Chaos rund um Kabuler Flughafen - "Dramatische Szenen"
Kabul/Washington (dpa) - Rund um den Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul herrscht weiter Chaos. Bundeswehrgeneral Jens Arlt sprach am Donnerstag von "dramatischen Szenen".
Einheimische Helfer deutscher Organisationen berichteten von verstopften und teils unpassierbaren Straรen. US-Soldaten lieรen sie bei den Eingรคngen nicht vor, sagten zwei Ortskrรคfte der Deutschen Presse-Agentur. CNN-Journalistin Clarissa Ward, die als eine von wenigen auslรคndischen Journalisten noch vor Ort ist, sprach von einem "Tornado des Wahnsinns". Ihr zufolge warfen Menschen Babys รผber den Zaun, um sie in Sicherheit zu bringen. Die Taliban seien mit Peitschen und Waffen unterwegs, um die Menschen zurรผckzuhalten.
"Es ist sehr, sehr turbulent alles", sagte Arlt, der den deutschen Evakuierungseinsatz vor Ort fรผhrt, in einer Online-Pressekonferenz des Verteidigungsministeriums, an der er telefonisch teilnahm. "Sie werden vielleicht den einen oder anderen Schuss im Hintergrund hรถren. Sie sehen die verzweifelten Augen der Afghanen und auch der Staatsbรผrger unterschiedlicher Nationen, die einfach versuchen, in den inneren Bereich des Kabul International Airports zu gelangen, das ist schon dramatisch, was wir sehen." Arlt sagte, "unterschiedliche Vertreter" der deutschen Seite versuchten, in den Auรenbereichen "unsere Leute" zu finden. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bezeichnete die Evakuierung als "hoch komplizierten Einsatz".
Biden: "Chaos war unvermeidbar"
US-Prรคsident Joe Biden betonte, das Chaos beim Abzug der US-Truppen sei unvermeidbar gewesen - wegen des Zusammenbruchs der afghanischen Regierung, des Militรคrs und der schnellen Machtรผbernahme der Taliban. Er versicherte im Fernsehsender ABC, die US-Soldaten am Flughafen kรถnnten notfalls auch รผber den geplanten Abzugstermin am 31. August hinaus bleiben. "Wenn dort noch amerikanische Bรผrger sind, werden wir bleiben, bis wir sie alle rausgeholt haben."
Auf die Frage, ob die US-Regierung Fehler gemacht habe oder ob man besser mit der Lage hรคtte umgehen kรถnnen, entgegnete Biden: "Nein. Ich glaube nicht, dass wir es auf eine Weise managen konnten (...), um ohne Chaos rauszukommen. Ich weiร nicht, wie das gehen soll."
In Afghanistan selbst demonstrierten trotz des Siegeszugs der Taliban offenbar Menschen mit der Nationalflagge. In sozialen Medien kursierten Videos, wie etwa in der Hauptstadt Kabul geschรคtzt 100 Menschen durch eine Straรe ziehen und die rot-schwarz-grรผne Flagge hochhalten. Sie riefen "Lang lebe Afghanistan" und "Unsere Flagge, unser Stolz". Zuverlรคssig รผberprรผfen lieรen sich die Aufnahmen zunรคchst nicht. Die Nationalflagge entwickelt sich seit der Machtรผbernahme der Taliban zunehmend zu einem Protestzeichen gegen die Islamisten, die eine eigene Fahne haben.
Rรผckkehr der Schreckensherrschaft befรผrchtet
Nach ihrem Eroberungszug haben die Taliban am Sonntag die Macht im Land รผbernommen. Viele Afghanen befรผrchten eine Rรผckkehr der Schreckensherrschaft der Islamisten der 1990er-Jahre, wรคhrend der etwa Frauen vom รถffentlichen Leben ausgeschlossen waren und die Vorstellungen der Islamisten mit barbarischen Strafen durchgesetzt wurden. Viele Menschen wollen deshalb das Land verlassen. Deutschland, die USA und andere Staaten fliegen derzeit eigene Staatsangehรถrige und afghanische Helfer aus.
Doch Biden rรคumte Probleme bei der Evakuierung von Afghanen ein. Zwar wรผrden die Taliban "kooperieren" und US-Bรผrger und Botschaftsmitarbeiter ausreisen lassen. Mit Blick auf die Evakuierung der frรผheren afghanischen Mitarbeiter der US-Behรถrden und Streitkrรคfte gebe es jedoch "ein bisschen mehr Schwierigkeiten", sie rauszubekommen. Biden rรคumte ein, dass es rund um den Flughafen weiter chaotisch zugehe, "aber es wird momentan niemand getรถtet".
Von amerikanischen Soldaten zurรผckgehalten
Ein ehemaliger Helfer von auslรคndischen Stellen sagte der dpa am Donnerstag hingegen: "Die amerikanischen Soldaten lassen nur ihre Leute durch." Eine andere Ortskraft berichtete, sie habe von 20.00 Uhr abends bis 2.00 Uhr morgens versucht, in den Flughafen zu gelangen. Ein US-Soldat habe gesagt, jemand mรผsse herkommen und รผberprรผfen, ob er wirklich eine Ortskraft der Deutschen sei. Immer wieder seien Schรผsse in die Luft gefeuert worden. Auch Trรคnengas sei eingesetzt worden. Das US-Verteidigungsministerium bestรคtigte am Mittwoch, das Soldaten auch in die Luft geschossen hรคtten, um die Menge vor dem Flughafen im Zaum zu halten.
Am Flughafengelรคnde von Kabul gibt es verschiedene Eingรคnge. Viele Menschen befinden sich beim Zugang zum zivilen Teil, der am sรผdlichen Ende des Flughafens liegt. Von dort aus werden kommerzielle Flรผge abgewickelt, die allerdings aktuell eingestellt sind. Am nรถrdlichen Ende gibt es einen Zugang zum militรคrischen Teil. Ein weiterer Eingang liegt rund einen Kilometer รถstlich vom Eingang zum zivilen Teil. Rund um diese Eingรคnge - aber auch entlang der Sprengschutzwรคnde, die das Gelรคnde umgeben - harren Tausende Menschen aus oder versuchen irgendwie, auf das Gelรคnde zu gelangen.
Videokonferenz der G7 geplant
International ist die Sorge groร. Der EU-Auรenbeauftragte Josep Borrell sprach von einer "Katastrophe fรผr die Werte und die Glaubwรผrdigkeit des Westens". Man habe dabei versagt, das Land auf seinem Weg zu einen modernen Staat zu begleiten. Den Vereinten Nationen zufolge fehlen mindestens 700 Millionen Euro an Spenden zur Unterstรผtzung der Menschen in Afghanistan. Italien will einem Zeitungsbericht zufolge einen Sondergipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenlรคnder (G20) einberufen. Fรผr nรคchste Woche ist zudem eine Videokonferenz der G7-Staats- und Regierungschefs im Gesprรคch.
Altkanzler Gerhard Schrรถder (SPD), in dessen Amtszeit der Bundestag Ende 2001 fรผr den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gestimmt hatte, sprach von einem "Desaster fรผr die USA, fรผr die Nato, aber auch fรผr die deutsche Politik". Deutschland sei zur Rettung der Ortskrรคfte verpflichtet: "Hier ist in den vergangenen Wochen geradezu fahrlรคssig gehandelt worden", schrieb Schrรถder in einem Gastbeitrag fรผr das Nachrichtenportal t-online. Die "entscheidende Verantwortung" fรผr das Scheitern sei jedoch "nicht in Berlin, sondern in Washington zu suchen".