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Ukraine-Krieg | CDU-Chef Friedrich Merz in Kiew: Ein wichtiges Signal


Merz-Besuch in Kiew
Der Coup

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel, Kiew

Aktualisiert am 04.05.2022Lesedauer: 4 Min.
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Merz "voll Trauer und Bewunderung": Der CDU-Chef besuchte am Dienstag Irpin. (Quelle: Reuters)

Während Kanzler Scholz noch immer die ukrainische Absage an den Bundespräsidenten verarbeitet, reist der Oppositionsführer nach Kiew. Merz schafft zweierlei: die Ampel zu düpieren und ein wichtiges Signal an die Ukraine zu senden.

Friedrich Merz ist zu spät. Der Zug, der den deutschen Oppositionsführer in die ukrainische Hauptstadt brachte, verzögerte sich ein wenig. Nichts Ungewöhnliches für ein Land im Kriegszustand. Russland hatte zuletzt auch Bahnstrecken mit Raketen angegriffen. Immer wieder fallen Züge aus oder müssen Umwege nehmen. Keine ungefährliche Reise also, der Merz-Zug kommt dennoch heil in Kiew an.

Politisch ist Merz nicht zu spät, im Gegenteil. Er ist früher als alle anderen. Vor allem: früher als Kanzler Scholz und seine Ampelregierung. Weil er "nur" Oppositionschef ist, also keine konkreten Zusagen mitbringen kann, reiste der CDU-Chef begleitet von reichlich Kritik in die ukrainische Hauptstadt. "Kriegstourismus", sagten die einen. Andere warfen ihm parteitaktisches Kalkül vor: Ihm ginge es nur darum, den Kanzler zu düpieren, weil der zu Hause bleibt.

Kiew "weiterhin keine sichere Stadt"

Vor einem Hotel in Kiew, dessen Name aus Sicherheitsgründen nicht erwähnt werden darf, erspäht man ihn am Dienstagvormittag kurz auf dem Treppenaufgang. Er spricht mit seinem Begleiter, CDU-Außenexperte Roderich Kiesewetter, dann verschwindet er in dem hohen Gebäude.

Ein Mitglied aus Merz' Delegation erscheint mit ballistischer Schutzweste, die das Bundeskriminalamt zur Verfügung gestellt hat. "Immerhin haben wir Ausrüstung bekommen. Mitkommen wollten sie nicht", scherzt er.

Wenig später geht es los. Die Reisegruppe Merz brettert mit Sirene und Vollgas durch die Straßen und die Checkpoints der Hauptstadt. Lastwagen und Autos müssen weichen, das ukrainische Sicherheitsprotokoll ist strikt.

Der Konvoi fährt vorbei an der zerstörten Brücke des Kiewer Vororts Irpin, die provisorisch wieder aufgebaut wurde nach der Befreiung von russischen Truppen. Die Bilder des eingefallenen Brückendachs gingen um die Welt, als Zivilisten verzweifelt versuchten, während der russischen Angriffe über den Fluss zu fliehen.

Irpin ist Merz' erste und einzige Station außerhalb der ukrainischen Hauptstadt. "Kiew ist weiterhin keine sichere Stadt", hatte Bürgermeister Vitali Klitschko vor wenigen Tagen gewarnt. Zuvor war ein russischer Marschflugkörper in ein Wohnhaus geflogen und hatte eine Journalistin getötet. Anlass war vermutlich der Kiew-Besuch des UN-Generalsekretärs António Guterres. Eine toxische Grußbotschaft aus Moskau. Auch während des Merz-Aufenthalts könnten Raketen einschlagen. "Es ist kein Geheimnis, dass Kiew ein Ziel der Angreifer war und ist", so Klitschko vergangene Woche.

Merz' erster Stopp in Irpin ist das zerbombte Kulturzentrum der Stadt. Der Bürgermeister erklärt dem deutschen Oppositionschef, wie brutal die russische Armee in dem Ort vorgegangen ist. "50 Prozent der Stadt sind zerstört. 300 Bewohner wurden getötet", erklärt Oleksandr Markushyn dem ernst blickenden Merz. Ohne den beherzten Kampf der ukrainischen Armee wären es noch mehr geworden, so Markushyn.

