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Flucht vor Putin: Deutschland ist anders, als Russen und Ukrainer denken


Kolumne "Russendisko"
In Deutschland wartet erst mal eine Überraschung

MeinungEine Kolumne von Wladimir Kaminer

27.10.2024Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Pro-Ukraine-Demonstration in Berlin: In Deutschland ist vieles nicht so, wie es sich Ukrainer und Russen vorgestellt haben, meint Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Pro-Ukraine-Demonstration in Berlin: In Deutschland ist vieles nicht so, wie es sich Ukrainer und Russen vorgestellt haben, meint Wladimir Kaminer. (Quelle: IPON)

Wladimir Putins Aggression zwingt Ukrainer und Russen zur Flucht, viele kamen nach Deutschland – und müssen ihre Vorstellungen von dem Land gründlich revidieren. Meint Wladimir Kaminer.

Das Feuer des Krieges in der Ukraine hat viele Menschen in die Flucht geschlagen: Die Ukrainer, die aus Angst vor russischen Bomben ihre Städte verließen, und die Russen, die sich von Putins Regime verfolgt und bedroht fühlten, nicht ohne Grund. Täglich erreichen mich Nachrichten aus allen Teilen des größten Landes der Welt, dass der Schriftsteller X oder die Lehrerin Y verhaftet und verhört wurden.

Weshalb? Für das falsche Buch, das sie in der Straßenbahn gelesen haben, für einen emotionalen Kommentar in sozialen Netzwerken, für ein unvorsichtiges Wort bei der Arbeit. Zurzeit ist es in Russland ein Leichtes, im Knast zu landen, die Anzahl der Bürger, die des Heimatverrats angeklagt und eingesperrt wurden, ist dieses Jahr vielfach gestiegen, die Anzahl der des "Terrorismus" und "Extremismus" Angeklagten noch stärker.

(Quelle: Frank May)

Zur Person

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein neuestes Buch "Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen" erschien im August 2024.

Die Sicherheitsbehörden geben sich große Mühe bei der Suche nach "Feinden im Inneren", denn wenn sie keine finden, müssen sie möglicherweise selbst an die Front. Und da wollen sie nicht hin. Deswegen entfaltet sich die repressive Kraft des Regimes mit einer horrenden Geschwindigkeit, und die Menschen flüchten. Einige von Ihnen kommen nach Berlin. An einem neuen Ort gelandet, werden die Neuankömmlinge mit einer Realität konfrontiert, die sie nicht verstehen. Ich als Alteingesessener leiste gelegentlich Aufklärungsarbeit.

Die aus der Ukraine Geflüchteten fragten mich neulich, warum die deutschen Frauen sich so hässlich anziehen. Ob das die Folge der Hexenverbrennung in der Frühen Neuzeit sei, wollten sie von mir wissen. Ich bin beinahe vom Stuhl gefallen, so unerwartet kam das, und fragte nach, wie sie das meinen. Anscheinend ist die Theorie über Hexenverbrennung und ihre Folgen in diesen Kreisen sehr verbreitet. Laut dieser Theorie wurden die schönsten, die frechsten und am auffälligsten gekleideten Frauen damals auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und seitdem hätten die Frauen Angst, zu doll aufzufallen.

Berlin zu schmutzig?

Nein, sagte ich, das stimmt so nicht. Die Frauen hier wollen einfach für ihre inneren Werte gelobt und geliebt werden und nicht für irgendwelche Äußerlichkeiten. Deswegen ziehen sie sich unauffällig an. Und der Begriff "Hexe" gilt im Deutschen als Schimpfwort, auf Neudeutsch heißt Hexe "Auf einem Besen fliegende Person". Die Ukrainer haben mir nicht geglaubt. Die Russen beschweren sich über Berlin, die Stadt sei zu dreckig.

Ständig muss ich mir von den Zugezogenen Beschwerden darüber anhören, Berlin passe nicht in die Vorstellung von der berühmten deutschen Ordnung, zu viel Müll liege hier auf der Straße. Ich versuche, die Menschen höflich aufzuklären. Ja, es liegen viele Sachen in Berlin auf der Straße, das ist eine Folge der Mülltrennung. Die Berliner wissen immer, welcher Müll in welche Straße gehört. Meine Hipster-Nachbarn in Berlins Prenzlauer Berg geben sich große Mühe bei der Mülltrennung, wir haben inzwischen nicht zwei und nicht drei, sondern vier verschiedenfarbige Mülltonnen auf dem Hof.

Meine Nachbarn sind gute Menschen, sie glauben, die Welt retten zu können, selbst dann noch, wenn die Welt sich dagegen wehrt. Kann Mülltrennung die Welt retten? Wahrscheinlich nicht, aber versuchen kann man es ja trotzdem. Neulich habe ich eine Karikatur gesehen: Ein Mann mittleren Alters steht mit seinem sauber in vier Tüten getrennten Müll auf dem Hof und schaut zum Horizont, wo sich gerade ein riesiger Atompilz ausbreitet. "Es war also doch alles umsonst", sagt er. Schwarzer Humor.

Die Berliner lieben ihren Müll, er ist ein wichtiger Bestandteil des großstädtischen Images: Man sollte diese Stadt als Gesamtkunstwerk wahrnehmen, oft wird hier Müll zu Kunst und umgekehrt. Es gibt in Berlin ein gut besuchtes Müll-Museum. Dort werden Kunstwerke aus Kiez-Müll ausgestellt, fantasievolle Objekte: Döner aus Knete, Elektroschrott-Skulpturen und eine mit Plakaten bis zur Unkenntlichkeit zugeklebte Bretterbude.

Vom Tisch gefallen?

Die Besucher kommen aus der Nachbarschaft, aber auch aus Japan, Italien, Südafrika und der Ukraine, berichtete die Museumsleiterin. Die einen wollen den Berliner Müll bestaunen, die anderen den eigenen Müll loswerden.

Die Neuankömmlinge verstehen Berlin nicht, schon immer hat diese Stadt es gut verstanden, sich clever zu vermarkten. Mal waren wir "arm, aber sexy", dann eine "Partystadt", eine "Kiffer-Metropole", ein Club, in dem die Musik rund um die Uhr spielt. Dieser ständige verspielte Imagewechsel führt zur Steigerung der Kreativität in der Bevölkerung. Viele Berliner leuchten sogar vor lauter Kreativität in der Dämmerung, was der Stadt zugutekommt, denn das Geld für die Weihnachtsbeleuchtung fehlt.

Jedes Jahr fehlt das Geld, das die Stadt zum Leuchten bringen soll, dann aber, kurz vor Weihnachten, passiert jedes Mal etwas Überraschendes. Der Bürgermeister findet plötzlich das Geld, das nur vom Tisch heruntergefallen war, oder irgendeine Firma springt als Sponsor ein, oder eine reiche alleinstehende Berliner Witwe stirbt und vermacht ihr ganzes Geld dem Senat für die Weihnachtsbeleuchtung – auf einmal leuchtet Berlin so unverschämt teuer, als wäre es Wien.

Und die Berliner sagen: "Schade. Wir hatten schon gehofft, ein bisschen in der Dunkelheit zu verweilen und niemanden zu sehen." Die Berliner meckern immer. Unzufriedensein ist hier die am häufigsten anzutreffende Form des sozialen Zusammenlebens. Und das werden die Neuankömmlinge schnellstens lernen.

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