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Aserbaidschans Angriff auf Armenien: "Das ist eine völlig andere Eskalationsstufe"


Aserbaidschans Angriff auf Armenien
"Das ist eine völlig andere Eskalationsstufe"

InterviewVon Lisa Becke

14.09.2022Lesedauer: 5 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Eine Bewohnerin in Vardenis nach aserbaidschanischem Beschuss: "Armenien kann sich auf niemanden verlassen." (Quelle: IMAGO/Alexander Patrin)

Die Situation im Südkaukasus droht zu eskalieren. Das ist auch ein Bankrott für die deutsche Politik, sagt Experte Stefan Meister im Interview.

Zu Beginn der Woche meldet Armenien aserbaidschanische Angriffe auf sein Gebiet. Damit flammt ein alter Konflikt auf.

Nach einem ersten Krieg in den 1990er-Jahren hatten sich die beiden Kaukasusstaaten im Herbst 2020 erneut einen Krieg um die umstrittene Region Bergkarabach geliefert. Die sechswöchigen Gefechte mit mehr als 6.500 Toten wurden durch ein von Russland vermitteltes Waffenstillstandsabkommen beendet. Dabei musste Armenien große Gebiete aufgeben. Anfang August dieses Jahres war die Gewalt erneut aufgeflammt.

Mit dem aktuellen Gewaltausbruch sieht der Südkaukasus-Experte Stefan Meister jedoch eine völlig andere Eskalationsstufe erreicht. Wird die Situation nun außer Kontrolle geraten? Nutzt Aserbaidschan ein durch den Ukraine-Krieg geschwächtes Russland schamlos aus? Und: Ist es in dieser Situation vertretbar, dass die EU Gas aus Aserbaidschan bezieht? Antworten auf die drängendsten Fragen im t-online-Interview.

t-online: Bis kurz vor dem aserbaidschanischen Angriff waren Sie in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Wie wurde die Situation vor Ort eingeschätzt?

Stefan Meister: Alle Experten, mit denen ich in Jerewan gesprochen habe, haben einen aserbaidschanischen Angriff in den kommenden Tagen erwartet. Dass der ein solches Ausmaß annehmen würde, damit hat aber niemand gerechnet.

Auch am Mittwoch werfen sich beide Länder Verstöße gegen eine Waffenruhe vor. Wie beurteilen Sie die Lage jetzt?

Die Lage hat sich nicht beruhigt. Die aserbaidschanischen Kräfte dringen auf armenischem Territorium vor und nehmen Ortschaften ein. Es gibt ein enormes Eskalationspotential.

Was würde das bedeuten, eine "Eskalation" – womit müssen wir rechnen?

Ich würde nicht behaupten, dass Aserbaidschan es auf die armenische Hauptstadt Jerewan abgesehen hat – zumindest noch nicht. Es sieht so aus, dass Aserbaidschan den im Waffenstillstandsabkommen nach dem zweiten Karabach-Krieg 2020 vereinbarten "Korridor" im Süden Armeniens mit Gewalt einnehmen möchte. Die Folgen scheint die aserbaidschanische Führung in Kauf zu nehmen: Viele Menschen aus der Zivilbevölkerung werden sterben.

(Quelle: DGAP)

Stefan Meister

ist Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Zuvor leitete er zwei Jahre lang das Südkaukasus-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tbilisi, Georgien. Meister studierte Politikwissenschaft und Osteuropäische Geschichte und ist Experte für Politik, die politische Ordnung und die Beziehungen der Staaten in Osteuropa, Russland und dem Südkaukasus.

Dieses Mal geht es – zumindest vordergründig nicht um die De-facto-Republik Bergkarabach, in der vor allem Armenier leben, auf die aber beide Länder Anspruch erheben, sondern um Angriffe auf armenisches Gebiet. Was bedeutet das?

Wir sind hier auf einer völlig anderen Eskalationsstufe. Es geht um die Souveränität und die nationalen Grenzen des armenischen Staates. Hier ist noch nicht klar, wie weit Aserbaidschan am Ende zu gehen bereit ist.

Das liegt auch an uns: Weil international nicht dagegengehalten wird, wird Aserbaidschan das Gefühl vermittelt, es könne mit militärischer Gewalt mehr erreichen, ohne dass es dafür auch nur irgendwie sanktioniert wird.

Aserbaidschan hingegen weist die Verantwortung von sich und spricht von armenischen "Sabotagegruppen", auf die man hätte reagieren müssen. Wie glaubwürdig ist das?

Das ist sehr unglaubwürdig. Armenien ist militärisch in einer solch geschwächten Position, dass es alles vermeidet, was Aserbaidschan provozieren könnte.

Aserbaidschan legt sich die Rechtfertigung weiterer großer Angriffe zurecht, spricht davon, dass sich Armenien auf eine "groß angelegte militärische Provokation" vorbereite. Wie ordnen Sie das ein?

Das halte ich für eine aserbaidschanische Desinformation. Armenien ist militärisch überhaupt nicht in der Lage, größere Angriffe auf Aserbaidschan zu fahren. Die sind militärisch und technologisch so unterlegen, dass ein solcher Angriff völlig absurd wäre.

Welches Kalkül verfolgt Aserbaidschan?

