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Zum 100. Geburtstag: Helmut Schmidt – Ungewollter Gründungsvater der Grünen


100 Jahre "Schmidt Schnauze"
Ohne Helmut Schmidt hätte es die Grünen nie gegeben

  • Peter Schink
Von Peter Schink

Aktualisiert am 23.12.2018Lesedauer: 8 Min.
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Bundeskanzler Helmut Schmidt: Der SPD-Politiker wäre am 23. Dezember 100 Jahre alt geworden.Vergrößern des Bildes
Bundeskanzler Helmut Schmidt: Der SPD-Politiker wäre am 23. Dezember 100 Jahre alt geworden. er Helmut Schmidt im Jahr 1979. (Quelle: Deutsches Nationalarchiv/dpa-bilder)

Helmut Schmidt wäre heute 100 Jahre alt geworden. Die Republik ist bis heute von seinem Politikstil geprägt. Für die Grünen wurde er ungewollt zum Gründungsvater.

"Adenauer wählen, heißt Atombomben für die Bundeswehr wählen", sagt Helmut Schmidt im Bundestagswahlkampf 1953. Die Bundesrepublik währt noch keine zehn Jahre. Schmidt selbst ist 34 und steht am Anfang seiner politischen Laufbahn.

"Schmidt Schnauze" nennt man ihn auch, wegen solcher Zitate. Das Thema Atomkrieg allerdings wird Schmidt später das Kanzleramt kosten – und die Grünen 1983 erstmals in den Bundestag bringen.

Geboren wird Helmut Schmidt am 23. Dezember 1918 in Hamburg-Barmbek. Seine Eltern sind Lehrer, Helmut ist der Erstgeborene. Er geht in Hamburg zur Schule, macht 1937 das Abitur.

Nur zwei Jahre später beginnt der Zweite Weltkrieg. Der wird Schmidt nach eigenen Aussagen für sein Leben prägen. Gleich zu Beginn muss Schmidt, gerade mal 20 Jahre alt, in den Einsatz. Er wird als Unteroffizier der Reserve bei der Luftverteidigung eingesetzt. Später kämpft er als Offizier an der Ostfront. Viele "seiner Männer" verliert er dort, sieht persönlich unfassbares Leid.

Später wird Schmidt sagen, die Erlebnisse gehörten zu den schlimmsten seines Lebens. Eine "Verrohung" habe der Krieg mit sich gebracht. Er hadert damit, dass viele Nazis auch im Nachkriegsdeutschland führende Positionen innehaben. Zugleich fremdelt er mit der 68er-Generation und ihrer Generalkritik an der Kriegsgeneration. Beschimpfen wird er die Studenten, die doch nach dem Krieg geboren sind und aus seiner Sicht keine Ahnung haben, wovon sie reden.

Als der Krieg zu Ende ist, tritt er als Student dem "Sozialistischen Deutschen Studentenbund" (SDS) bei, dessen Bundesvorsitzender er 1947 wird. Ein Freund habe ihn dorthin gebracht, sagt er später fast entschuldigend.

In die Politik habe er eigentlich nicht gehen wollen. Die Kandidatur für den Bundestag 1953 sei von mehreren Seiten an ihn herangetragen worden. So wird er erstmals Abgeordneter in Bonn. Er wird scharfer Kritiker des CSU-Politikers Franz Josef Strauß. Schmidt beschimpft ihn mit der ihm eigenen Eloquenz: "Es gibt Irrtümer, es gibt Fälschungen, und es gibt: Strauß-Reden!"

Dogmatismus ist Schmidt fremd

Schmidt ist ein Mensch mit Überzeugungen. Denen will er treu bleiben. Sein Leben lang versucht er, sein Handeln aus einer politischen Ethik abzuleiten. Politiker müssten immer die Folgen ihrer Entscheidungen im Blick haben, sagt er. Deshalb denkt er Politik vom Ergebnis her. Diese Erkenntnis beruht auch auf einer langjährigen Freundschaft mit dem Philosophen Karl Popper. Der ist Begründer des kritischen Rationalismus, der Probleme undogmatisch und vernünftig angehen will. Eine aus der Theorie abgeleitete praktische Handlung ist demnach zum Scheitern verurteilt.

