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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Entscheidung aus Washington Trump stellt die Ukraine auf die Probe

Die USA stellen ihre Waffenlieferungen an die Ukraine teils ein. Für die Verteidiger könnte die Situation bald brenzlig werden. Manche Systeme sind kaum ersetzbar.
Seit Jahresbeginn steigert Russland die Schlagzahl seiner Luftangriffe auf die Ukraine beinahe kontinuierlich. In den vergangenen Wochen wurden dabei immer wieder Rekordzahlen eingesetzter Drohnen und Raketen notiert. In manchen Nächten fliegen allein mehr als 400 Drohnen in Richtung Ukraine, hinzu kommen ballistische Raketen und Marschflugkörper. Ihre Ziele sind zumeist Wohngebäude und kritische Infrastruktur. Allein in der ukrainischen Hauptstadt Kiew starben so im Juni mehr als 40 Menschen.
Zeitnah könnten diese Zahlen nochmals deutlich ansteigen: Denn die USA haben die Lieferungen von Waffen an die Ukraine erneut teilweise eingestellt. Betroffen seien Raketen und Munition, berichteten das Portal "Politico" und der Sender NBC News unter Berufung auf mit der Angelegenheit vertraute Personen sowie Verteidigungsbeamte und Kongressmitglieder. Hintergrund der Entscheidung ist demnach die Sorge vor zu geringen US-Waffenbeständen. Zuvor habe es eine Überprüfung der Bestände gegeben.
Für die Ukraine kommt die Nachricht zur Unzeit. Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump im Januar haben die Vereinigten Staaten keine neuen Militärhilfen zugesagt. Nun sollen selbst Lieferungen wegfallen, die noch von Trumps Vorgänger Joe Biden beschlossen worden waren. Europa bemüht sich zwar, die ausfallenden Hilfen auszugleichen, stößt dabei jedoch selbst auf Probleme. Mit der jüngsten Entscheidung des Pentagon spielen die USA den russischen Bemühungen im Angriffskrieg gegen die Ukraine einmal mehr in die Karten.
Nicht die erste Blockade der USA
Die Situation erinnert an den Jahreswechsel 2023/2024. Über Monate hinweg hatten damals die Trump-Anhänger unter den Republikanern Waffenlieferungen im Repräsentantenhaus blockiert. Erst Ende April löste ein Kompromiss mit den Demokraten die für die Ukraine missliche Lage auf: So wurden auf einen Schlag 61 Milliarden US-Dollar frei, die in wichtigen Nachschub für die Verteidiger investiert werden konnten. Die durch Engpässe belasteten Monate hinterließen jedoch Spuren auf dem Schlachtfeld.
Besonders im Gebiet Donezk beschleunigten sich die russischen Gebietsgewinne laut Analyse des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) deutlich. In diesem Zeitraum fällt etwa die Eroberung der zur Festung ausgebauten Kleinstadt Awdijiwka durch Kremltruppen. Diese hatten bereits ab März 2022, rund einen Monat nach Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine, Awdijiwka unter Dauerbeschuss genommen, jedoch kaum Fortschritte erzielt. Erst der Mangel an Artilleriemunition auf ukrainischer Seite ermöglichte den Russen die Eroberung.
Das ISW notierte in seinem jüngsten Bericht zur Frontlage vom Mittwoch, dass die russischen Angreifer zwischen Anfang Dezember 2023 und der Wiederaufnahme der US-Lieferungen Ende März täglich rund drei Kilometer vorgerückt seien – vor allem in Donezk. In den sechs Monaten vor Einstellung der US-Hilfen gestaltete sich das Bild gänzlich anders: Durch die erfolgreiche Offensive der Ukrainer im Frühjahr 2023 standen in diesem Zeitraum insgesamt ukrainische Gebietsgewinne von täglich rund 1,1 Quadratkilometern zu Buche. Möglich gemacht hatten dies umfangreiche Militärhilfen des Westens.
