Lindners Meisterstück Dieser Mann will zum Mars
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erst hat er die Liberalen zurück in den Bundestag geführt, nun an die Regierung. Doch Christian Lindner tüftelt bereits an seinem Meisterstück: Er will die FDP zur Volkspartei machen – auf Augenhöhe mit der Union.
An Christian Lindner lässt sich in diesen Wochen so etwas wie ein exponentieller Fantasie-Zuwachs beobachten. Am 31. August hatte Lindner erklärt: "Mir fehlt die Fantasie für ein Ampel-Bündnis." Zwei Tage später wiederholte er den Satz bei "Maybrit Illner". Dieses Mal baute er aber ein zusätzliches Wörtchen ein: "Mir fehlt noch die Fantasie."
Dieses "noch" war offenbar der Anfang eines Wandels in seinem Kopf. Dann muss alles sehr schnell gegangen sein. Denn jetzt, anderthalb Monate später, hat Lindner nicht nur reichlich Fantasie für ein Ampel-Bündnis entwickelt. Er klingt dabei geradezu euphorisch: Selten habe es eine größere Chance gegeben, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zu modernisieren, ließ er wissen, nachdem er mit SPD und Grünen das Sondierungspapier vorgestellt hatte.
Neues Credo: Alles ist möglich
Und Lindner setzt das Bündnis bereits konsequent um: Als letzte Partei hat auch die FDP der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen inzwischen zugestimmt. Wofür Christian Lindners Fantasie so reicht, das hängt eben stark davon ab, was ihm und den Liberalen nutzt.
Und es gibt etliche Hinweise darauf, dass seine Fantasie noch zusätzlich Fahrt aufnimmt: Wenn man ihn in diesen Tagen beobachtet, wird klar, dass er die Liberalen dauerhaft als ebenbürtige Kraft neben den Grünen etablieren will. Die Zeit von einstelligen Ergebnissen bei Bundestagswahlen soll endgültig vorbei sein.
Und es ist auch klar, woher die Stimmen dafür kommen sollen: Von ehemaligen Wählern der Union. Die Partei, die aktuell weder inhaltlich noch personell eine klare Richtung hat, ist in manchen Umfragen bereits unter die 20-Prozent-Marke gefallen. Deshalb gilt bei den Liberalen das Credo: Alles ist möglich. Und vielleicht kann man ja noch drei bis vier Prozentpunkte zulegen und im Lager der Konservativ-Liberalen etwas fremd fischen. Dann stünden in Deutschland Union, Grüne und die FDP an der Schwelle zu 20 Prozent.
Warum nicht mal ein Flug zum Mars?
Die FDP als eine Art kleine Volkspartei etablieren? Manche Parteifreunde finden, das wirke, als wolle Christian Lindner zum Mars fliegen. Schließlich sei die Partei erst 2017 wieder in den Bundestag gekommen. Andere sehen es umgekehrt: Sie trauen ihrem Parteichef alles zu –Lindner habe die Liberalen schließlich aus der Bedeutungslosigkeit geführt. Warum jetzt nicht mal ein Flug zum Mars?
Der erste wichtige Schritt für das Gelingen dieses Unterfangens ist die Position der FDP in der neuen Ampelkoalition. Bei den Liberalen hatten viele Angst, gegenüber den Grünen und der SPD kaum Inhalte durchsetzen zu können. Auch deshalb war es von Lindner taktisch klug, sich zunächst nur mit den Grünen zu treffen: So konnten gleich die berühmten "roten Linien" abgesteckt werden, und man einigte sich offenbar auf viele weitere Inhalte. Wie groß der Erfolg der FDP war, das wurde dann im vorgelegten Positionspapier für die Ampelkoalition letzte Woche deutlich.
Dieses hat, wie aus FDP-Kreisen zu hören ist, selbst die kühnsten Erwartungen einiger Liberaler übertroffen: Die Schuldenbremse soll eingehalten werden, es gibt keine Steuererhöhungen und kein Tempolimit. Zwar wird ein deutlich höherer Mindestlohn kommen. Doch selbst der wird, wie von den Liberalen gewünscht, nach dem Plus wieder von der Mindestlohn-Kommission gesteuert.
Man kann es so offen sagen: Mit einem Linksrutsch (vor dem die Union im Falle eines Ampelbündnisses gewarnt hatte) haben diese Festlegungen so viel zu tun wie Olaf Scholz mit Harald Glööckler.
