar sein, wenn sie sich für uns entscheiden. Sonst wählen sie in Zeiten der Globalisierung ein Land, welches dankbarer ist. Kanada zum Beispiel.
  • Wer als Fachkraft kommt, muss die Aussicht erhalten, vollwertiger Teil dieser Gesellschaft werden zu können. Mit allen Rechten und Pflichten. Die Rechnung, dass man sich nach Bedarf vorübergehend Arbeitskräfte ins Land holt, die dann wieder gehen, ging schon bei den sogenannten Gastarbeitern der Wirtschaftswunderjahre nicht auf. Heute noch viel weniger.
  • Das neue Einwanderungsgesetz, welches nächste Woche im Kabinett beschlossen werden wird, ist ein erster Schritt. Aber es reicht nicht aus. Wenn nicht zugleich massiv und schnell Bürokratie abgebaut wird, zum Beispiel für Firmen, die ausländische Fachkräfte rekrutieren, werden wir weitere Jahrzehnte verschenken.

Mehr als 400.000 Immigranten kamen 2022 nach Kanada, ein Rekord. Zugleich ist die Zustimmung in der Bevölkerung zur Zuwanderungspolitik ungebrochen. Gerade hat die kanadische Regierung eine Reihe von Initiativen angekündigt, um die Zahl der Zuwanderer weiter zu steigern.

Eines der jüngsten Pilotprojekte: Kanada schickt "Scouts" in Flüchtlingslager, die dort potenzielle Fachkräfte rekrutieren. Diese erhalten die Möglichkeit, sich als "Wirtschaftszuwanderer" zu bewerben.

Für Deutschland heißt all das: Schon jetzt ist der Vorsprung, den Länder wie Kanada beim Werben um Fachkräfte haben, nicht mehr aufzuholen. Aber wir sollten alles dafür tun, dass er nicht noch größer wird.


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Herzliche Grüße

Ihre Miriam Hollstein
Chefreporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @HollsteinM

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Mit Material von dpa.

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