Bei Blutvergiftung lÀuft das Immunsystem Amok
Am Anfang schien alles ganz harmlos: An jenem Sommertag gönnte sich Linda Haltman nach einer Partie Tennis und einer Runde Schwimmen ein kurzes Nickerchen. Beim Aufwachen fĂŒhlte sich die 49-jĂ€hrige Frau aus New York auffĂ€llig schlapp. Dass sie da schon auf eine Blutvergiftung zusteuerte, ahnte zunĂ€chst niemand. Aber ihr Mann erschrak beim Blick auf das MessgerĂ€t: Ihr Blutdruck war auf 70 zu 50 abgesackt. Schleunigst brachte er sie ins nĂ€chste Krankenhaus. "Ich sagte noch zu meiner Tochter: 'Wir fahren nur kurz in die Ambulanz, ich bin gleich wieder zurĂŒck'", erzĂ€hlt die Frau spĂ€ter. "Das ist das Letzte, woran ich mich fĂŒr die nĂ€chsten 13 Tage erinnere."
Jeder dritte Patient stirbt
Eine Blutvergiftung - medizinisch Sepsis genannt - ist ebenso gefĂŒrchtet wie rĂ€tselhaft: Theoretisch kann jede Infektion mit Bakterien oder Pilzen zu einer Sepsis fĂŒhren. HĂ€ufig sind jedoch eine LungenentzĂŒndung oder eine EntzĂŒndung im Bauchraum die Ursache. Aus bislang unbekannten GrĂŒnden entfesselt die Infektion eine lebensgefĂ€hrliche Reaktion des Immunsystems. Nach und nach werden alle Organe beeintrĂ€chtigt - der Körper kann lebenswichtige Funktionen nicht mehr aufrecht erhalten. In Deutschland erleiden jĂ€hrlich rund 150.000 Menschen eine solche "Blutvergiftung", jeder dritte Patient stirbt.
"Jede Minute zÀhlt"
Ein weltweites AktionsbĂŒndnis will nun die BekĂ€mpfung der mysteriösen Immunreaktion fördern. Gerade die ersten Warnsignale mĂŒssten möglichst frĂŒh erkannt werden, fordert James O'Brien von der Ohio State UniversitĂ€t. "Jede Minute zĂ€hlt", sagt der Intensivmediziner. Viel zu oft wĂŒrden Ărzte Hinweise nicht ernst nehmen. Denn wenn die Körperabwehr erst einmal Amok lĂ€uft, kann sie nicht nur Gewebe schĂ€digen, sondern einen Schock auslösen und binnen Stunden lebenswichtige Organe lĂ€hmen. DafĂŒr muss sich die Infektion nicht einmal im Körper ausbreiten, wie Sepsis-Experte Kevin Tracey vom Feinstein Institut fĂŒr medizinische Forschung in New York betont. "Selbst wenn man dann die Erreger eliminieren kann, eskaliert die Krise weiter", sagt der Mitinitiator der gerade gegrĂŒndeten Globalen Sepsis Allianz.
Betroffene sind wirr und atmen schnell
Die ersten Hinweise auf die gefĂ€hrliche Entwicklung sind eher diffus: Der Patient ist wirr, er atmet schnellt, der Puls rast, der Blutdruck sinkt. Schon beim leisesten Verdacht sollten Ărzte Antibiotika geben und Infusionen anlegen, um den drohenden Schock abzuwenden. Zeit ist kostbar: Mit jeder Stunde sinkt die Ăberlebenschance um rund acht Prozent. Dennoch verstreichen in vielen KrankenhĂ€usern vier bis sechs Stunden, ehe Ărzte den Ernst der Lage erkennen und reagieren. Angesichts Millionen von Todesopfern weltweit und einer Sterblichkeit von etwa 30 Prozent brĂ€uchten Intensivmediziner dringend neue Therapien.
Forscher entdecken neuen Therapieansatz
Nun haben portugiesische Forscher eine neue Spur entdeckt: Sie könnte nicht nur neue Medikamente erschlieĂen, sondern auch wertvolle Hinweise darauf geben, welche Patienten am stĂ€rksten gefĂ€hrdet sind. Eine Sepsis schĂ€digt rote Blutkörperchen so stark, dass sie die Eisenverbindung HĂ€m verlieren - ein Bestandteil des Sauerstoff transportierenden HĂ€moglobins. GerĂ€t der Stoff wĂ€hrend einer starken EntzĂŒndungsreaktion aus den Blutkörperchen in den Blutkreislauf, schĂ€digt er die Organe, wie Miguel Soares vom portugiesischen Instituto Gulbenkian de Ciencia an MĂ€usen zeigte. Je mehr freies HĂ€m im Blut der Tiere vorhanden war, desto eher starben sie. Um die Eisenverbindung abzubauen, bildet der Körper gewöhnlich das MolekĂŒl HĂ€mopexin. Aber in der Studie gingen hohe HĂ€m-Werte mit besonders niedrigen Konzentrationen des wichtigen MolekĂŒls einher. Wurde den MĂ€usen dann HĂ€mopexin injiziert, so stieg ihre Ăberlebenschance deutlich, wie die Forscher im Fachblatt "Science Translational Medicine" schreiben. Dass der Stoff auch Menschen vor dem Tod bewahren kann, zeigte Soares an 56 brasilianischen Sepsis-Patienten: Je höher deren HĂ€mopexin-Werte im Blut waren, desto eher ĂŒberlebten sie die Blutvergiftung.
Antibiotika auf Verdacht
Warum aber eine gewöhnliche Infektion in eine Sepsis mĂŒndet, weiĂ weiterhin niemand. Besonders gefĂ€hrdet sind Senioren, sehr junge Menschen sowie Patienten nach einer Operation. Linda Haltman hatte GlĂŒck: Zwar vermuteten ihre Ărzte zunĂ€chst eine andere Erkrankung. Aber weil die hohen Werte weiĂer Blutkörperchen im Blut auf eine Infektion hindeuteten, bekam die Patientin auf Verdacht Antibiotika. Dennoch fiel sie binnen Stunden ins Koma. Am nĂ€chsten Morgen hatte sie Wasser in den Lungen und musste beatmet werden. In ihrem Körper wiesen die Ărzte zwar Streptokokken nach. Aber die eigentliche Ursache der Sepsis konnten sie letztlich nicht klĂ€ren.