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Türkei in der Corona-Krise: Erdogan ist zur Gefahr geworden


Machtkampf in der Corona-Krise
Erdogan ist zur Gefahr geworden

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 11.06.2020Lesedauer: 6 Min.
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Corona-Krise in der Türkei: Trotz der Pandemie tobt um Präsident Erdogan ein Machtkampf im Land.Vergrößern des Bildes
Corona-Krise in der Türkei: Trotz der Pandemie tobt um Präsident Erdogan ein Machtkampf im Land. (Quelle: dpa-bilder)

Die Corona-Pandemie trifft die Türkei hart – die Lira ist so schwach wie niemals zuvor. Doch Erdogan macht sich in der Krise rar, seine Regierung agiert halbherzig. Für den türkischen Präsidenten geht es nun um alles.

Recep Tayyip Erdogan ist kein Mann der leisen Töne. Besonders in Krisenzeiten nahm der türkische Präsident oft ein Mikrofon in die Hand, kritisierte politische Gegner und internationale Partner scharf, bis seine Stimme versagte. Aber schlechte Nachrichten teilt Erdogan der Bevölkerung nur äußerst ungerne mit, zu groß ist sein Selbstbild der Unfehlbarkeit. Und in der Corona-Krise gab es in der Türkei bislang vor allem eines kaum: gute Nachrichten.

In den ersten Monaten der Virus-Krise war es deshalb eher ruhig um Erdogan geworden. Während die Infektionszahlen im Land stiegen, war der türkische Präsident oft nur bei Kabinettssitzungen zu sehen. Die Pandemie hat auch die Türkei hart getroffen, das Land kracht ungebremst in die Rezession. Durch den Lira-Absturz geht es politisch nicht mehr nur um die Folgen der gegenwärtigen Pandemie. Es geht um Erdogans Macht.

Lira auf Rekordtief

Inmitten der Corona-Krise leistet er sich einen Machtkampf mit seinen politischen Gegnern von der CHP – und wird zum Risiko für die Türkei. Mit vorschnellen Lockerungen der Maßnahmen versuchte er die Konsequenzen für die Wirtschaft abzumildern, auf Kosten des Seuchenschutzes. Dass die Not so groß ist, hängt auch mit den wirtschaftspolitischen Fehlern des türkischen Präsidenten in der Vergangenheit zusammen.

Die türkische Regierung finanzierte das rasante wirtschaftliche Wachstum teilweise auf Pump, das Land ist in hohem Maße abhängig von ausländischen Investoren, Devisen und von Importen. Aber die Investitionen aus dem Ausland bleiben derzeit aus. Das liegt einerseits an der Corona-Krise, aber anderseits hat Erdogan mit seiner Niedrigzinspolitik und mit dem Druck auf die türkische Zentralbank Vertrauen bei vielen ausländischen Investoren verspielt. Zusammen mit der großen Abhängigkeit der türkischen Wirtschaft vom Tourismus führte dies zu einem Sturzflug der Lira. Anfang Mai bekam man für einen Euro schon 7,78 Lira, ein Rekordtief. Nun sind es 7,71 (Stand: 10. Juni).

Für den Präsidenten sind die wirtschaftlichen Probleme des Landes auch ein machtpolitisches Problem. Dass die Bevölkerung ihm wirtschaftliche Kompetenz zuschreibt, ist das Fundament von Erdogans Macht. In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise wird diese Basis nun weiter erschüttert.

Erdogans Beliebtheit sinkt

Als Resultat ist die Corona-Politik der AKP-Regierung halbherzig und eher auf den Machterhalt des Präsidenten ausgelegt. Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch wäre wahrscheinlich auch das politische Ende Erdogans.

