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Nahostkrieg: "Die sozialen Medien wirken wie ein Brandbeschleuniger"


Anti-Israelische Stimmung
"Die Solidarität mit Israel ist ein politisches Elitenprojekt"

  • Marianne Max
InterviewVon Marianne Max

Aktualisiert am 26.02.2024Lesedauer: 6 Min.
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Ein Schild, mit der Aufschrift "From the River to the sea", deutet eine antisemitische Parola an (Archivbild): Mendel sieht in der Debatte um den Nahostkonflikt eine Polarisierung in Deutschland.Vergrößern des Bildes
Ein Schild mit der Aufschrift "From the River to the Sea" deutet eine antisemitische Parole an (Archivbild): Historiker Meron Mendel sieht in der Debatte über den Nahostkonflikt eine Polarisierung Deutschlands. (Quelle: IMAGO/imago-images-bilder)

Seit Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas ist die Stimmung in der deutschen Gesellschaft aufgeheizt. Die sozialen Medien verschärften das, kritisiert Historiker Meron Mendel.

Mit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf israelische Zivilisten ist der Konflikt im Nahen Osten wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. "Der Nahostkonflikt spielt eine besonders identitätsstiftende und emotionalisierende Rolle in Deutschland und in Europa", sagt Meron Mendel, Historiker und Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, im Interview mit t-online. Und: "Jeder hat eine klare Meinung."

Der Historiker setzt sich dafür ein, Lehrkräfte und Schüler für Rechtsextremismus und Antisemitismus zu sensibilisieren und Desinformationen auszuräumen. All das aber habe seit dem 7. Oktober rapide zugenommen. "Die sozialen Medien wirken dabei wie ein Brandbeschleuniger", warnt Mendel – und fordert auch politisches Eingreifen.

Herr Mendel, der Antisemitismus in Deutschland ist rasant angestiegen, gleichzeitig gehen viele Menschen gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Wie blicken Sie auf die aktuelle Lage?

Meron Mendel: Mit großer Sorge. Denn das sind Themen, die meine Arbeit, aber auch mich ganz persönlich betreffen. Ich war selbst auf den Demonstrationen gegen die AfD, so wie ich bereits vorher auf anderen Demos war. Der Unterschied aber ist: Nun gehen auch Menschen auf die Straße, die bisher weniger bis gar nicht politisch waren. Sie merken, dass es kurz vor zwölf ist. Das ist eine sehr positive Entwicklung. Die Frage ist nur, ob die Mobilisierung innerhalb der Gesellschaft und der aktuelle Abwärtstrend der AfD in den Umfragen anhalten.

Nach dem Angriff der Hamas auf Israel und antisemitischen Vorfällen in Deutschland hat es zwar auch Demonstrationen gegeben, allerdings waren diese kleiner. Hätten Sie sich da ähnlich große Proteste gewünscht?

Ich glaube, man kann die Proteste zum Hamas-Angriff nicht mit einem innenpolitischen Ereignis vergleichen. Die öffentlichen Reaktionen auf das Massaker vom 7. Oktober und den Krieg in Gaza haben sich im Lauf der Zeit gewandelt. Aktuell stehen die Kriegsführung Israels und die humanitäre Katastrophe in Gaza im Mittelpunkt der Kritik. Kurz nach dem 7. Oktober, noch bevor die israelische Bodenoffensive begonnen hatte, habe ich mir mehr Empathie gewünscht für die Opfer des Massakers. Was ausgeblieben ist, wird deutlich, wenn man die Reaktionen auf die Ereignisse vom 7. Oktober mit jenen auf andere große islamistische Terrorangriffe vergleicht.

Was meinen Sie?

Die Solidarität in der deutschen Gesellschaft mit den Zivilisten in Israel unmittelbar nach dem 7. Oktober war deutlich geringer als mit den Amerikanern im Jahr 2001. Damals sammelten sich beispielsweise rund zweihunderttausend Menschen vor dem Brandenburger Tor, um dem amerikanischen Volk ihre Solidarität zu zeigen. Nach dem 7. Oktober waren es kaum zehntausend Menschen im gleichen Ort.

