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US-Abzug aus Afghanistan: Taliban-Schüsse sind schauerlicher Ansporn


US-Abzug aus Afghanistan
Die Amerikaner haben Schuld auf sich geladen

  • Bastian Brauns
MeinungVon Bastian Brauns

Aktualisiert am 01.09.2021Lesedauer: 5 Min.
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Afghanistan: Das letzte Flugzeug des US-Militärs hat den Flughafen Kabul verlassen – Taliban feiern mit Schüssen. (Quelle: Reuters)

Der endgültige Abzug der USA aus Afghanistan ist nachvollziehbar. Im Namen der Menschlichkeit aber darf das nicht der letzte Schritt gewesen sein.

Gespenstisch wirkt der letzte Schritt eines US-amerikanischen Soldaten auf afghanischem Boden. Aufgenommen mit Hilfe eines Nachtsichtgerätes. Sein Gewehr in der rechten Hand, beleuchtet nur von ein paar Scheinwerfern am Flughafen von Kabul, beschreitet Generalmajor Chris Donahue, Kommandeur der 82. US-Luftlandedivision, das vorerst letzte militärische Kapitel der Vereinigten Staaten am Hindukusch.

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Das Foto hält Historisches fest: Nach 20 Jahren Krieg und Frieden ist dieser letzte Schritt Donahues ein kleiner für einen Menschen und ein noch kleinerer für die Menschlichkeit. Denn zurück bleiben nun jene, die es nicht geschafft haben. Jetzt wird es vermeintlich still in und um Kabul. Die Weltöffentlichkeit wird kaum noch anwesend sein. Schon deshalb, weil nur noch sehr wenige Journalisten aus dem Land werden berichten können.

Dabei waren schon die Bilder der vergangenen zwei Wochen aus Kabul voller Grausamkeit. In vollkommener Hoffnungslosigkeit klammerten sich Menschen an Flugzeuge und stürzten vom Himmel in den sicheren Tod. Verzweifelte Mütter und Väter reichten ihre Babys und Kinder über Stacheldraht am Flughafen in die Obhut von US-Soldaten. Dazu der blutgetränkte und von Leichen übersäte Graben vor dem Gelände nach dem Anschlag. Tränen, Trauer und Schreie. Ein neuerliches Video zeigt, wie Taliban-Kämpfer offenbar einen Menschen erhängen, indem sie ihn über Kabul aufsteigen lassen, aufgeknüpft an einem der erbeuteten Black-Hawk-Helikopter.* Es sind Bilder von Schmach, Sadismus und Schändlichkeit.

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"Ein neues Kapitel amerikanischen Engagements"

"Jetzt ist unsere 20-jährige Militärpräsenz in Afghanistan zu Ende", ließ US-Präsident Joe Biden in einem Statement aus dem Weißen Haus verkünden. Das Ende des längsten Krieges in der US-amerikanischen Geschichte ist besiegelt. Und damit auch das Schicksal von Millionen Afghanen. Seinen Außenminister Antony Blinken ließ Biden schon mal verhaltenen Optimismus verbreiten: "Ein neues Kapitel amerikanischen Engagements in Afghanistan hat begonnen", sagte er am Montagabend vor der Hauptstadtpresse. Das militärische Kapitel sei zwar zu Ende, ein diplomatisches aber beginne zugleich.

Die US-Botschaft in Kabul allerdings bleibt vorerst geschlossen und wurde nach Doha verlegt. Man werde afghanische Verbündete auch weiterhin in ihrem Wunsch nach Verlassen des Landes unterstützen. Wie viele es noch sind, ist unklar. Geschätzt sollen es auch noch mehrere Hundert Amerikaner sein. Wie genau die weitere Evakuierung ablaufen soll, ließ Blinken indes erkennen. Die US-Regierung werde sich nicht direkt engagieren, vielmehr indirekt über unabhängige Institutionen wie den UN und Nichtregierungsorganisationen. "Wir erwarten, dass diese Bemühungen weder von den Taliban noch von irgendjemandem sonst behindert werden", sagte er. Klare Aussagen zu etwaigen Konsequenzen aber ließ er offen. Joe Biden will sich am Dienstag noch einmal öffentlich dazu äußern.