Der Lira-Verfall und die steigende Arbeitslosigkeit sorgen schon jetzt für Unmut in der Bevölkerung. Meinungsumfragen lassen sich in der Türkei oft nur schwer bewerten, da die Umfrageinstitute oft politisch nicht neutral sind. Aber: Die AKP und ihr rechtsextremer Koalitionspartner MHP konnten in keiner größeren Erhebung im Mai noch eine Stimmenmehrheit auf sich vereinen. Demnach stand Erdogans Partei nur noch zwischen 32,2 und 39 Prozent der Stimmen, die MHP liegt bei 8,2 bis 10,7 Prozent. Die Opposition hätte in manchen Umfragen aktuell sogar eine Mehrheit.

Auch wenn die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen erst in drei Jahren anstehen, sehen politische Beobachter in der Türkei einige Äußerungen Erdogans eher als Zeichen für vorgezogene Neuwahlen.

Die Begründung: Mit dieser Strategie könnte Erdogan einem noch größeren Schaden durch die gegenwärtige massive Rezession vorbeugen. Aber die Menschen haben schon jetzt weniger Geld im Portemonnaie und das sorgt auch für niedrige Beliebtheitswerte für den türkischen Präsidenten. Knapp 54 Prozent der Befragten lehnen laut einer Mak-Umfrage die Corona-Strategie der AKP-Regierung ab.

Wirtschaft wichtiger als Corona-Bekämpfung

Wenn man überhaupt von einer Strategie sprechen kann. Aus Angst vor dem Wirtschaftskollaps versucht das Regime in der Pandemie mit kurzzeitigen Ausgangssperren in großen Städten auszukommen. Offiziell gibt es in der Türkei derzeit knapp 23.000 Corona-Infizierte, aber die Zahlen der Behörden sind intransparent und wissenschaftliche Fakten gibt es kaum. Kritische Berichte darüber werden von der AKP als "Fake News" deklariert, Donald Trump lässt grüßen.

Wenn Erdogan jedoch Lockerungen verkünden kann, macht er die Corona-Politik wieder zur Chefsache. Angesichts des Unmuts in der Bevölkerung hatte er zuletzt eine kurzfristig für das erste Juniwochenende verhängte Ausgangssperre wieder aufgehoben. Das türkische Innenministerium hatte zuvor bekannt gegeben, dass die Menschen in 15 türkischen Städten zu Hause bleiben müssten. Nach "Rückmeldungen unserer Bürger" habe dann Erdogan den Entschluss wieder aufgehoben, teilte er auf Twitter mit. Er verwies auch auf die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes.

Cafés, Restaurants und zahlreiche andere öffentliche Orte hatten diese Woche bereits wieder geöffnet und bei der Bevölkerung Hoffnung auf eine baldige Lockerung der Corona-Auflagen geweckt. Landesweit durften neben gastronomischen Einrichtungen auch Parks, Strände, Bibliotheken und Museen öffnen. Millionen Menschen kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück.

"Wir sind nicht bereit, unsere Bürger leiden zu sehen, gerade jetzt wo sie nach zweieinhalb Monaten wieder zu ihrem gewohnten Alltag zurückkehren", erklärte der Präsident. Er rief die Menschen jedoch dazu auf, Masken zu tragen, Abstand zu halten und Hygieneregeln zu befolgen.

Erdogans Sündenböcke

Erdogan möchte in der Krise das Staatsoberhaupt sein, das Lockerungen für die Wirtschaft verkündet. Für die schlechten Nachrichten schickte er dagegen andere Mitglieder seiner Regierung vor. Der erste Sündenbock ist der blasse Gesundheitsminister Fahrettin Koca, das Gesicht der Corona-Krise in der Türkei. Sollten nun durch die Lockerungen der Regierung die Infektionszahlen explodieren, dürfte wahrscheinlich Koca seinen Posten verlieren.