Schmidt selbst sagt, "ich bin der Meinung, dass die Probleme der Welt und der Menschheit ohne Idealismus nicht zu lösen sind. Gleichwohl glaube ich, dass man zugleich realistisch und pragmatisch sein sollte." Er reagiert zutiefst angewidert, wenn ihm linke Studenten allzu theoretisch kommen. In der Wochenzeitung "Die Zeit" schreibt er im Jahr 2007: "Die Angst, der Faschismus stehe wieder bevor und die Große Koalition sei eine Art Wegbereiter, die war großer Quatsch." Er selbst will nicht theorielos sein, aber immer nach der besten pragmatischen Lösung suchen. So kommt es zu dem berühmten Satz in einem Interview mit dem "Spiegel" im Jahr 1980: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Es ist die Antwort auf die Frage, was denn seine große Vision sei. Jahre später relativiert er, das sei "eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage" gewesen. Exakt dieser Pragmatismus wird Schmidt in seiner Laufbahn auf die Füße fallen.

Der pragmatische Schmidt polarisiert

Als am 16. Februar 1962 Hamburg in einer Sturmflut versinkt, ist Schmidt Polizei-Senator (sein Amt im Bundestag legt er in diesem Jahr nieder). Die Behörden sind in dieser Nacht zunächst völlig überfordert. Schmidt übernimmt am nächsten Morgen persönlich die Einsatzleitung und organisiert durch persönliche Verbindungen auch Kräfte von Bundeswehr und Nato. Weil er dem Verteidigungsausschuss des Bundestages angehört hatte, kennt er deren Befehlshaber persönlich. Sofort ruft er Nato-Stabschef General Lauris Norstad in Brüssel an: "Hier sind die Deiche gebrochen, wir brauchen dringend Hubschrauber." Wenig später ist die Hilfe da. Er wird für sein Engagement gefeiert.

Schmidt sagt, er habe in diesen Stunden der Not "das Grundgesetz nicht angeguckt". Mehrheitlich kommt das Anfang der 60er gut an. Bei Studenten und Friedensbewegten macht er sich mit solchen Sätzen später keine Freunde. Dabei will Schmidt mit dem Satz keinesfalls seine Geringschätzung für das Grundgesetz ausdrücken. Sondern lediglich seine pragmatische Maxime verdeutlichen. Bei "Schmidt Schnauze" gehört allerdings dazu, dass er mit solchen zugespitzten Aussagen provoziert. Wer ihm nicht folgen kann, redet eben "Quatsch". Er tut sich schwer auf seine Gegner einzugehen. Die empfinden sein Auftreten deshalb als arrogant und borniert. Ihn stört das nicht.

Schmidt meistert Ölkrise und Arbeitslosigkeit

Nach drei Jahren Pause zieht Schmidt mit der Bundestagswahl 1965 wieder ins bundesdeutsche Parlament ein. Ein Jahr später wird er 1966 SPD-Fraktionsvorsitzender, in dieser Rolle organisiert er gemeinsam mit seinem Unionskollegen Rainer Barzel maßgeblich die Geschäfte der großen Koalition. Drei Jahre später wird er, in der ersten sozial-liberalen Koalition, zum Verteidigungsminister unter Bundeskanzler Willy Brandt. Als der 1974 zurücktreten muss, wird Schmidt am 16. Mai vom Bundestag zum fünften Kanzler der Bundesrepublik gewählt.

Schmidts Regierung ist zunächst sehr erfolgreich. Die Folgen der ersten Ölkrise von 1973 beschäftigen die Republik. Die Arbeitslosigkeit steigt rasant. Sind noch 1970 im Jahresdurchschnitt 150.000 Menschen arbeitslos, sind es im Januar 1975 über eine Million. Es wird die zentrale Herausforderung der Regierung. Schmidt prägt den Satz: "Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit." Und tatsächlich gelingt es der Regierung, die Arbeitslosigkeit ab 1975 wieder zu senken.