(Quelle: ©Ali Ghandtschi)

Zur Person

Meron Mendel ist seit 2010 Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Seit 2021 ist Mendel zudem Professor für Transnationale Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und forscht unter anderem zur Gegenwart des Antisemitismus sowie zur Zukunft der Erinnerungskultur.

Warum, denken Sie, fiel die Reaktion in der deutschen Gesellschaft so verhalten aus?

Wenn etwa Amerikaner oder Franzosen angegriffen werden, dann wird das eher als ein Angriff auf 'uns' wahrgenommen. Der Angriff am 7. Oktober, bei dem israelische Zivilisten auf grausame Art und Weise massakriert wurden, wurde so nicht wahrgenommen. Das hat einerseits mit der Wahrnehmung des Nahostkonflikts zu tun, liegt andererseits aber auch an der Wahrnehmung von Juden.

Warum?

Die Deutschen fühlen sich den Juden in Israel nicht besonders nahe. Sie gehören aus Sicht der deutschen Bevölkerung nicht automatisch zum Teil des 'Wir'.

Das steht allerdings im Widerspruch zur deutschen Staatsräson, die Israel die Solidarität Deutschlands verspricht.

Ja. Die Solidarität zu Israel ist ein politisches Elitenprojekt, das die deutsche Bevölkerung nie erreicht hat. Schaut man sich andere Versöhnungsprojekte der westdeutschen Nachkriegszeit an, wie mit Frankreich oder den USA, dann sieht man, dass diese große Teile der Bevölkerung mitgenommen haben. So ist eine echte, authentische Beziehung zwischen den Menschen entstanden. Im Vergleich dazu ist die Verbindung der Deutschen mit Israel eher abstrakt. 93 Prozent der Deutschen waren noch nie dort und haben keine persönlichen Beziehungen dahin.

Dennoch rückt Israel immer wieder in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. In Ihrem Buch "Über Israel reden" kritisieren Sie, dass es in der deutschen Bevölkerung eine Polarisierung gebe, die einem echten Austausch über den Nahostkonflikt im Wege stehe. Hat sich das mit dem 7. Oktober verändert?

Sie hat sich intensiviert. Schon vor dem 7. Oktober war die Wahrnehmung des Konflikts sehr eindimensional: Man ist entweder palästinensisch oder hat eine pro-israelische Haltung. Diese Vorfestlegung für eine Seite hat den Reiz, dass man sich nicht mit der Vieldeutigkeit und Komplexität der Situation auseinandersetzen muss. Menschen tendieren dazu, eher Medieninhalte zu konsumieren, die mit ihrer Wahrnehmung übereinstimmen. Das führt dazu, dass sich einseitige Standpunkte zum Nahostkonflikt im Laufe der Zeit verfestigen.

Das müssen Sie erklären.

Einige Menschen haben auf das Ausmaß des Massakers am 7. Oktober mit großer Bestürzung reagiert und sorgen sich noch immer um die Geiseln, die die Hamas gefangen hält. Sie klammern aber die Situation der Zivilbevölkerung in Gaza überwiegend aus. Andere hingegen, die sich als pro-palästinensisch sehen, haben schon am 7. Oktober den Angriff der Hamas entweder geleugnet oder gleich relativiert. Man hört von dieser Seite etwa, dass keine Zivilisten angegriffen oder keine Frauen vergewaltigt worden seien. Beide Seiten aber haben gemeinsam: Was nicht in die Argumentation passt, wird verdrängt.

Dabei gibt es zu beiden Seiten Informationen, die belegen: Israelische Zivilisten wurden durch die Hamas getötet, misshandelt und verschleppt. Gleichzeitig ist die humanitäre Situation der Zivilbevölkerung in Gaza katastrophal.

Es ist aber heutzutage leicht, solche Informationen auszublenden, die nicht zur eigenen Grundüberzeugung passen. Die sozialen Medien wirken dabei wie ein Brandbeschleuniger. Ihre Algorithmen sorgen dafür, dass wir die Informationen bekommen, mit denen wir am ehesten interagieren. Andere bekommen wir eher nicht gezeigt. Es entstehen zwei Lager, die lieber ihre eigenen Ansichten bestätigen lassen, als sich mit der Komplexität der Situation auseinanderzusetzen. Jeder aber, der sich eingehender mit dem Nahostkonflikt auseinandersetzt, weiß, wie komplex er ist.

