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Johnson zwischen Brexit und Corona: Das Chaos ist nur ein Vorgeschmack


Großbritannien im Corona-Chaos
Hinter den Kulissen herrscht große Wut

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 23.12.2020Lesedauer: 6 Min.
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Boris Johnson bei einer Pressekonferenz: Der britische Premierminister hat momentan mit der Corona-Lage im Land und mit dem drohenden Scheitern der Brexit-Gespräche zu kämpfen.Vergrößern des Bildes
Boris Johnson bei einer Pressekonferenz: Der britische Premierminister hat momentan mit der Corona-Lage im Land und mit dem drohenden Scheitern der Brexit-Gespräche zu kämpfen. (Quelle: Reuters-bilder)

Aus Angst vor einer Corona-Mutation macht Frankreich die Grenzen dicht, es herrscht Chaos in Großbritannien. Das kann auch als Machtdemonstration verstanden werden, der Druck auf Boris Johnson im Brexit-Streit wächst.

Es sind die Bilder, die viele Brexit-Pessimisten befürchtet haben. Hunderte Lastwagen stehen an der britischen Küste, die Grenzen sind dicht, nichts bewegt sich in Richtung Festland. Aber der Grund ist nicht der EU-Austritt Großbritanniens oder das Scheitern der Verhandlungen um ein Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Königreich. Frankreich und auch Deutschland unterbinden den Grenzverkehr aus Angst vor einer neuen Mutation des Coronavirus, die auf der britischen Insel entdeckt wurde.

Trotzdem ist die gegenwärtige Corona-Lage eng mit den andauernden Post-Brexit-Verhandlungen verbunden. Der Stillstand des Warenverkehrs, drohende Lieferengpässe in Großbritannien und die Sorgen der britischen Wirtschaft sind mahnende Beispiele dafür, was dem Land ab Januar droht. Deshalb stehen die Grenzschließungen nicht nur als Corona-Maßnahme im Raum, sie erhöhen auch den Druck auf Premierminister Boris Johnson, im Brexit-Streit kompromissbereiter aufzutreten.

Aber wie weit sind EU und Großbritannien von einer Einigung entfernt? Was blockiert ein Handelsabkommen und welchen Einfluss hat die gegenwärtige Corona-Lage auf die Verhandlungen? Ein Überblick:

Worum geht es in den Post-Brexit-Verhandlungen?

Großbritannien war zum 1. Februar 2020 aus der EU ausgetreten, bis zum Jahresende bleibt das Land aber noch im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Die Zeit für die fristgerechte Ratifizierung des Handelsabkommens ist nach Angaben des EU-Parlaments bereits abgelaufen. Denkbar wäre noch eine vorläufige Anwendung einer möglichen Einigung innerhalb der kommenden Tage, um die gravierenden wirtschaftlichen Folgen eines Chaos-Brexits zu verhindern.

Was wären die Folgen eines No-Deal-Brexits?

Es droht ein "No-Deal-Szenario", bei dem ab dem 1. Januar Zölle und weitere Handelsbarrieren an den Grenzen zum Vereinigten Königreich Realität würden. Gekappte Reiseverbindungen zwischen Großbritannien und dem Rest Europas wegen der Furcht vor der Ausbreitung einer mutierten Variante des neuartigen Corona-Virus lieferten dafür am Montag bereits einen Vorgeschmack. Die Europäische Union bleibt trotz Brexit der wichtigste Handelspartner für Großbritannien.

Kurz gesagt: Auf der Insel fürchtet man ein wirtschaftliches Chaos, viele Unternehmen sind gar nicht auf ein derartiges Szenario eingestellt. Die Folgen sind unabsehbar.

Waren die Reaktionen auf die neue Corona-Mutation aus Großbritannien zu hart?

Natürlich treibt viele Länder die Sorge um, dass sich das Coronavirus schneller verbreiten könnte – besonders eine mutierte Variante nährt diese Angst. Aber die französische Reaktion, britische Häfen und den Warenverkehr von der Insel zu unterbrechen, kann auch als Machtdemonstration gewertet werden. Die Botschaft an die britische Regierung: Großbritannien gilt – nach dem Brexit und ohne Abkommen – nur noch als Drittstaat, also ein Land, mit dem es keine vertraglichen Einigungen gibt.