US-Lieferstopp könnte "mehrere Monate" andauern
Einen zweiten tiefen Einschnitt hatte es im vergangenen Frühjahr gegeben. Anfang März hatten die USA für rund eine Woche nicht nur die Waffenlieferungen, sondern auch die Übermittlung von Geheimdienstinformationen an die Ukraine eingestellt. Das Angebot aus Kiew für eine bedingungslose Waffenruhe von 30 Tagen mit Russland löste die US-Blockade damals wieder auf. Eine Feuerpause kam jedoch nie zustande – weil Russland sich auf keinen Vorschlag einließ.
Obwohl jenes Zeitfenster deutlich kürzer war, wusste die russische Militärführung auch diese Unterbrechung der US-Unterstützung für die Ukraine für sich zu nutzen: Kremltruppen forcierten ihren Kampf gegen ukrainische Soldaten im Grenzgebiet Kursk. Dort hatte sich die Ukraine seit dem vergangenen August festgesetzt. Laut ISW gelangen den Russen dabei tägliche Gebietsgewinne von rund 31 Quadratkilometern in Kursk und den besetzten Gebieten in der Ukraine. In den sechs Monaten zuvor waren es rund 19 Quadratkilometer pro Tag gewesen.
Wie schnell die jüngste Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu spüren sein wird, lässt sich aktuell nicht einschätzen. Ebenso wenig ist bekannt, wie viele Waffen und Geschosse tatsächlich betroffen sind. US-Beamte sagten der "New York Times" jedoch, dass Munition für "mehrere Monate" nicht geliefert werde. Dem Bericht zufolge sorgt sich die Trump-Regierung wegen geringer eigener Bestände an Munition und Luftabwehrsystemen. Womöglich spielt auch die jüngste Eskalation im Nahen Osten dabei eine Rolle, denn auch Israel als enger US-Verbündeter wäre von eventuellen Engpässen bedroht.
Versprochene US-Waffen offenbar bereits in Polen
Wie das "Wall Street Journal" am Mittwoch berichtete, haben die USA jedoch sogar Lieferungen an die Ukraine gestoppt, die sich bereits in Polen befinden. Später veröffentlichte Tom Bowman, Pentagon-Korrespondent des Radiosenders NPR, eine vollständige Liste der in Polen zwischengelagerten Munition:
- 92 Luft-Luft-Raketen des Typs AIM-120
- 30 Raketen für Patriot-Flugabwehrsysteme
- 8.496 155-Millimeter-Artilleriegeschosse
- 142 Luft-Boden-Raketen des Typs AGM-114 "Hellfire" zur Panzerabwehr
- 252 Boden-Boden-Raketen vom Typ GMLRS für Himars-Mehrfachraketenwerfer
- 25 Stinger-Flugabwehrraketen
- 125 Granatwerfer des Typs AT-4
Die USA hatten die Ukraine zuletzt über zwei Mechanismen beliefert: über die Entnahme von Waffen und Munition aus den eigenen Arsenalen sowie über die sogenannte Ukraine Security Assistance Initiative. Über letzteres Programm finanzierte Washington die Produktion von Waffen und Munition für die Ukraine, belastete zwar nicht die Depots, beanspruchte aber Produktionskapazitäten.
Patriot-Flugabwehr kaum zu ersetzen
Für die Ukraine besonders schwer ins Gewicht fallen dürften die fehlenden Flugabwehrwaffen. Dazu zählen die AIM-Raketen, die Patriot-Systeme sowie die Stinger-Geschosse. Angesichts der zuletzt massiven russischen Luftangriffe braucht die ukrainische Luftverteidigung jedes einzelne Abfanggeschoss, um die Schäden an der Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten. Aber auch die GMLRS-Raketen sind für die Ukraine kaum zu ersetzen, weil die Himars-Systeme ohne die hochpräzisen Geschosse kaum mehr ihre Vorteile ausspielen können.

