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Bundestagswahl 2021 | Pflegerin kritisiert Unionsvorschlag: "Eine Ohrfeige"


Pflegekräfte bewerten Wahlprogramme
Unionsvorschlag ist "eine Ohrfeige schlechthin"


21.09.2021Lesedauer: 6 Min.
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Vanessa Schulte bei der Arbeit: "Digitalisierung klingt ja erstmal fortschrittlich", sagt die Pflegefachkraft in Ausbildung. Vanessa Schulte bei der Arbeit: "Digitalisierung klingt ja erstmal fortschrittlich", sagt die Pflegefachkraft in Ausbildung.Vergrößern des Bildes
Vanessa Schulte bei der Arbeit: "Digitalisierung klingt ja erstmal fortschrittlich", sagt die Pflegefachkraft in Ausbildung. (Quelle: Vanessa Schulte/privat)

Alle Parteien wollen die Situation in der Pflege verbessern, beteuern sie. Viele Vorschläge in den Wahlprogrammen überzeugen die Pflegekräfte aber nicht. Sie haben eigene Ideen.

Er wolle Pflege zu dem großen gesellschaftspolitischen Thema machen, verkündete der Kanzlerkandidat der Unionsparteien, Armin Laschet, im letzten TV-Triell vor der Bundestagswahl. Das sei nötig, schließlich habe Deutschland eine alternde Gesellschaft. Und während der Corona-Pandemie sehe man, wie wichtig die Beschäftigten in den Krankenhäusern und Altenheimen seien: "Es reicht nicht, zu klatschen", sagte Laschet.

Auch der Kandidat der SPD, Olaf Scholz, und Annalena Baerbock von den Grünen finden, dass sich die Bedingungen in der Pflege bessern müssten – es brauche höhere Löhne, attraktive Arbeitsbedingungen, mehr Wertschätzung. Auch die kleineren Parteien FDP, Linke und AfD haben dazu Ideen in ihre Wahlprogramme geschrieben.

Doch wie ernst meinen sie das? Sind es leere Versprechen oder tatsächlich hilfreiche Vorschläge?

t-online hat diejenigen gefragt, die in dem Beruf arbeiten. An vielem in den Wahlprogrammen haben die Pflegekräfte etwas auszusetzen, aber von ein paar Vorschlägen sind sie doch positiv überrascht.

Mehr Stellen: "Aber woher soll das Personal kommen?"

Alle sechs Parteien wollen sich für mehr Pflegepersonal einsetzen. Die Linkspartei nennt sogar konkrete Zahlen: Sie will 100.000 zusätzliche Pflegekräfte, jeweils in den Krankenhäusern und in den Pflegeeinrichtungen – "Personalbemessung" beziehungsweise "Personaluntergrenze" ist hier das Zauberwort, auch in den Programmen der anderen Parteien.

"Sie sollen mir sagen, wo die Leute herkommen sollen", sagt die examinierte Altenpflegefachkraft Eva Ohlerth dazu. Das Problem sei, dass man nicht genügend Menschen dazu motivieren könne, einen Pflegeberuf zu ergreifen oder dann im Beruf zu bleiben. Auch Vanessa Schulte, Auszubildende der Gesundheits- und Krankenpflege, sieht hier ein grundlegendes Manko: "Klar heißt es dann: Da soll oder muss mehr Personal arbeiten – was der richtige Grundgedanke ist. Aber woher soll das Personal kommen?" Diese Antworten lieferten die Parteien nicht überzeugend, finden die beiden Pflegerinnen.

Ein Weg für mehr Personal aus Sicht von CDU/CSU ist, die "Willkommenskultur für ausländische Pflegefachkräfte" zu stärken. Diesen Vorschlag im Wahlprogramm hält Ohlerth für eine Nullnummer: "Ohne Pflegerinnen und Pfleger aus dem Ausland kommen wir doch schon längst nicht mehr aus", sagt sie.

Die AfD hingegen schlägt vor, für mehr Pfleger nicht nur die Ausbildung zur Fach-, sondern auch zur Hilfskraft über das Jobcenter finanzieren zu lassen. Das hält Ohlerth, die auch schon selbst in der Altenpflege ausgebildet hat, für den falschen Weg: "Es sagt doch auch niemand: Wir brauchen Ärzte, die holen wir vom Jobcenter. Da lachen alle. Der Gedanke hier ist: Pflege kann jeder – aber das ist falsch." So könne der Beruf nicht attraktiv werden.