Die unverhohlene Botschaft: Mit denen wird es nix
Parallel zu den inhaltlichen Erfolgen bei den Ampel-Verhandlungen beginnt Lindner in diesen Tagen einen Charme-Feldzug ins konservative Lager. Er nutzt dafür die "FAZ", ein Lieblingsblatt der Konservativen. Die Zeitung hat bereits manchen politisch wegweisenden Gastbeitrag in der Geschichte der CDU publiziert.
Lindner schwärmte also in seinem Kommentar von der eigenen Partei: "In einer künftigen Koalition würde der FDP eine besondere Verantwortung zuwachsen. Im Sondierungspapier ist festgehalten, dass eine neue Regierung auch für diejenigen da sein soll, die ihr nicht die Stimme gegeben haben."
Und zudem griff er noch die Christdemokraten an, immerhin der ehemalige Wunschpartner seiner Partei: "Mittlerweile werden im Hinblick auf die Union auch Regierungswille, innere Geschlossenheit und Bereitschaft zu vertrauensvoller Kooperation öffentlich diskutiert. Beides wäre jedoch die Voraussetzung, um eine stabile Regierung für Deutschland bilden zu können." Die Botschaft war einigermaßen unverhohlen: Mit denen wird es nix.
Am Montag, zwei Tage später, wurde Lindner noch deutlicher: Bei einer Pressekonferenz sagte er, die FDP wolle in der Regierung "die Anliegen der Wählerinnen und Wähler der Unions-Parteien" im Blick behalten.
Apotheker, Hoteliers, Zahnärzte – und sonst so?
Die Liberalen sehen sich künftig also als Vertreter des konservativ-liberalen Lagers in der Regierung. Wer sich bei der Wahl für die CDU entschieden hat, soll in den nächsten vier Jahren Lindner und die FDP als seine Anwälte in der Regierung ansehen – und dann beim nächsten Mal bitte schön direkt die Liberalen wählen. So der Plan.
Der vielleicht entscheidende Schritt zu zusätzlichen Wählern ist die Verbreiterung der inhaltlichen Basis der eigenen Partei. Denn die FDP galt lange als Klientel-Apparat. Die politische Frotzelei, dass die Liberalen primär von Apothekern, Hoteliers und Zahnärzten gewählt würden, hatte durchaus einen wahren Kern. Die Liberalen standen stets für einen Staat, der sich zurücknimmt. "Freiheit und Eigenverantwortung" ist praktisch der Titel der Erkennungsmelodie der Partei. Wenn man mitregierte, achtete man darauf, dass der Staat bloß nicht zu mächtig wird. Weder durch höhere Steuern noch durch allzu weitreichende Eingriffe in das tägliche Leben der Bürger. Das war den Apothekern, Hoteliers und Zahnärzten sehr recht. Viele andere konnten darin allerdings nicht ihre politische Heimat entdecken.
Damit sich dies nun grundlegend ändert, ist für Christian Lindner ein Amt wichtig: das des Finanzministers. Bereits im Wahlkampf, als noch gar nicht klar war, welche Koalition eigentlich regieren wird, hatte Lindner diesen Anspruch immer wieder betont. Die Botschaft: Wie auch immer es läuft, ich will der König der Kassen werden. Das ist für ihn dermaßen entscheidend, dass er seinen Parlamentarischen Geschäftsführer Marco Buschmann dies erneut im "Spiegel" fordern ließ, obwohl die Koalitionäre betont hatten, man wolle jetzt noch nicht über Posten reden.
Als Finanzminister wäre Lindner der mächtigste Ressortchef im Kabinett. Jeder Minister, der Geld will (und das wollen alle zur Umsetzung ihrer politischen Vorhaben) müsste bei ihm als Bittsteller antreten. Und Lindner könnte jederzeit erklären, dass es mit der Politik für Apotheker, Hoteliers und Zahnärzte schon lange vorbei sei. Dann wäre tatsächlich ein Weg zu einer kleinen Volkspartei, als neuer Vertreter der konservativen Kräfte, möglich.
In der "FAZ" hatte Lindner bereits geschrieben: "Das Parteiensystem hat sich verändert. Über Jahrzehnte eingeübte Formen der Mehrheitsbildung sind obsolet geworden." Das ist wohl so etwas wie die Basis für seine Marsmission: Die alten Regeln gelten nicht mehr. Und die neuen schreiben wir jetzt mit.
- Eigene Recherche