Aus Sicht vieler Amerikaner ist der Abzug aus Afghanistan trotz des Chaos und des schwer zu beschreibenden Leids die richtige Entscheidung. Für sie geht es nicht mehr um die Frage, ob vielleicht noch ein Jahr länger, noch eine Million Dollar mehr, noch eine Regierung weiter dieses weit entfernte Land am Hindukusch befrieden und seiner Bevölkerung mehr Freiheit, Sicherheit und Zuversicht geben kann. Für sie geht es nach 2.461 toten und mehr als 20.000 verletzten Amerikanern darum, ob dafür auch nur noch ein Marine mehr fallen muss.

Es wirkt zynisch. Aber die zuletzt beim Anschlag am Kabuler Flughafen erneut gefallenen 13 US-Soldatinnen und Soldaten sind für die hiesige Bevölkerung mehrheitlich 13 weitere Argumente, um zu gehen. Zu Ehren der Toten wehten in Washington die US-Banner deshalb in den vergangenen Stunden an öffentlichen Gebäuden, an Monumenten und an Denkmälern auf Halbmast.

Die sich im Osten vom Capitol bis im Westen zum Lincoln Memorial erstreckende National Mall ist gesäumt von Kriegsdenkmälern: Eines für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs. Eines für Korea. Eines für Vietnam. Eines für Afghanistan und auch eines für den Irak fehlen noch, auch wenn Veteranenverbände es sich längst wünschten.

Der Wunsch einer Mehrheit der US-Amerikaner nach einem Abzug ist nachvollziehbar. Der gewählte Präsident eines Landes ist dafür zuständig, Schaden vom eigenen Volk abzuwenden. Diesem Auftrag folgt Joe Biden, mit allen bitteren und ethisch anzuprangernden Konsequenzen.

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Doch Schuld haben die Amerikaner trotzdem auf sich geladen. Immerhin haben sie in Afghanistan einst begonnen, Schicksal zu spielen – und zwar lange vor dem Einmarsch der Nato-Truppen nach dem 11. September 2001. Sie hatten zuvor Osama bin Laden und die Mudschahidin gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst in der Operation Cyclone finanziell, logistisch und militärisch unterstützt, um der Sowjetunion am Hindukusch eine schwere Niederlage zuzuführen. Jetzt zu gehen, nachdem die Hoffnung auf eine sichere Zukunft 20 Jahre lang die Voraussetzung vieler Afghanen für eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern war, ist eine Verantwortung, an der die USA und ihre Verbündeten noch viel zu tragen haben werden.

Schüsse als grausamer Ansporn

Ja, die Amerikaner haben, gemeinsam mit ihren Partnern, unter hochgefährlichen Bedingungen nun auch Hunderttausenden Afghanen zur Flucht verholfen. Das war trotz allem eine logistische und historische Meisterleistung. Auf diese Menschen wartet ein zwar schwerer, aber eben doch ein Neustart ohne akute Lebensgefahr. Einfach wird es auch deshalb nicht, weil die politischen Gegner Bidens Ängste vor mutmaßlichen Terrorgefahren durch die Ankömmlinge schüren.

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Rechtsextreme bedrohen hierzulande zudem viele ehrenamtliche Helfer. Zugleich aber bemühen sich viele Hilfsorganisationen und Gouverneure im ganzen Land darum, die Geflüchteten zu unterstützen. Ob es sich um Spielzeug handelt, um Therapien, Sprachprogramme, Hilfe bei der Jobsuche und Behördengängen oder um die Aufnahme in amerikanischen Familien.

Auf den letzten Schritt des US-Soldaten Chris Donahue in Kabul müssen nun viele weitere große zivile Schritte folgen – diplomatisch, politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Nicht nur für die USA, sondern überall auf der Welt. Auch für Deutschland und die anderen Nato-Mitgliedsstaaten – sie alle tragen Verantwortung für ihr Handeln. Immerhin müssen sich Biden und mit ihm der Westen an den Worten messen lassen, dass die Menschenrechte im Zentrum der Außenpolitik stehen sollen. Nur wenn diese vielen Schritte zum Wohle der verbliebenen Afghanen im Land und im Exil gelingen, werden es doch noch große Schritte für die Menschlichkeit und damit für die ganze Menschheit.

Die triumphierenden Schüsse der Taliban-Kämpfer am Kabuler Flughafen gleich nach dem Abflug der letzten US-Militärmaschine sind dazu ein schauerlicher Ansporn.

*Wie Faktenchecker von der BBC hier analysiert haben, soll der Mann, der an einem Helikopter baumelte, am Leben sein. Es soll sich nicht um eine Hinrichtung gehalten haben.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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