Doch die Republik hat sich zugleich gewandelt. Die 68er-Generation verändert die Gesellschaft. Es geht dabei nicht allein um politische Veränderung. Sondern auch um eine gesellschaftliche Fragen wie Gleichberechtigung, anti-autoritäre Erziehung und Umweltschutz.

Atomkraft und Atomraketen bewegen die Republik

Weil Schmidt die Wirtschaft wieder auf Trab bringen will, wird im Zuge der Ölkrise in Deutschland der Bau von immer leistungsfähigeren Atomkraftwerken forciert. Im Juli 1973 erfolgt die Ankündigung zum Bau des Atomkraftwerks Wyhl in Baden-Württemberg. Innerhalb weniger Monate entsteht die erste größere Anti-Atom-Bewegung. Die Gesellschaft hat ein neues Protestthema: Die Atomkraft.

Während in Deutschland über deren Risiken diskutiert wird, entsteht sich eine weitere außenpolitische Diskussion. 1974 testet die Sowjetunion die ersten SS-20-Raketen mit einer Reichweite von etwa 5.000 Kilometern. Sie zielen auf Mitteleuropa. Deutschland gerät in den Mittelpunkt eines möglichen Atomkrieges. Schmidt warnt im Herbst 1977 vor einer unkontrollierten atomaren Aufrüstung des Ostblocks. Der Westen soll den SS-20 etwas entgegensetzen.

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Die Idee des Nato-Doppelbeschlusses wird geboren, der 1979 verabschiedet wird. Die USA drohen mit der Stationierung von Pershing-II-Atomraketen, verbinden dies aber mit einem Gesprächsangebot an Moskau. Schmidt wird zum Verfechter des Plans, steht damit in der eigenen Partei aber ziemlich allein da. Die Angst vor dem Atomtod bestimmt die öffentliche Debatte.

Die Friedensbewegung ist wenig später auf ihrem Höhepunkt: Im Oktober 1981 demonstrieren in Bonn etwa 350.000 Menschen gegen den Nato-Doppelbeschluss, im Juni darauf noch einmal 500.000 Menschen. Es gibt Menschenketten und Sitzblockaden. Innerhalb der SPD wird kontrovers diskutiert.

Schmidt versteht die Kritiker nicht

Zu einem der schärfsten innerparteilichen Kritiker Schmidts wird Erhard Eppler, der dem linken Parteiflügel der SPD angehört. Er ist Entwicklungsminister unter Willy Brandt und zunächst auch unter Schmidt. Im Streit um Etatkürzungen verlässt er das Kabinett nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt im Jahr 1974. Und entwickelt sich nur wenige Jahre später zu einer der Galionsfiguren der Friedensbewegung.

Das "Macher-Pathos" Schmidts habe ihn abgestoßen, sagt Eppler in seiner späten Biografie. Zwar habe dieser Diskussionen nicht gescheut. "Sie machten ihm Spaß, solange sie sich innerhalb seines Politikverständnisses abspielten", schreibt Eppler. Wer das nicht geteilt habe, sei abgeschrieben gewesen: als Gesinnungsethiker oder "nicht erwachsen". Schmidt polarisiert und Menschen wie Eppler stößt dieses Politikverständnis ab.

Schleyer-Entführung: Misstrauen gegen den Staat

Ein weiteres einschneidendes Ereignis in Schmidts Biografie ist der sogenannte "Deutsche Herbst", mit der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer durch die Rote Armee Fraktion (RAF) am 5. September 1977. Sein Fahrer und drei Leibwächter werden bei der Aktion erschossen. Die RAF fordert die Freilassung von elf ihrer Mitglieder – was Schmidts Regierung verweigert. Als am folgenden 13. Oktober die Lufthansa-Maschine "Landshut" durch palästinensische Terroristen entführt wird, organisiert Schmidt die Erstürmung des Flugzeugs im somalischen Mogadischu. Am 18. Oktober befreit die GSG 9 die Geiseln.

In derselben Nacht begehen drei führende RAF-Mitglieder im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Die Bundesregierung verhinderte zuvor, dass Schleyers Angehörige auf eine Lösegeldforderung der RAF eingingen. Auch das Bundesverfassungsgericht lehnte eine entsprechende Klage der Familie ab. Am 19. Oktober 1977 wird Schleyer schließlich ermordet aufgefunden.