Schuld sind immer die Anderen, diese Strategie Erdogans ist nicht neu. Für den Lira-Absturz macht er zum Beispiel feindliche Kräfte verantwortlich. "Wir sind uns bewusst, welche heimtückischen Ziele hinter den Fallen stecken, die unserer Wirtschaft gestellt werden", erklärte Erdogan Mitte Mai nach dem Absturz der Lira auf ein Rekordtief. Die Schuldigen für die Wirtschaftskrise sitzen im Ausland, glaubt man dem Regime. Numan Kurtulmuş, stellvertretender Vorsitzender der AKP, erklärte in einem Fernsehinterview, die türkische Wirtschaft werde "global angegriffen" – die Regierung könne es nicht hinnehmen, dass die Kaufkraft türkischer Bürger gedrückt werde, um ausländische Währungskurse in die Höhe zu treiben.

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Irrsinnige Erklärung für die Corona-Krise

Für den traurigen Höhepunkt des Sündenbock-Wahnsinns der AKP sorgte aber Ali Erbas. Der Chef der türkischen Religionsbehörde "Diyanet" sagte in einer Predigt Anfang Mai unter anderem, dass Homosexualität Krankheiten wie Corona mit sich bringe und Generationen "verrotten" würden. Erdogan stellte sich hinter Erbas und sagte, seine Aussagen seien korrekt, aber nur bindend für Muslime.

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Auch diese Aussagen sind Ausdruck des gegenwärtigen Machtkampfes in der Türkei, denn Erdogan möchte damit vor allem seine sehr konservativen Wähler ansprechen. Homophobie und ein patriarchisches Frauenbild sind eigentlich nicht neu für den türkischen Präsidenten, aber die Schärfe der Aussagen aus seiner Partei offenbart, dass der Machtkampf in den letzten Monaten an Fahrt gewonnen hat.

Das liegt vor allem an der gewonnenen Stärke der oppositionellen CHP. Die Partei hat bei den Kommunalwahlen im letzten Jahr die wichtigen Bürgermeisterposten in Ankara und Istanbul errungen, ein schwerer Schlag für Erdogan.

"Das Blut von Millionen wird fließen"

Die Opposition ist für seine AKP zu einer ernstzunehmenden Bedrohung geworden und die Partei versucht ihre Reihen zu schließen und dafür die Gesellschaft weiter zu spalten. Im türkischen Fernsehen werden regelrechte Hexenjagden veranstaltet und die sozialdemokratische CHP wird in die Nähe des Putschversuches 2016 und in die Nähe eines möglichen neuen Putsches gegen den Präsidenten gerückt.

Die konservative AKP-Anhängerin Sevdâ Noyan erklärte in einer Fernseh-Talkshow, allein ihre Familie sei in der Lage, "fünfzig Menschen auszuschalten", wenn es zu einem neuerlichen Umsturzversuch gegen den Präsidenten käme. Der islamistische Journalist Fâtih Tezcan dagegen verkündete in einem Onlinevideo, die Rache der AKP-Anhänger werde im Fall eines Putsches auch vor Frauen und Kindern nicht haltmachen: "Das Blut von Millionen wird fließen für einen einzigen Tropfen von Erdogans Blut."

Aber im Angesicht der Wirtschafts- und der Corona-Krise kann sich die Türkei diesen Machtkampf nicht leisten. Er lähmt das Land zusätzlich und schadet vor allem der Bevölkerung. Gutes Beispiel: Ekrem Imamoğlu, Bürgermeister von Istanbul, machte gegen die Corona-Maßnahmen von Erdogan Politik und wollte in einer eigenen Aktion Spenden sammeln. Der türkische Präsident verbot die Aktion und warf dem CHP-Hoffnungsträger vor, einen "Staat im Staat" bilden zu wollen.

Im Ringen um die Macht in der Türkei scheint zwar alles auf einen Zweikampf zwischen Erdogan und Imamoğlu hinauszulaufen, beide haben verstanden, dass sie in der Corona-Krise eine künftige Wahl gewinnen oder verlieren können. Aber: Die Türkei im aktuellen Krisenmodus ist nicht der passende Ring für diesen politischen Boxkampf.

Verwendete Quellen
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