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Ukraine-Krieg | Experte: "Krieg kommt in fast jeden russischen Haushalt"


Putin droht neuer Ärger
"Jetzt machen die Russen ihrem Ärger Luft"

InterviewVon Nilofar Eschborn

Aktualisiert am 26.09.2022Lesedauer: 5 Min.
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Proteste der Frauen: Aufnahmen zeigen die harte Reaktion der russischen Einsatzkräfte. (Quelle: t-online)

In Russlands Teilrepublik Dagestan kippt die Stimmung gegen Putin. Ein Experte erklärt, warum diese Unruhen dem Kreml besonders gefährlich werden könnten.

Blockierte Straßen, Warnschüsse gegen Demonstranten: In der russischen Teilrepublik Dagestan spitzen sich die Proteste gegen Russlands Teilmobilmachung weiter zu. Nach Angaben von Aktivisten wurden allein in der Hauptstadt Machatschkala über 100 Menschen festgenommen.

Warum gerade in dieser von ethnischen Minderheiten geprägten Kaukasusregion die Stimmung gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin kippt – und wie gefährlich die wachsende Unzufriedenheit im ganzen Land der russischen Föderation werden könnte, erklärt der Russland-Experte Gerhard Mangott im Interview mit t-online.

Herr Mangott, wie kommt es, dass die Proteste vor allem in Dagestan so große Ausmaße angenommen haben?

Gerhard Mangott: Dagestan ist eine der vielen muslimischen Republiken im Nordkaukasus. Die Region ist seit Jahrzehnten instabil: Zum einen wegen der wirtschaftlichen Strukturschwäche, zum anderen wegen starker islamistischer Bewegungen. Vor allem aber hat das russische Verteidigungsministerium bei der Teilmobilisierung überdurchschnittlich viele Männer aus armen Regionen einberufen, in denen viele Angehörige ethnischer Minderheiten leben.

Die Teilmobilmachung hat Dagestan also besonders hart getroffen?

Ja, aber auch schon seit Februar ist die Mobilisierung von Soldaten dort sehr intensiv betrieben worden. Die Republik hat viele getötete und verwundete Soldaten zu beklagen. Für die grauenhaften Folgen des Krieges ist die Bevölkerung dort besonders sensibilisiert. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Stimmung kippt und sich der Unmut in heftigen Protesten auf den Straßen entlädt.

Bislang geht die Polizei zwar hart gegen die Demonstrierenden vor – aber noch nicht in dem Ausmaß, wie es etwa in Belarus der Fall war. Könnte es zu ähnlichen Szenarien kommen?

Das relativ moderate Vorgehen der Polizei ist keine milde Rücksichtnahme auf die Demonstranten, sondern folgt einem Kalkül. Je schärfer die Polizei durchgreift, umso eher wachsen die Proteste. Die Regierung wägt in gewisser Weise ab: Das Vorgehen ist so hart wie nötig, aber so wenig hart, wie es eben geht.

Auf Videos sind besonders viele Frauen zu sehen, die sich gegen Russlands Regierung auflehnen. Woran liegt das?

Dass vor allem Frauen auf die Straße gehen, ist auch in Moskau oder Sankt Petersburg aufgefallen. Sie demonstrieren dagegen, dass ihre Ehemänner und Söhne an die Front geschickt werden – und das zum Teil ohne gute militärische Ausbildung. Sie protestieren anstelle der Männer, die mehr Repressionen zu befürchten hätten.

Drohen den Frauen denn keine Konsequenzen?

Außer einer Strafe für eine unangemeldete Demonstration – und das können Geldbußen oder bis zu 15 Tage Polizeigewahrsam sein – drohen ihnen keine größeren Strafen. Wenn aber Reservisten gegen die Einberufung demonstrieren oder sich ihr widersetzen wollen, müssen sie mit mehreren Jahren Haft rechnen. Hierfür gibt es seit vergangener Woche eine neue gesetzliche Grundlage in Russland.

Also haben die Reservisten selbst keine andere Wahl als in den Krieg zu ziehen?