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Zwar kündigte Frankreich bereits an, die Sperren für Reisende aus Großbritannien ab Mittwoch wieder zu lockern. So dürfen Flugzeuge, Schiffe und der von London aus fahrende Eurostar-Zug offenbar wieder verkehren. Die Briten haben dennoch Grund zum Unmut: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und viele Experten teilten mit, dass die mutierte Version des Coronavirus schon in Australien, den Niederlanden, in Dänemark und in den USA entdeckt wurde. Reiseverbote in die Länder gab es nicht. Und: Eigentlich gab es in der EU Einigkeit darüber, dass Reisebeschränkungen oder Grenzschließungen nicht mehr in einem nationalen Alleingang beschlossen werden sollten – das haben unter anderem Deutschland und Frankreich nicht beachtet.

Brüssel reagierte verschnupft. Die EU-Kommission forderte die Mitgliedstaaten auf, die erlassenen strikten Reiseverbote von und nach Großbritannien zurückzunehmen. "Verbote von Flug- und Zugreisen sollten angesichts der Notwendigkeit, essenzielle Reisen zu gewährleisten und Unterbrechungen der Versorgungskette zu vermeiden, ausgesetzt werden", erklärte die Brüsseler Behörde am Dienstag.

Wie reagierte Großbritannien auf die Blockade?

Premierminister Boris Johnson gibt sich diplomatisch und appellierte in einer Rede an die "Freunde" in der EU, den Warenverkehr möglichst bald wieder zu ermöglichen. Er führte als Grund an, dass das Risiko durch einen LKW-Fahrer, der allein in seiner Kabine sitzt, überschaubar sei.

Die Heftigkeit der internationalen Reaktion soll die britische Regierung aber überrascht haben: Hinter den Kulissen, so berichtete es die Londoner "Times", war man in der Downing Street wutentbrannt über die Entscheidung Frankreichs, den Warenverkehr am Ärmelkanal zu stoppen. Behauptet wurde, die Sperre solle als Hebel in den Brexit-Verhandlungen eingesetzt werden. Frankreich und vor allem dessen Präsident Emmanuel Macron ist von der britischen Boulevardpresse schon lange als Bösewicht im Ringen um einen Brexit-Handelspakt ausgemacht worden. In jedem Fall baut die Blockade des Warenverkehrs Druck auf Boris Johnson auf, einer Einigung im Brexit-Poker zuzustimmen. Denn schon in der jetzigen Situation befürchten britische Supermärkte Engpässe an Weihnachten.

Hat der Brexit einen Einfluss auf den Kampf gegen Corona in Großbritannien?

Ja. Zwar hat Großbritannien als erstes Land mit den Impfungen begonnen, trotzdem drohen bei der Gesundheitsversorgung Engpässe durch den Brexit. Neue Einwanderungsregeln würden Pflegepersonal abhalten, der Transport von Medikamenten und Medizintechnik könne gefährdet sein, heißt es in der am Dienstag veröffentlichten Studie des auf Gesundheit spezialisierten Thinktanks "Nuffield Trust". Auch die schwache Konjunktur sowie Hindernisse für Investitionen in die Wissenschaft träfen die Branche. "Die gefährlich ungewisse Zukunft, mit der Großbritannien am Ende der Brexit-Übergangsphase konfrontiert ist, könnte das britische Gesundheits- und Pflegesystem gefährden."

"Die Gesundheit der Öffentlichkeit könnte durch eine anhaltende wirtschaftliche Abkühlung, die zu einem niedrigeren Lebensstandard und verstärkten öffentlichen Ausgaben führt, direkt verschlechtert werden", heißt es in der Studie. "Diese Risiken würden die am stärksten gefährdeten Menschen zuerst treffen."

Was sind die Hauptstreitpunkte beim Brexit-Pakt?

