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Argentinien ist Weltmeister: Es geht um weit mehr als nur den WM-Titel


Weltmeister Argentinien
Es geht um weit mehr als um den WM-Titel

MeinungVon Susanne Käss, Konrad-Adenauer-Stiftung

Aktualisiert am 19.12.2022Lesedauer: 4 Min.
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Fußballfans in Buenos Aires: Fast unbeschreiblich sind die Emotionen, die das Finale bei den Menschenmassen auslöste.Vergrößern des Bildes
Fußballfans in Buenos Aires: Fast unbeschreiblich sind die Emotionen, die das Finale bei den Menschenmassen auslöste. (Quelle: Jaime Andres Olivos/imago images)

In Argentinien gibt es nach dem WM-Sieg kein Halten mehr. Das krisengeschüttelte Land fühlt, dass man doch noch Großes erreichen kann.

Am 18. Dezember 2022 hat Argentinien zum dritten Mal die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer gewonnen. Den letzten WM-Titel holte die Nationalmannschaft mit der "Hand Gottes" Diego Maradonas 1986 nach Hause. Fußball ist in Argentinien mehr als Sport: Er eint das politisch sonst so gespaltene Land in fast religiöser Leidenschaft.

Neben dem bereits verstorbenen Diego Maradona ist Lionel Messi das Idol fast jedes Argentiniers. Der WM-Titel hatte ihm zur Krönung seiner Karriere noch gefehlt, 2014 scheiterte Argentinien im WM-Finale an Deutschland. Messi hatte angekündigt, dass die WM 2022 seine letzte sei und somit unterstützten 47 Millionen Argentinier ihren "Leo" voller Inbrunst.

Trotz der extrem teuren Flugtickets, die für die meisten Argentinier in dem wirtschaftlich gebeutelten Land wegen der differenzierten Wechselkurse und hoher Abgaben fast unerschwinglich waren, reisten schätzungsweise ca. 40.000 Fußballfans nach Katar, um ihre Mannschaft anzufeuern. Der Hit "Muchachos" der argentinischen Band "La Mosca" wurde zur Hymne der Fans: in ihm wird der dritte WM-Sieg mit himmlischer Unterstützung von Diego Maradona für Messi besungen.

Dieser Sieg hat einen enorm hohen symbolischen Wert

Fast unbeschreiblich sind die Emotionen, die das Finale bei den Menschenmassen auslöste. Nach der ersten Halbzeit und der 2:0 Führung glaubte man sich als sicherer Sieger, bei den beiden Ausgleichstreffern der Franzosen in der zweiten Halbzeit flossen bei vielen bittere Tränen. Dann große Erleichterung bei der erneuten Führung in der Nachspielzeit und Verzweiflung beim erneuten Ausgleich durch die Franzosen. Und dann endlich der herbeigesehnte Sieg beim Elfmeterschießen.

(Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung)

Zur Gastautorin

Susanne Käss leitet das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Argentinien mit Sitz in Buenos Aires.

Auf den Straßen gab es kein Halten mehr. Hunderttausende Menschen strömten in die Straßen von Buenos Aires, um gemeinsam zu feiern, im ganzen Land fuhren Autokorsos bis in die frühen Morgenstunden hupend durch die Straßen; es wurde getrommelt, getrötet, getanzt, wildfremde Menschen umarmten sich und weinten vor Freude.

Für viele Argentinier hat dieser Sieg einen enorm hohen symbolischen Wert. Man fühlt, dass man doch noch Großes erreichen kann. Argentinien war zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgrund seines Reichtums an Bodenschätzen und seiner Fruchtbarkeit eines der reichsten Länder der Welt und Einwanderungsland für zahlreiche Europäer. In Frankreich gab es das Sprichwort "reich wie ein Argentinier", das so viel wie "steinreich" bedeutete.

Über lange Zeit hinweg existierte in Argentinien im Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern eine breite Mittelklasse und ein gutes öffentliches Bildungs- sowie Gesundheitssystem. Allerdings befindet sich das einst so prosperierende Land seit Jahrzehnten in einer tiefen Wirtschaftskrise, die durch das hohe Staatsdefizit mit einem aufgeblähten Staatsapparat mit hohen Sozialausgaben und einem komplexen Subventionssystem und Misswirtschaft ausgelöst und von einer galoppierenden Inflation begleitet wird.

