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Ukraine-Krieg | Botschafter Melnyk: "Deutschland muss sich entscheiden"


"Deutschland muss sich jetzt entscheiden"

Von Sven Böll und Fabian Reinbold

Aktualisiert am 01.03.2022Lesedauer: 6 Min.
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"Leider bisschen zu spät gekommen": Der ukrainische Botschafter findet deutliche Worte für Deutschlands Unterstützung der Ukraine. (Quelle: t-online)

Er kritisierte Deutschland immer wieder hart. Nun ist der ukrainische Botschafter in Berlin erleichtert über die Unterstützung im Krieg gegen Russland – und hat zwei große Anliegen.

Andrij Melnyk schläft und isst wenig in diesen Tagen, in denen in seiner Heimat der Krieg tobt. Der ukrainische Botschafter in Deutschland ist im ständigen Austausch mit der Regierung in Kiew. Als er zum Interview erscheint, hat ihm gerade der Chef des Präsidialamts Videos der jüngsten russischen Luftangriffe aufs Handy geschickt.

Melnyk spricht mit t-online unter anderem über die Lage in Kiew, den schlimmsten Tag in seinem Leben und seine Auseinandersetzungen mit der deutschen Politik.

t-online: Herr Melnyk, im Bundestag gab es am Sonntag Standing Ovations, als Sie begrüßt wurden. Was ist Ihnen dabei durch den Kopf gegangen?

Andrij Melnyk: Das hat mich gerührt, aber ich habe den Applaus nicht auf mich bezogen. Denn ich bin stolz auf meine Landsleute. Sie haben den Russen gezeigt, dass sie noch da sind – aber eben auch den Deutschen. Für mich ist der bisherige Kriegsverlauf eine Bestätigung für das, woran ich immer geglaubt habe: Die Ukrainer kämpfen tapfer weiter und niemand sollte sie unterschätzen.

Aber war der Applaus auch ein bisschen heuchlerisch? Bis vor wenigen Tagen hat Deutschland ja nicht so arg viel zur Unterstützung Ihres Heimatlandes getan.

Wie aufrichtig der Applaus war, kann und will ich nicht beurteilen. Aber es gab noch ein zweites sehr deutliches Zeichen am Sonntag: die große Demonstration in Berlin. Das alles zeigt mir, was mir wirklich wichtig ist: In Deutschland hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man uns nicht im Stich lassen darf. Denn wir widersetzen uns der russischen Aggression, die das ganze freiheitliche Modell des Westens bedroht.

Andrij Melnyk, 46, ist seit 2014 der ukrainische Botschafter in Berlin. Der Jurist arbeitete zuvor in verschiedenen Funktionen für die Regierung in Kiew und war von 2007 bis 2010 Generalkonsul in Hamburg. Die deutsche Zurückhaltung in der aktuellen Krise kritisierte Melnyk immer wieder scharf.

Gab es denn zuletzt auch Kritik an Ihnen? Sie haben vor allem die Bundesregierung für ihr Zögern heftig angegriffen.

Ich wollte die Deutschen nicht provozieren, sondern es ging mir von Anfang an um eine moralische Frage: Wie lange kann sich Deutschland hinter einer Mauer von Scheinargumenten verstecken?

Das ist ein harter Vorwurf.

Aber ich finde, dass er zutrifft: Den Deutschen tut der Abschied von ihren Illusionen doch gut. Kein Land kann dauerhaft in einer Märchenwelt leben. Für mich war von Anfang an klar, dass Russland uns früher oder später angreifen wird. Und ich wusste, dass unser Präsident Wolodymyr Selenskyj und der russische Präsident Wladimir Putin seit zwei Jahren keinen Kontakt hatten, weil dieser jedes Gespräch verweigerte.

Auch nicht über Vermittler?

Nein. Es gab also keinen echten Weg, diese aus Moskau betriebene Eskalation zu verhindern. All das habe ich meinen deutschen Gesprächspartnern, die immer weiter auf Dialog mit Putin gesetzt haben, auch gesagt. Und deshalb habe ich auch beim Thema Waffenexporte nicht losgelassen. Ich weiß um die schwierige Lage der Bundeswehr. Deshalb wollte die Ukraine von Deutschland auch nie, dass es etwas hergibt, das es gar nicht hat. Aber Deutschland ist nun mal einer der besten Waffenhersteller in der Welt.

Was wir nicht gern hören.

Aber so ist es. Wenn es die deutsche Blockade nicht so lang gegeben hätte, hätte die Ukraine etwa ihre nach der russischen Krim-Okkupation verlorene Marine wieder aufbauen können. Ein kleines deutsches U-Boot hätte uns wahrscheinlich gereicht, um Russland im Schwarzen Meer in Schach zu halten.

Nun liefern Deutschland und viele andere Staaten Waffen an die Ukraine. Kommen die nicht zu spät?

Sie kommen sehr, sehr spät, aber hoffentlich doch nicht zu spät. Es geht jetzt auch nicht nur darum, der Ukraine taktische Hilfe zukommen zu lassen. Allen unseren Partnern sollte jetzt klar sein, dass wir die Ukraine aufrüsten müssen, um die Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Und Deutschland könnte dabei eben eine zentrale Rolle spielen. Wir wollen bei deutschen Rüstungsfirmen etwa Korvetten und U-Boote bestellen. Konkrete Gespräche darüber waren bis vor wenigen Tagen unmöglich, weil es diese politische Blockadehaltung gab. Nun bin ich zuversichtlicher.

Was braucht die Ukraine noch von Deutschland?