Hauptstreitpunkte in den Verhandlungen sind seit Monaten faire Wettbewerbsbedingungen, die Kontrolle eines künftigen Abkommens und der Zugang zu britischen Gewässern für EU-Fischer. Während es bei den ersten beiden Knackpunkten zuletzt wesentliche Fortschritte gegeben hatte, blieb die Fischerei-Frage bis zuletzt schwierig. Im Detail geht es um Kürzungen der erlaubten Fangmengen in Großbritanniens Gewässern für EU-Fischer und die Länge einer Übergangszeit für deren Einführung.

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Scheitern die Gespräche am Fischfang?

Der Fischfang gehört zu den Themen, die eine Einigung blockieren. Aber die verantwortlichen Politiker beider Seiten könnten ihren Bevölkerungen nur schwer verkaufen, wenn der Handelspakt aufgrund von Fischen scheitert – besonders in Anbetracht der wirtschaftlichen Folgen eines No-Deal-Brexits. Deshalb überrascht es nicht, dass sich beim Fischfang eine Einigung abzeichnet.

Wie könnte ein Kompromiss beim Fischfang aussehen?

Wie ein Kompromiss aussehen könnte, skizzierte ein ehemaliges Mitglied des britischen Verhandlungsteams in einem Gastbeitrag für das Nachrichtenportal "Politico". Raoul Ruparel, einst Berater der Premierministerin Theresa May, hatte sich bereits im vergangenen Jahr einen Namen gemacht, als er den Kompromiss für das Austrittsabkommen korrekt vorhergesagt hatte.

Demnach sollen die Fangrechte der EU-Fischkutter über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg nach und nach um 35 Prozent reduziert werden. Die Briten bekämen weiter die Möglichkeit, ihre Fische zollfrei auf den europäischen Markt zu bringen. Flankiert werden soll das mit der Möglichkeit für Brüssel, Zölle für den Fall einzuführen, dass die Briten den Zugang für Fischer aus der EU weiter einengen – jedoch nur in von unabhängiger Seite festgelegter Höhe.

Welche Rolle spielt Boris Johnson in dem Poker?

Der britische Premierminister muss einerseits zum Schutz der Wirtschaft ein Handelsabkommen abschließen. Andererseits riskiert er mit Zugeständnissen an die EU auch ein Auseinanderbrechen seiner Partei. Die Torrys sind in ihrer Beziehung zum Brexit gespalten, Johnson machte Wahlkampf für die "Leave"-Kampagne und wurde seither auf seinem Weg an die Staatsspitze von den "Brexiteers" in den eigenen Reihen gestützt. Wenn er diese Unterstützung verliert, ist seine Machtposition gefährdet und die britische Regierung droht zu kollabieren.

Johnson selbst gilt als führungsschwach oder als unentschlossen in der Krise. Seine Gegner in der eigenen Partei werfen ihm vor, dass seine Entscheidungen immer davon abhängen würden, wer zuletzt bei ihm im Büro war. Hinzu kommt, dass der Premierminister seine Regierung auch personell umbauen müsste. Im Januar ist der Brexit-Prozess abgeschlossen, nun sind Politiker gefragt, die für eine Aussöhnung mit der EU und für ein gutes Verhältnis stehen. Johnson muss sich von den "Brexiteers" distanzieren, wenn er den Schaden für sein Land durch den EU-Austritt minimieren möchte. Das wird schwierig.

Kommt es zu einer Einigung?

Eigentlich können sich Großbritannien und die EU, besonders in dieser Corona-Zeit, keinen No-Deal-Brexit leisten. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit eines No-Deal-Brexit momentan noch hoch, auch wenn auf der Zielgeraden nun plötzlich Kompromisse möglich werden, die vorher noch undenkbar waren.

Aber die Verhandlungen werden zäh bleiben und weiter in Schrittgeschwindigkeit Fortschritte machen, auch wenn sich EU und Großbritannien Zeit nehmen, die sie eigentlich nicht mehr haben. Am Ende wird sich Großbritannien mehr bewegen müssen, die britische Regierung ist in der schwächeren Position und die EU will Härte demonstrieren und ein mahnendes Beispiel für einen EU-Austritt setzen. Das gelingt aktuell auch durch die Bilder von hunderten Lastwagen, die nicht von der britischen Insel auf das europäische Festland kommen. Ein Vorgeschmack auf das drohende Chaos im Januar.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, rtr und afp
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