Kühlschränke gefüllt mit toten Soldaten

"Sie kämpfen einen heldenhaften Kampf. Das ist großartig", sagt Merz und nickt anerkennend. Es ist ein bedeutender Moment: Der Bürgermeister dieser vom russischen Vernichtungswillen gezeichneten Stadt erzählt dem Chef der größten deutschen Oppositionspartei, was Putins Truppen angerichtet haben. Markushyn redet schnell, detailreich. Man spürt, ihm ist das Gespräch wichtig.

Der CDU-Chef hört bedächtig zu, fragt nach, wenn er mehr wissen will, etwa wie viele Flüchtlinge nach Irpin zurückgekommen sind (Antwort: "Circa 20.000") oder was mit den toten "sowjetischen" Truppen (er sagt das mehrmals, meint aber russische) geschieht. Antwort: "Unsere Kühlschränke sind voll."

Richtig ins Staunen kommt Merz, als er von der massiven Unterlegenheit der ukrainischen Kräfte gegenüber den russischen Angreifern erfährt. "Eins zu acht?" wiederholt er mit ungläubiger Miene und blickt anerkennend zum Bürgermeister.

Auf den Spuren des UN-Generalsekretärs

Bevor es zurück nach Kiew geht, wo der CDU-Chef den politischen Teil absolvieren wird, legt der Konvoi einen weiteren Stopp ein, der das Ausmaß der Zerstörung in Irpin veranschaulicht. Am selben Ort war vor wenigen Tagen UN-Generalsekretär Guterres gewesen. "Krieg ist böse", sagte der Portugiese bei seinem Besuch in den Trümmern, sichtlich mitgenommen von den Spuren der Vernichtung.

Merz findet eine andere Sprache, nüchterner, Merziger. "Der Bürgermeister hat sehr eindrucksvoll gerade geschildert, was hier passiert ist, welche Opfer hier zu beklagen sind, aber auch welche großartige Leistung von der ukrainischen Armee vollbracht worden ist. Ich kann nur sagen: jeden Respekt. Große Anerkennung." Es klingt ein wenig, als würde er einen langjährigen Mitarbeiter verabschieden.

Merz ist die meiste Zeit ernst, nur gelegentlich fällt er aus der Rolle, lächelt in der Traube von Kameraleuten oder scherzt mit der ukrainischen Abgeordneten Halyna Yanchenko, nimmt sie kurz in den Arm.

In einem Twitter-Post kurz zuvor schrieb Merz, er habe eine Nacht im Schlafwagen verbracht und stehe vor einer "interessanten Reise". Es klang ein wenig nach Selbsterfahrungstrip. Doch das war es nicht. Oder zumindest nicht nur.

Die Überraschung

Denn nach der Rückkehr aus Irpin gelingt dem CDU-Chef ein Coup: etwas, das bislang kein deutscher Politiker seit Invasionsbeginn geschafft hat – ein Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Aus dem Umfeld von Merz hieß es zu t-online, das Gespräch am Dienstagnachmittag dauerte "deutlich über eine Stunde" und war "atmosphärisch und inhaltlich außerordentlich gut". Über die Details der Gespräche wolle Merz zeitnah mit dem Bundeskanzler Scholz sprechen.

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Um Merz zu treffen, nahm Selenskyj sogar zurück, was er westlichen Politikern mal als Mahnung mitgegeben hatte: Sie bräuchten ohne konkrete Zusagen gar nicht erst in Kiew aufzuschlagen. Für den deutschen Oppositionsführer machte der ukrainische Präsident offenbar eine Ausnahme.

Neben dem Präsidenten traf Merz zudem Ex-Präsident Petro Poroschenko sowie die beiden Klitschko-Brüder. Aus deutscher Sicht die bekanntesten Köpfe des ukrainischen Widerstands. Merz bekam sie alle zu Gesicht.

Und so schafft der CDU-Chef mit seinem aus Deutschland viel kritisierten Kurzbesuch gleich zwei Dinge: Er sendet eine symbolisch wichtige Botschaft der Solidarität mit der Ukraine. Und er lässt Bundeskanzler Scholz noch ein wenig kleiner wirken, weil der noch immer an der ukrainischen Absage von Bundespräsident Steinmeier zu kauen hat.

Kurz nach der Bekanntgabe der Merz-Reise hatte übrigens Außenministerin Annalena Baerbock verkündet, sie wolle nach Kiew reisen. Auch wenn Merz sicher parteipolitische Motive für eine solche Reise zum jetzigen Zeitpunkte unterstellt werden können, war sie vielleicht gerade nötig, um den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche vor Ort
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