Ich denke an stationäre Luftabwehrsysteme. Deutschland liefert diese Systeme nach Ägypten, also warum nicht an uns? Ich nehme den Bundeskanzler, der von der Zeitenwende gesprochen hat, beim Wort. Das heißt: Die Zeitenwende muss sich auch in der Praxis bemerkbar machen, deshalb sollten unsere beiden Staaten einen echten Neuanfang im Rüstungsbereich wagen.

Die russische Armee rückt in der Ukraine nicht so schnell vor wie erhofft. Trotzdem ist Russland zumindest in der Theorie militärisch überlegen. Wird Ihr Präsident diesen Krieg überleben?

Der erste Tag des Krieges – ich nenne ihn den Schwarzen Donnerstag – war für uns alle kritisch. Es war der schlimmste Tag in meinem Leben. Ich wusste nicht, ob meine Familie und mein Staat überleben. Und wie mein persönliches Schicksal aussieht. Ich habe keinen Zweifel, dass auch ich auf der Vernichtungsliste stehe, die Putin wohl hat erstellen lassen.

Sie haben Angst um Ihr Leben und sitzen hier ganz ruhig?

Angst ist kein guter Berater. Die Lage hat sich in den letzten Tagen deutlich zu unseren Gunsten verändert. Inzwischen bin ich zuversichtlich, dass unser Präsident und die Regierung, aber auch die Ukrainer als Staatsvolk den Krieg überleben. Die Stimmung in Kiew und der Ukraine wird schon besser, der Kampfgeist bleibt megastark.

Die Stimmung wird besser während des Krieges?

Ja, das mag paradox klingen, aber so ist es. Natürlich kann Putin militärisch nachlegen, und er wird es auch tun, weil er verzweifelt ist. Also wird er noch mehr Verbrechen an Zivilisten begehen, das zeigt sich bereits durch die jüngsten Angriffe auf die Wohnhäuser in Charkiw. Aber glauben Sie mir: Der Wille der Ukrainer, Widerstand zu leisten, war noch nie so gewaltig wie derzeit. Dazu hat auch die massive Unterstützung des Westens beigetragen. Denn die Ukrainer sehen, dass sie nicht allein sind.

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Haben die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland überhaupt Aussicht auf Erfolg?

Wenn es die Möglichkeit gibt, einen Waffenstillstand zu vereinbaren, sind wir natürlich dafür. Wir haben diesen Krieg nicht begonnen, aber wollen diesem Blutvergießen ein Ende setzen. Aber einen Kompromiss kann nur unser Präsident schließen.

Sie sprechen von einem Kompromiss. Wie könnte der aussehen?

Wir erleben keinen Krieg, in dem eine Seite vernichtend geschlagen werden kann. Deshalb wird es nach einem Waffenstillstand natürlich Friedensverhandlungen geben. Wie die ausgehen, weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt natürlich noch nicht.

Aber die Ukraine hat ja Forderungen in Bezug auf ihr Territorium: Wollen Sie den Zustand vor dem 24. Februar wiederherstellen oder den vor der Annexion der Krim im Jahr 2014?

Die Krim und die Gebiete im Donbass, die verloren wurden, gehören zur Ukraine. Deshalb steht die territoriale Integrität der gesamten Ukraine für uns überhaupt nicht zur Debatte. Wir meinen also immer den Zustand vor Besetzung der Krim durch Russland.

Das würde aber bedeuten, dass Putin nicht nur den aktuellen Krieg verlöre, sondern die vergangenen acht Jahre abschreiben könnte. Wie soll er sich darauf einlassen?

Deshalb ist es auch zu früh, darüber zu reden. Für mich ist wichtig: Wir wollen den Status quo ante 2014. Und wir wollen, dass unsere Partner im Westen das genauso sehen. Wir wissen, dass sie das Thema Krim eben noch nicht abgeschrieben haben – auch wenn sich dieser Eindruck in den vergangenen Jahren immer wieder aufdrängte.

Die Ukraine hat am Montag den EU-Beitritt beantragt. In wie vielen Jahren wird es Ihrer Meinung nach so weit sein – und bis wann ist eine Nato-Mitgliedschaft realistisch?

Ich glaube, dass eine EU-Mitgliedschaft innerhalb von fünf Jahren möglich ist und eine Aufnahme in die Nato innerhalb von drei Jahren, wenn der politische Wille in Berlin endlich da ist.

Sie machen wirklich Tempo.

Wir wollen diesen historischen Moment nutzen. Nach der außenpolitischen Kehrtwende der Bundesregierung ist das Zeitfenster für diesen Schritt einmalig. Wenn die Werte, die die Ukraine gerade jetzt verteidigt, für den Westen keine Floskeln sind, sind wir genauso stolze Europäer wie die Deutschen.

Über den EU-Beitritt entscheidet allerdings nicht nur Deutschland.

Aber Deutschland muss sich jetzt eben entscheiden – wenn auch nicht unter Zeitdruck oder unter Zwang. Ich hoffe, dass die Ampel-Regierung in diesen schicksalhaften Tagen eine strategische Entscheidung trifft, dass die Ukraine der EU beitreten wird. Und dass uns die Deutschen helfen, alle Skeptiker in der EU zu überzeugen.

Das gilt auch für die Nato? Zuletzt räumte Bundeskanzler Olaf Scholz das Thema noch ab. Beim Besuch in Moskau sagte er Putin, dazu werde es in absehbarer Zeit nicht kommen.

Ich würde sagen: Never say never. Wir haben doch gerade den Kurswechsel der Bundesregierung bei Waffenlieferungen gesehen. Und wir werden ihn beim Thema Nato sehen. Ich kann mit Ihnen gern eine Wette eingehen, dass wir sehr schnell in die Nato aufgenommen werden. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Herr Botschafter, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Andrij Melnyk in der t-online-Redaktion
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