Sehen Sie bei anderen Themen eine vergleichbare Lagerbildung in der deutschen Gesellschaft?

Nicht in diesem Ausmaß. Ähnliche Mechanismen waren aber bei dem russischen Angriff auf die Ukraine und in der Debatte um die Corona-Schutzmaßnahmen zu beobachten. Wir geraten immer mehr in ein postfaktisches Zeitalter. Das heißt: Es wird nicht nur unterschiedlich ausgelegt, wie Politik und Gesellschaft auf bestimmte Realitäten reagieren sollten. Vielmehr wird darüber gestritten, was die Realität ist. Wir beobachten, dass die Realitätswahrnehmungen von Menschen immer mehr auseinanderklaffen.

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Nimmt der Nahostkonflikt dabei eine besondere Stellung ein?

Er spielt eine besonders identitätsstiftende und emotionalisierende Rolle in Deutschland und in Europa. Ein Beispiel: Ich gebe als Professor seit zehn Jahren Seminare, in denen ich meine Studierenden auch in Kleingruppen zusammenarbeiten lasse. Die Aufgaben sind fachspezifisch und haben mit aktuellen politischen Ereignissen nichts zu tun. Ausgerechnet in diesem Semester hat sich eine Gruppe Studierender miteinander zerstritten, sodass das Projekt abgebrochen werden musste. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass der Streit gar nichts mit den eigentlichen Aufgaben zu tun hatte, sondern mit ihren Positionen zum Nahostkonflikt. Andere Weltkonflikte haben bisher nicht dazu geführt, dass meine Studenten so emotional miteinander gestritten haben.

Was genau ist passiert?

Sowohl die pro-israelische Fraktion als auch die pro-palästinensische Fraktion hatte keinerlei persönlichen Bezug zu Israel oder Palästina, aber sie waren derart polarisiert und emotional – das habe ich noch bei keinem anderen Konflikt erlebt. Ob in der Umkleidekabine des Sportvereins oder in der Pause zwischen den Uni-Seminaren: Jeder hat eine klare Meinung. Das Problem ist nur, dass sie in vielen Fällen auf einer sehr dünnen Wissensbasis beruht.

Was bräuchte es, um diesem Unwissen zu begegnen?

Der Nahostkonflikt soll in die Lehrpläne der Bundesländer aufgenommen werden. Wenigstens ein Grundwissen muss in den Schulen vermittelt werden. Influencer verbreiten auf TikTok oder Instagram einseitige, verkürzte oder falsche Informationen, in denen sie vermeintlich den Nahostkonflikt erklären. Und Millionen junger Menschen schauen sich das an. Wenn Lehrkräfte in der Schule dann tiefergreifendes Wissen vermitteln wollen, glauben die Schülerinnen und Schüler ihnen das oft nicht. Das berichten mir Lehrkräfte immer wieder. Sie können dem allein nicht viel entgegensetzen.

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Es braucht also eine politische Strategie?

Ja. Denn wir können die sozialen Medien nicht ignorieren, sie sind Teil der Realität dieser Generationen. Es lohnt sich, auf Influencer zuzugehen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Das kann ein Ansatz sein. Außerdem halte ich es für eine gute Idee, dass die Anbieter sozialer Medien ihre Algorithmen offenlegen müssen. Diesen Weg müsste der Gesetzgeber bereiten. Behörden können dann kontrollieren, dass nicht bewusst extremistischen Positionen Vorschub geleistet wird. Der Geheimdienst müsste zudem Russland und China daran hindern, Desinformationskampagnen in Europa durchzuführen.

Die Bundesregierung setzt darauf, dass sich Ausländer, die die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten möchten, künftig zum Staat Israel bekennen sollen. Wie stehen Sie zu dem Vorstoß?

Das ist reine Symbolpolitik. Zu denken, dass eine solche Klausel etwas ändert, ist völlig illusorisch. Menschen, die die Einbürgerung wollen, würden alles unterschreiben. Außerdem ersetzt eine Unterschrift nicht die politische Bildung. Man muss die Köpfe und Herzen der Menschen erreichen.

Sehr geehrter Herr Mendel, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Meron Mendel
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