Eine Schlüsselrolle spielen die Patriot-Flugabwehrsysteme: Bislang sind sie das effektivste Mittel gegen ballistische Raketen. Sogar Hyperschallraketen hat die Ukraine laut eigenen Angaben damit bereits abgefangen. Die dafür benötigten Abfangraketen sowie die Abschussrampen werden aktuell jedoch nur in den USA produziert. Derzeit wird im bayrischen Schrobenhausen eine weitere Produktionslinie aufgebaut, die jedoch erst ab 2027 die Arbeit aufnehmen soll.
"Anschließend wird es kritisch"
Der Sicherheitsexperte Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München sagte der "Bild", dass die ukrainischen Vorräte bei den zentralen Systemen noch bis zum Spätsommer ausreichen könnten. "Anschließend wird es kritisch", so Masala. Die "kritische Lücke" bestehe dann so lange, bis Europa sie schließe.
Angesichts sinkender US-Unterstützung haben die Europäer in den vergangenen Monaten ihre Hilfen bereits kräftig angekurbelt. Laut dem Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) hat Europa im März und April die USA erstmals seit Juni 2022 an der Spitze der Unterstützer abgelöst. Insgesamt investierten die Europäer seit Beginn der russischen Vollinvasion 72 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die USA gaben in derselben Zeit 65 Milliarden Euro aus. Allein im März und April leistete Europa Militärhilfen in Höhe von 10,4 Milliarden Euro.
Deutschland will 2025 neun Milliarden Euro investieren
Angesichts der nun ausbleibenden US-Lieferungen wird Europa seine Zahlungen nochmals steigern müssen, wenn Kiew weiter zur Verteidigung befähigt sein soll. Zuletzt hatten sich laut dem IfW Kiel vor allem die nordischen Staaten bei den Militärhilfen hervorgetan: Zwischen Januar und April gaben sie demnach 5,6 Milliarden Euro. Größere Staaten wie Großbritannien (4,5 Milliarden Euro) oder Frankreich (2,2 Milliarden Euro) steigerten ihre Hilfen ebenfalls.
In Deutschland lässt sich hingegen ein Abwärtstrend verzeichnen: In diesem Jahr investierte Berlin laut dem Kieler Institut 650 Millionen Euro – 70 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Bei einem Besuch in Kiew Mitte Juni hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) weitere Hilfen von etwa 1,9 Milliarden Euro angekündigt. In diesem Jahr sollen es so insgesamt neun Milliarden Euro an Militärunterstützung werden. Ein Schwerpunkt dabei sollen weitreichende Systeme sowie Munition und Flugabwehr sein.
Beobachter gehen davon aus, dass die US-Entscheidung den Krieg in der Ukraine weiter verlängern wird. Das ISW schreibt, dass Kremlchef Wladimir Putin ohnehin darauf setze, die Ukraine in dem Abnutzungskrieg langsam ausbluten zu lassen, indem Russland schlicht darauf wartet, dass der Westen in Gänze seine Hilfen einstellt. Dass die USA dies nun zumindest teilweise täten, führe dazu, dass Putin sich darin bestärkt sehe. Verhandlungen um einen Frieden seien so in naher Zukunft nicht absehbar.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa
- understandingwar.org: "Russian Offensive Campaign Assessment, July 2, 2025" (englisch)
- nytimes.com: "Trump Pauses Some Weapons Transfers to Ukraine" (englisch)
- wsj.com: "Why the Halt to U.S. Weapons Couldn’t Come at a Worse Time for Ukraine" (englisch)
- bmvg.de: "Pistorius in Kyjiw: Ukraine-Unterstützung 'belastbar, zuverlässig und beständig'"
- ifw-kiel.de: "Ukraine Support: Europe largely fills the US aid withdrawal, lead by the Nordics and the UK" (englisch)
- newsukraine.rbc.ua: "US put weapons deliveries to Ukraine on pause? What is known so far" (englisch)
- x.com: Beitrag von @TBowmanNPR