Russischer Oppositioneller Chodorkowski: Sie könnten Putin stürzen
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Einst war Michail Chodorkowski russischer Oligarch mit besten Verbindungen in den Kreml, heute engagiert er sich für die Ukraine und gegen Diktator Putin. Wie blickt er auf seine Heimat?
Michail Chodorkowski, 59, betritt Ende April einen Besprechungsraum im Berliner Zentrum für Liberale Moderne, mitgebracht hat er eine Dolmetscherin, ansonsten kommt er, einer der prominentesten Widersacher Putins, allein.
Chodorkowski kritisiert den Kreml-Diktator offen und deutlich – aus London, wo er heute lebt. Putins Macht bekam er Anfang der 2000er Jahre zu spüren, als Chodorkowski Putin in der Öffentlichkeit für die Korruption im Land angriff. Damals war er einer der einflussreichsten Oligarchen Russlands und Chef des früheren Erdölkonzerns Jukos. Er verschwand für zehn Jahre in russischer Lagerhaft. Auch deswegen verbindet ihn mit Berlin eine lange Geschichte: 2013 reiste der Moskauer in die deutsche Hauptstadt und äußerte sich vor der Presse. Er war soeben überraschend von Putin begnadigt worden.
Im Gespräch mit t-online schildert er seine Sicht auf Putin, spricht über einen möglichen gewaltsamen Umsturz in Russland und erklärt, welche Rolle Wagner-Chef Prigoschin für sein Heimatland spielt.
t-online: Herr Chodorkowski, Sie kennen die Strukturen der russischen Elite wie kaum ein anderer. Wer kann Putin stürzen?
Michail Chodorkowski: Wenn die Ukraine militärisch siegt, können das sehr viele. Militärs in erster Linie. Denn: Ihnen würde man die Schuld an der Niederlage geben und dagegen könnte der nationalpatriotische Teil des Militärs dann entschieden vorgehen. Siegt die Ukraine nicht, drängt sich die Frage erst einmal nicht mehr auf.
Doch der jetzige Machtzirkel um Putin, der bleibt untätig. Warum?
Weil wir in Russland eine personalisierte Macht haben. Diese Macht ist kein Politbüro, sie ist keine Junta. Sie ist eine Person. Und die Leute, die Putin um sich herum behalten hat, haben selbst sehr, sehr schmutzige Hände. Und zum anderen haben sie große Vorteile von diesem Regime und von diesem Krieg. Für sie ist der Sturz Putins gefährlicher, als an seinen Verbrechen mitzuwirken. Das bedeutet aber nicht, dass sie ihn nicht verraten würden, wenn Putin eine militärische Niederlage erleidet.
Michail Chodorkowski
Chodorkowski, 59, stammt aus Moskau, seine Vorfahren aus der Ukraine. Der studierte Chemiker wurde im Russland der 1990er-Jahre als Chef der Erdölfirma Jukos zu einem der einflussreichsten Oligarchen. Später kritisierte er die Korruption im Land unter Putins Regierung und wurde strafrechtlich verfolgt; 2003 wegen Steuerhinterziehung verhaftet. Er verbrachte zehn Jahre in Lagerhaft, wurde aber Ende 2013 rund um die Olympischen Spiele in Sotschi überraschend von Putin begnadigt. Er reiste nach Berlin, dann in die Schweiz; 2015 übersiedelte er mit seiner Familie nach London. Chodorkowski ist Mitgründer des "russischen Antikriegskomitees" und Gründer der politischen Organisation "Offenes Russland". In seinem jüngsten Buch "Wie man einen Drachen tötet. Handbuch für angehende Revolutionäre" beschreibt er seine Vision eines Russlands ohne Putin. Er sagt von sich selbst, dass er sich mindestens zehn Stunden am Tag mit russischen Themen und Problemen auseinandersetzt.
Sie haben eine, nun ja, schwierige Vergangenheit mit Wladimir Putin. Er hat Ihnen nie verziehen, dass Sie als einflussreicher Oligarch in den 2000er-Jahren die grassierende Korruption im Land öffentlich angeprangert haben. Heute opponieren Sie im Ausland offen gegen ihn – obwohl er Gegner vergiften und einsperren lässt. Haben Sie Angst vor Putin?
Das ist eine schwierige Frage. Wenn Sie mit dem Flugzeug fliegen, haben Sie Angst? Sie wissen, dass es ein gewisses Risiko gibt.
Dennoch: Warum hat sich Putin Ihrer noch nicht entledigt?
Nun, Putins Möglichkeiten, Leute massenweise zu liquidieren, sind begrenzt. Und diese Möglichkeiten der Liquidierung nutzt er für diejenigen, die aus dem Inneren seiner Struktur kommen. Denn wovor Putin am meisten Angst hat, ist Verrat aus seinen eigenen Reihen. Außerdem ist mir klar: Wollte er ein Todesurteil über mich aussprechen, dann gäbe es für mich keine Sicherheit. Damit muss ich leben und fertig.