Es bleibt ihnen nur die Flucht in Nachbarländer. Georgien, Armenien und Kasachstan haben bereits gespürt, was das bedeutet. Dorthin sind sehr viele männliche Russen geflohen. Es ist übrigens schon ein gewisses Armutszeugnis der Europäischen Union, dass die Nachbarländer Finnland und die baltischen Republiken ihre Grenzen dicht gemacht haben. Wenn dann der lettische Außenminister davon spricht, dass diese jungen Männer zu Hause bleiben sollen, um gegen Putin zu demonstrieren, dann ist das schon etwas zynisch. Jeder weiß, welche persönlichen Risiken eine Demonstration gegen die politische Führung in Russland mit sich bringt.

Gerhard Mangott ist Professor für Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Internationale Beziehungen und Sicherheit im postsowjetischen Raum an der Universität Innsbruck.

Auch Aktivisten beklagen, dass Angehörige ethnischer Minderheiten besonders stark von der Mobilmachung betroffen sind und sprechen deshalb teils sogar von "ethnischen Säuberungen". Was ist dran an dieser Behauptung?

Dieser Behauptung würde ich widersprechen. Wie auch in den Vereinigten Staaten ist es so, dass sozial benachteiligte Schichten sich eher für eine Karriere in der Armee entscheiden, weil sie für sich eine Karriereperspektive sehen. Der Anteil an Vertragssoldaten ist also in allen ärmeren Regionen Russlands höher als in wohlhabenden Gegenden. Ethnische Minderheiten gehören dabei oftmals zu den sozial Schwachen. Mit der Teilmobilmachung ist es jetzt allerdings nicht nur moralisch unzulässig, sondern auch gefährlich für den Kreml, diesen ethnischen Filter anzuwenden.

Warum?

Weil sich daraus national beziehungsweise ethnisch motivierter Widerstand gegen Moskau bilden kann – und, wie man in Dagestan sieht, auch bildet. Hier ist es schon beachtlich, wie unsensibel das Verteidigungsministerium vorgegangen ist.

Wie gefährlich können diese Proteste nun dem russischen Präsidenten Wladimir Putin werden?

Es kam nicht von ungefähr, dass Putin lange gezögert hat, eine Mobilmachung anzuordnen. Ihm war klar, dass die Stimmung kippen könnte. Zu erwarten ist auch, dass in Regionen wie Dagestan der Zuspruch für sezessionistische Bewegungen steigt, also Forderungen, sich von Russland loszulösen und unabhängig zu werden oder sich einem anderen Staat anzuschließen, an Zuspruch gewinnen.

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Und wie steht es um die Stabilität im Rest Russlands? Immerhin hat es in rund 30 Städten Proteste gegen die Teilmobilmachung gegeben.

Die Bevölkerung wehrt sich allmählich gegen Putins Narrativ "Wir verteidigen Russland gegen den Westen". Das greift offensichtlich bei vielen nicht – jetzt machen die Menschen ihrem Ärger Luft. Vorher hatte Putin versucht, den Anschein der Normalität zu wahren. Das ist durch die Mobilmachung jetzt anders. Jetzt werden Männer und Söhne aus ihren Familien und Betrieben geholt und an die Front geschickt. Jetzt kommt der Krieg in fast jeden russischen Haushalt.

Was heißt das für den Zusammenhalt in der Russischen Föderation?

Je weniger die russische Führung und das, was sie tut, als legitim angesehen wird, umso größer wird die Instabilität. Dabei braucht die Regierung gerade jetzt dringend einen Zusammenhalt Russlands. Aber auch die wirtschaftliche Situation könnte dem Kreml zu schaffen machen.

Inwiefern?

Wenn jetzt Hunderttausende, vielleicht sind es ja deutlich mehr als 300.000 Reservisten, aus ihren Betrieben geholt werden, ist es auch eine sehr starke Schwächung der russischen Wirtschaft. Und die leidet ohnehin schon unter den Sanktionen. Es kann zu Produktionsdrosselungen kommen, das Wirtschaftswachstum wird noch stärker einbrechen. Die wirtschaftliche und soziale Lage könnte sich dadurch noch einmal verschärfen. Das kann eigentlich nicht in Putins Interesse liegen.

Wie lange wird es dauern, bis die Bevölkerung diesen Effekt zu spüren bekommt?

Das wird relativ schnell gehen. Die Regierung in Moskau hat zwar bestimmte Sektoren von der Mobilisierung ausgenommen, aber der Effekt wird wohl innerhalb eines Monats sichtbar – und mit jeder weiteren Woche zunehmen. Die Unzufriedenheit im Land wird steigen. Für Putin wird das zu einer immer größeren Gefahr.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Gerhard Mangott am 26.9.2022
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