Mehr Qualität: "Eine Ohrfeige schlechthin"

Mehr Personal führe deshalb auch nicht automatisch zu einer besseren Pflege für die Patienten, sagt Schulte, die im Moment in einem Krankenhaus arbeitet. Das werde von den Parteien übersehen – es komme schließlich darauf an, wer genau da eingestellt werde: Wie viele Hilfs- und wie viele Fachkräfte beispielsweise auf einer Station oder in einem Betrieb arbeiteten.

CDU und CSU wollen für eine bessere Qualität in der Pflege die "Aus- und Weiterbildung stärken". Das hält Altenpflegerin Ohlerth für unnötig: Die Ausbildung an sich sei sehr gut, und es gebe jede Menge Möglichkeiten für Weiterbildungen. "Wenn wir nur Hilfspersonal, keine voll Ausgebildeten haben, und dann die Politik durch solche Aussagen an unserer Kompetenz kratzen will, dann ist das eine Ohrfeige schlechthin", ist das Resümee der 62-Jährigen.

Hier liegt für sie der Knackpunkt: Den ausgebildeten Pflegefachkräften müsse höhere Kompetenz zugesprochen werden. "Wenn wir unsere Arbeit entsprechend unserer Ausbildung ausüben könnten, wäre der Beruf attraktiver", sagt Ohlerth. "Man muss die Leute so arbeiten lassen, wie sie es gelernt haben." Doch das sei in diesen Rahmenbedingungen, etwa durch den hohen Zeitdruck, oft nicht möglich. Unter solchen Umständen könne pflegerisches Wissen gar nicht richtig angewendet werden.

Deshalb liefen viele der Vorschläge der Parteien für mehr Attraktivität der Pflegeberufe ins Leere. Die Union etwa spricht von einer "verlässlichen Gestaltung der Dienstpläne". Ohlerth sagt: "Die Dienstpläne können nicht verlässlich sein, wenn Personal fehlt." Sie schlägt vor, dass der Personalschlüssel nur diejenigen erfasse, die tatsächlich aktiv sind und arbeiten können. Durch die hohen Belastungen seien viele Beschäftigte oft über lange Zeit krank, aber das sei in der Planung nicht entsprechend berücksichtigt.

Belastung reduzieren durch weniger Arbeitszeit?

Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, hat eine Idee, wie sie Pflegende entlasten will: Sie schlägt eine 35-Stunden-Woche in der Pflege vor. Da der Beruf mental und körperlich sehr anstrengend sei, könnte dieser Vorschlag dazu führen, dass Pflegepersonal weniger krankheitsbedingt ausfalle, denkt Altenpflegerin Ohlerth. "Gleichzeitig führt es aber nicht daran vorbei, dass wir – wenn wir die Arbeitszeit reduzieren – sogar noch mehr Personal brauchen", so die Altenpflegerin.

Mehr Mitsprache und Kompetenzen: "Positiv überrascht"

Die Grünen wollen sich laut ihrem Wahlprogramm auch dafür einsetzen, dass pflegerische Berufe "mehr Tätigkeiten sowie die Verordnung von Hilfsmitteln und pflegenahen Produkten eigenverantwortlich übernehmen können". In dem Zusammenhang schlagen sie auch sogenannte "Community Health Nurses" vor – ein Konzept, das von Pflegeverbänden befürwortet wird und in Ländern wie Kanada oder Finnland schon lange etabliert ist. Hier übernehmen Pflegefachpersonen Aufgaben der primären Gesundheitsversorgung, sind also ähnlich wie Hausärzte erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten.

"Eine gute Idee", sagt Schulte. Ohlerth meint, von einem solchem Vorschlag in einem Wahlprogramm sei sie positiv überrascht. "Wir sind so ausgebildet, dass wir genau solche Tätigkeiten übernehmen könnten", sagt die examinierte Altenpflegerin. Und dies könnte dazu führen, dass mehr Menschen den Beruf lernen wollen: "Das macht die Pflege auch nach draußen kompetenter."