Sie fordern schon heute die Debatte über ein Russland nach Putin. Ein Regimewechsel kann Ihrer Meinung nach aber nur mit Gewalt oder der Androhung von Gewalt vonstattengehen. Sie halten es für naiv, sich diesen Wechsel durch Massendemonstrationen zu erhoffen. Wie stellen Sie sich denn diesen potenziell gewaltvollen Umsturz vor?
Natürlich kann es sein, dass es in Russland zu einer weiteren autoritären Regierung kommt, das ist das eine. Es kann auch zu einem Zerfall Russlands kommen. Letzteres wäre eine Möglichkeit, wenn sie durch den Westen stimuliert würde. Ein gewaltsamer Umsturz könnte dann eintreten, wenn die sogenannten Silowiki …
… Vertraute Putins aus Geheimdienst und Militär...
… wenn sie dem heutigen Regime zu verstehen geben: Entweder geht ihr genau jetzt oder ihr werdet sterben. Dazu wird es aber erst kommen, wenn die Silowiki untereinander in Konflikt geraten, was bisher zumindest nach außen nicht stattfindet. Dazu könnte es kommen. So war es im Jahr 1991 und so war es im Jahr 1993.
Derzeit polarisiert die Figur Jewgeni Prigoschin mit seinen brutalen Wagner-Truppen innerhalb der russischen Gesellschaft. Welche Rolle spielt Prigoschin für den Zerfall des Regimes? Immerhin ficht er es selbst immer wieder an.
Das Prinzip der Gegenspieler innerhalb des Systems ist für Putin übliche Praxis und Prigoschin ist ein solcher Gegenspieler. Im Zweiten Weltkrieg haben auf sowjetischer Seite die sogenannten Strafbataillone gekämpft. Der NKWD, das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, hat diese Bataillone gefüllt. Und heute sind die Prigoschin-Kämpfer diese Bataillone. Und jetzt ist es der Militärgeheimdienst, der sie aufbaut.
Das Absurde daran ist: Nach der russischen Gesetzgebung ist die Tätigkeit dieser Söldner und deren Anwerbung nach wie vor verboten und ein Verbrechen. Putin will diesen Widerspruch aber nicht auflösen, weil Institutionen ihm nichts bedeuten. Er schert sich nicht um Gerichte, die Gesetzgebung oder das Parlament.
Aber was wir bereits jetzt sehen: Prigoschin und die mit ihm konkurrierende Gruppierung von Igor Girkin bilden die nationalpatriotische Opposition – neben der demokratischen Opposition.
Ihre Vision von einem Russland ohne Putin sieht einen starken Föderalismus und Parlamentarismus vor, ein Präsidentenamt hingegen nicht mehr. Warum funktioniert dieses Amt für Russland nicht? Blickt man auf andere Länder, etwa auf Frankreich, zeigt sich: Da funktioniert das System mit einem traditionell starken Präsidenten.
In Frankreich ist das System der Checks and Balances, der Kontrolle der Gewaltenteilung, stark ausgeprägt. Das ist nach einer Reihe von Revolutionen lang gewachsen. Russland hat diese Tradition nicht. In Russland bekommt eine Person, die in dieses Amt kommt, sofort die gesamte Fülle aller Machtinstrumente. Ohne jegliches Gegengewicht. Selbst wenn es gesetzlich festgelegte Gegenwichte gäbe, sie würden rein gar nichts bedeuten. Denn die lösen sich in der russischen Praxis einfach in Luft auf.
Auch die Justiz wird immer mehr zu Putins Machtinstrument. Der demokratische Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa muss für 25 Jahre in russische Lagerhaft. Für wie realistisch halten Sie einen Gefangenenaustausch, beispielsweise mit deutscher Beteiligung?
Ich weiß nicht, inwieweit Deutschland bereit ist, Wadim Krassikow auszuliefern, den Russland haben will. (Krassikow ist ein russischer Geheimdienstmitarbeiter und wurde in Berlin zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er 2019 beim sogenannten Tiergartenmord den georgischen Offizier Selimchan Changoschwili erschossen hatte, Anm. d. Red.). Ich verstehe, dass Deutschland nicht gerade scharf darauf ist, ihn herzugeben. Einen Mörder auszuliefern, würde bedeuten, jeden der Putin-Schergen das Gefühl zu geben, dass sie immer irgendwie aus dem Gefängnis rausgeboxt werden.
Was könnte Deutschland stattdessen tun?
Deutschland könnte bei einem bedeutenden Gefangenenaustausch mit der Ukraine mitverhandeln. Es wäre nicht einfach, mit der Ukraine einig zu werden, denn sie hat viele eigene Kriegsgefangene, die sie ja auch schon teilweise mit Russland austauscht. Aber ich denke, in Verhandlungen zu gehen, wäre gerecht, denn Kara-Mursa ist ja genau deswegen im Gefängnis gelandet: wegen seiner Antikriegshaltung und seiner Unterstützung für die Ukraine.
Herr Chodorkowski, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Michail Chodorkowski am 21. April 2023