Die 68er-Bewegung sympathisiert zu großen Teilen mit der RAF. Schmidt wiederum versucht, die RAF mit Härte zu bekämpfen. Und so wird der Kanzler zur Projektionsfläche für das Misstrauen gegenüber dem Staat an sich. Anders gesagt: Er ist für sie das Sinnbild eines repressiven Staates.

Die grüne Bewegung formt sich

Innerhalb der SPD werden die Themen zwar kontrovers diskutiert. Der linke Flügel kann sich aber nicht durchsetzen. Der Mitgliedereintrittswelle unter Willy Brandt folgt die Ernüchterung. Viele Jüngere fühlen sich von der SPD nicht mehr vertreten. Eppler schreibt später in seiner Biografie, Schmidt habe zentrale Themen entweder verschlafen oder nicht ernst genommen. In der Auseinandersetzung um den Nato-Doppelbeschluss wird das besonders deutlich. Nicht nur die 68er, sondern weite Teile der Bevölkerung fürchten, Deutschland werde so zum Schauplatz eines Dritten Weltkrieges.

Gleichzeitig berichtet der "Spiegel", Schmidt erwäge einen Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD gegen Mitglieder, die auf der Kundgebung im Bonner Hofgarten 1981 sprechen wollten. Schmidt will den Genossen den Mund verbieten. Ein Führungsstil, der in großen Teilen der Partei zu Kopfschütteln führt.

Und noch ein weiteres Thema bewegt die Menschen: Der Umweltschutz. 1972 warnt der Club of Rome erstmals vor den "Grenzen des Wachstums". In Deutschland folgt eine Debatte über die begrenzten Ressourcen der Erde, bei wachsender Weltbevölkerung und Wirtschaftswachstum. Bald formt sich eine Bewegung, die nicht nur auf der Straße, sondern auch in den Parlamenten für ihre Interessen kämpfen will.

Themen, die Schmidt nicht mehr einfangen kann

Im Jahr 1976 treten bei diversen Kommunalwahlen alternative Listen an. Bei der Europawahl 1979 sind die Grünen erstmals als Partei vertreten (obwohl der Bundesverband sich erst im Januar 1980 offiziell gründet). Die Wahlkampfkostenerstattung von 4,5 Millionen Mark bildet eine erste finanzielle Grundlage für die neue politische Formation. Im ersten Programm der Grünen heißt es, man sei "sozial, ökologisch, basisdemokratisch, gewaltfrei". Auch der Feminismus spielt eine wesentliche Rolle für die neue Partei.

Alles Themen, die Schmidt nicht mehr einfangen kann. Im Gegenteil: Den Bericht des Club of Rome zweifelt er an. Atomkraftwerke will er ausbauen. Die Stationierung von Pershing-II-Raketen befürwortet er.

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So demonstrieren im Bonner Hofgarten viele spätere Grünen-Anhänger. Es sprechen unter anderen Petra Kelly, Gerd Bastian und der spätere Namensgeber der Grünen-nahen Stiftung, Heinrich Böll. Die Partei fängt auf, was Schmidt nicht sehen will und kann. 1983 zieht die Partei in den Bundestag ein. Da ist Schmidt schon nicht mehr Kanzler.

Schmidt: "Das ist abwegig"

Auf die Frage, ob sein Unverständnis gegenüber den Themen der "jungen Leute" damals nicht der Hauptgrund für das Entstehen der Grünen gewesen sei, wird Schmidt 2007 von einem Journalisten gefragt. Schmidt darauf: "Das ist abwegig." Und erklärt, es habe in Deutschland ganz logisch mehrere Parteien im Parlament geben müssen. Ob er das wirklich so dachte, blieb sein Geheimnis.

Schmidt bleibt den Deutschen noch lange nach dem Kanzlersturz im Oktober 1982 als politisch-moralische Instanz erhalten. Und als Sprücheklopfer. Der immer sagt, was er denkt. Die Republik schätzt ihn bis heute für beides.

Verwendete Quellen
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