Höherer Lohn: "Sie müssten mal konkret werden"

SPD, Grüne und Linke wollen sich laut ihren Wahlprogrammen dafür einsetzen, dass die Löhne in der Pflege steigen – die SPD spricht etwa davon, dass es "vernünftige" Löhne geben müsse. "Was sind denn vernünftige Löhne, frage ich die SPD da. Sie müssten mal konkret werden", sagt Ohlerth. Sie fordert ein Einstiegsgehalt von 4.000 Euro brutto für alle Pflegekräfte – die von der Linkspartei vorgeschlagene Erhöhung der Löhne um 500 Euro reiche deshalb nicht aus. "Wir wollen auch in der Stadt leben, wir wollen auch Kinder – es kann doch nicht sein: Wir machen einen solchen Knochenjob, und dann reicht das Geld nicht", sagt die Münchnerin.

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Bundesgesundheitsminister Jens Spahn von der CDU hat in der vergangenen Legislaturperiode das Schulgeld in der Pflege abgeschafft – zuvor mussten Auszubildende teilweise Geld für ihre Ausbildung bezahlen. Spahn hat eine Ausbildungsvergütung eingeführt – die soll jetzt laut Unions-Wahlprogramm auch für die Assistenzjobs kommen. "Eine Selbstverständlichkeit und längst überfällig", so Ohlerth, "aber deshalb machen nicht mehr Leute eine Ausbildung."

Woran es wirklich liege, dass Pflegeauszubildende abbrechen: "Sie sollten nicht in die Situation gebracht werden, dass sie direkt normale Schichten und extrem viel Verantwortung auf den Stationen übernehmen müssen. Sie sollten auch wirklich Schüler sein können", sagt Ohlerth. Die FDP fordert unter anderem, dass Auszubildende nicht mehr zur Berechnung des Pflegeschlüssels herangezogen werden – dies könne ein Schritt in die richtige Richtung sein.

Bürokratie reduzieren: "So sichern wir uns ab"

Union und FDP wollen die Bürokratie in der Pflege reduzieren, und somit dem Pflegepersonal mehr Zeit mit den Patienten ermöglichen. "Absolut wichtiges Thema, begrüße ich sehr", sagt Schulte, die gleichzeitig auch dual Pflegewissenschaften studiert. "Nur wie?", fügt die 30-Jährige hinzu.

Auch Ohlerth begrüßt das grundsätzlich, aber sagt: "Wir müssen unsere Tätigkeit ausführlich dokumentieren und protokollieren. So sichern wir uns ab." Und nur so wisse die nächste Pflegende, was bei dem Patienten zu beachten ist. "Ich sehe in vielen Fällen keine Möglichkeit für Reduzierung, keine, wo das pflegerisch Sinn macht." Es gehe deshalb vor allem darum, dass für Pflegende genügend Zeit eingeplant werden müsse, um diese Protokolle kompetent auszufüllen.

Digitalisierung und Robotik: "Klingt ja erstmal fortschrittlich"

Auch die Themen Digitalisierung und Robotik in der Pflege sind angesagt bei den Parteien, CDU/CSU, Grüne und FDP haben sie im Programm. "Digitalisierung klingt ja erstmal fortschrittlich", sagt Schulte. Nur leider werde nichts Konkretes genannt, "wie das Potenzial der Digitalisierung in der Pflege genutzt werden soll".

Und sie warnt: "Man darf nicht glauben, dass Robotik der Ausweg aus dem Personalmangel ist." Die Hauptaufgaben am Patienten könne sie auf absehbare Zeit nicht erfüllen.

Am Verhandlungstisch: "Widerspricht dem eigenen Programm"

Wichtig für die FDP ist laut ihrem Wahlprogramm vor allem eines: "Die beruflich Pflegenden an zentraler Stelle in die Erarbeitung der nötigen Reformen einzubinden." Das finden Schulte und Ohlerth richtig. "Über unseren Kopf hinweg wurde lange genug entschieden", sagt die Krankenpflegerin in Ausbildung. "Wir müssen mit an den Verhandlungstisch", sagt die Altenpflegerin.

Deshalb finden sie beide die Forderung nach einer Einrichtung einer Bundespflegekammer richtig – wie sie Union und Grüne vorschlagen. Die Linke, die eine solche Kammer ablehnt, sehen sie hier auf dem Holzpfad. "Pflegekammern definieren unsere pflegerischen Aufgaben und sichern das Qualitätsniveau", erklärt Schulte. Wenn die Linkspartei dies ablehne, widerspreche sie den Ansprüchen ihres eigenen Wahlprogramms.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Anfragen an Eva Ohlerth und Vanessa Schulte
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