Mit dem Angriff des armenischen Territoriums will Aserbaidschan zwei Dinge erreichen: Es will einen Korridor zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan und damit auch zur Türkei herstellen. Und es will am Ende mit Gebietsgewinnen Armenien erpressen, um dann schließlich die vollständige Kontrolle in Bergkarabach zu übernehmen.

Sollte das gelingen – würde sich Aserbaidschan damit zufriedengeben?

Im Moment gehe ich nicht davon aus, dass sie ganz Armenien einnehmen wollen. Das würde Russland nicht zulassen.

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Russland gilt gemeinhin als Schutzmacht Armeniens. Durch den Ukraine-Krieg sind aber viele russische Kräfte gebunden. Was bedeutet das für Armenien?

Man muss es klar sagen: Russland ist geschwächt. Es hat Truppen aus der Region abgezogen, um diese in der Ukraine einzusetzen. Der Ukraine-Krieg spielt Aserbaidschan in die Hände – und es nutzt die Situation aus.

Auf wen kann sich Armenien im Moment überhaupt verlassen?

Auf niemanden. Das ist das Problem: Armenien wird komplett allein gelassen von der demokratischen Welt und auch von Russland. Niemand ist bereit, Friedenstruppen zu schicken oder eine internationale Beobachtermission zu stationieren. Von der EU fühlt sich Armenien verraten – auch wegen des Gas-Deals mit Aserbaidschan. Armenien hat selbst Fehler in der Vergangenheit gemacht, es hätte einen Friedensvertrag aushandeln können, als es noch überlegen war nach dem ersten Krieg Anfang der 1990er-Jahre.

Auf der anderen Seite steht die Türkei, die Aserbaidschan unterstützt. Wie wird sich Präsident Erdoğan in dem Konflikt verhalten?

In der Türkei wird im kommenden Jahr gewählt. Aserbaidschan spielt eine gewisse Rolle in der Innenpolitik, Armenien ist Erdoğan egal. Deshalb wird er beispielsweise aktuell keine Grenzen öffnen für Armenier. Er wird sich rhetorisch und diplomatisch auf die Seite von Aserbaidschan stellen und möglicherweise auch weitere Waffen liefern.

Gleichzeitig wird er sich nicht groß für eine Friedenslösung oder einen Waffenstillstand engagieren.


Quotation Mark

Armenien kann sich auf niemanden verlassen


Stefan Meister


Was kann die EU, was kann Deutschland tun?

Der Westen muss sich engagieren und Verhandlungen in dem Konflikt organisieren. Dazu gehört auch die Bereitschaft, mit Friedenstruppen reinzugehen, um diesen Krieg zu deeskalieren. Diese Bereitschaft fehlt aber.

Warum ist das so?

Wir sind in Deutschland mit anderem beschäftigt. Wir haben eine Energiekrise, sind auf Russland konzentriert, denken nicht strategisch, verstehen überhaupt nicht, was in diesen Regionen passiert – und wie der Südkaukasus mit der Ukraine verbunden ist. Das ist ein Bankrott für die deutsche und europäische Politik – kein Mitgliedsstaat, auch nicht Deutschland, engagiert sich ernsthaft in dieser Schlüsselregion. In Deutschland beobachten wir eine Nabelschau und sehen nicht, wie um uns herum alles in die Luft fliegt, wenn wir uns nicht stärker engagieren.

Was heißt das in der Konsequenz?

Durch das Fehlen einer Form von westlichem Engagement haben wir hier einen Präzedenzfall: Andere Staaten sehen, dass es sich lohnt, über Krieg und militärische Mittel ihre Interessen durchzusetzen und Konflikte dadurch in ihrem Sinne zu lösen.

Erst im Juli hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen Deal mit Aserbaidschan ausgemacht, das Land will bis 2027 doppelt so viel Gas liefern als bisher. Die EU hält Aserbaidschan für einen geeigneteren Partner als Russland. Ist das angesichts der aktuellen Situation zu halten?

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Ist Katar besser? Ist Saudi-Arabien besser? Solche Energieabhängigkeiten zu schaffen, ist immer problematisch. Das größte Problem, das ich sehe, ist aber: Von der Leyen ist in Aserbaidschan, um Gas zu kaufen, und spricht mit keinem Wort Menschenrechtsverletzungen in dem Land an. Ist das eine werteorientierte Außenpolitik?

Das heißt?

Man kann Gas aus Aserbaidschan kaufen. Aber dann muss man die anderen Sachen auch machen – auf Einhaltung bestimmter Standards pochen und den Spielraum, den man hat, nutzen, um die Konflikte ernsthaft zu bearbeiten. Wenn das nicht getan wird, sondern die EU einfach nur Gas kaufen will, macht sie sich unglaubwürdig. Das Einfordern von demokratischen Standards nimmt ihr dann auch niemand mehr ab. Die EU wendet Doppelstandards an.

Also ist es doch nicht vertretbar, das Gas aus Aserbaidschan zu beziehen?

Unter den momentanen Umständen nicht. Man könnte es aber vertretbar machen, wenn man sich anders in der Region engagieren würde und den Einfluss, den man auf Aserbaidschan hat, mit Blick auf wirtschaftliche Verbindungen, nutzen würde. Das wird aber nicht gemacht – das ist das eigentliche Problem.

Herr Meister, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Stefan Meister am 14.09.2022
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