Politische Auseinandersetzung ist stark polarisiert

Bis zum Jahresende wird mit einer Inflationsrate von ca. 100 Prozent gerechnet, die vor allem die Bevölkerung mit niedrigen Einkommen stark unter Druck setzt. Große Teile der einst breiten Mittelschicht sind bereits in die Armut abgerutscht, die Armutsrate liegt inzwischen bei knapp 40 Prozent. Vor allem gut ausgebildete junge Menschen verlassen das Land und bauen sich in Europa oder den USA eine Zukunft auf.

Auch die politische Lage ist ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen sehr schwierig. Der peronistischen Regierung ist es bisher nicht gelungen, die wirtschaftliche Situation in dem stark von der Pandemie gebeutelten Land wesentlich zu verbessern. Die politische Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition ist stark polarisiert, doch auch innerhalb der jeweiligen Lager toben Grabenkämpfe.

Vor knapp zwei Wochen wurde die ehemalige Staatspräsidentin und amtierende Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner nach einem aufsehenerregenden Korruptionsprozess des Staatsbetrugs für schuldig erklärt und zu sechs Jahren Haft und zu lebenslanger Disqualifizierung für öffentliche Ämter verurteilt. Misswirtschaft und Korruption haben zu einer starken Vertrauenskrise der Bürger in die Politik geführt.

Argentinien bietet enormes Potenzial

Auch die heftigen Auseinandersetzungen in der größten Oppositionspartei um die Präsidentschaftskandidatur tragen nicht zur Verbesserung des Ansehens bei. Sachfragen scheinen in der politischen Auseinandersetzung in den Hintergrund zu rücken und große Teile der Wähler fühlen sich von keiner der beiden Wahlallianzen adäquat repräsentiert. Vor allem in der jungen Generation nehmen Desillusionierung und Perspektivlosigkeit zu und wie in anderen Ländern der Welt erstarken die politischen Ränder.

Der wirtschaftliche und soziale Abstieg ist in Argentinien fühlbar und sichtbar. In Buenos Aires treffen sich die Pracht herrschaftlicher Gebäude mit omnipräsenter Armut. Der Sieg der argentinischen Nationalmannschaft lässt die Menschen nicht nur für einige Augenblicke ihre Probleme vergessen, sondern er bestärkt die Argentinier in der Gewissheit, dass man Großes erreichen kann.

Argentinien bietet enormes Potenzial: Es verfügt über die zweitgrößten Schiefergas- und Lithiumvorräte der Welt, bietet ideale Bedingungen für erneuerbare Energien und die Produktion grünen Wasserstoffs, ist bereits jetzt der siebtgrößte Weizenexporteur der Welt und kann bei 47 Millionen Einwohnern Lebensmittel für die zehnfache Zahl von Menschen produzieren. Die hohe Anzahl an Unicorns (Anm. der Redaktion: So werden junge Firmen mit Milliardenwert in der Finanzwelt genannt) im Land ist Ausdruck der Innovationsfähigkeit der Start-Up-Wirtschaft.

China hat die geopolitische Bedeutung längst erkannt

Argentinien ist wichtiges Einfallstor zur Antarktis, die für die Bewahrung der Artenvielfalt und den Klimaschutz von enormer globaler Bedeutung ist. Während Europa eher zögerlich investiert, hat China die wirtschaftliche und geopolitische Bedeutung des Landes längst erkannt. Allerdings müssen die Missstände in der öffentlichen Verwaltung und im Politikbetrieb bekämpft werden, damit Argentinien nicht das Land der ewigen Potenziale bleibt, sondern diese auch zum Wohle der Menschen nützen kann.

Nicht umsonst haben mehrere der direkt nach dem Finale interviewten Fußballspieler mit Tränen in den Augen darauf hingewiesen, dass man es als Argentinier gewohnt sei, zu leiden. Gestern hatte das Leiden im Fußball ein Ende. Jetzt ist es Aufgabe der Politiker und der Gesellschaft, die euphorische Aufbruchstimmung konstruktiv zu nutzen und an der Zukunft zu arbeiten.

Verwendete Quellen
  • Gastbeitrag
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