"Schwerste Gesundheitskrise jemals" - Ampel unter Zugzwang
Berlin (dpa) - Die wachsende vierte Corona-Welle mit mehr als 70.000 Neuinfektionen an einem Tag setzt die geplante Ampel-Koalition noch vor Amtsantritt immer stΓ€rker unter Zugzwang. Mehr als 100.000 Menschen sind in Deutschland an oder mit Covid-19 gestorben.
"Wir starten mΓΆglicherweise diese Regierung in der schwersten Gesundheitskrise, die Deutschland jemals hatte", sagte GrΓΌnen-Chef Robert Habeck am Donnerstag in Berlin. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) warnte vor ΓΌberlasteten Kliniken: "Hier zΓ€hlt jeder Tag." Aus den LΓ€ndern kommen immer mehr Rufe nach konsequentem Gegensteuern und Spekulationen ΓΌber bevorstehende Lockdown-MaΓnahmen.
Braun fordert Notbremse
Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) erhΓΆhte am Donnerstag in einer Schaltkonferenz mit seinen LΓ€nder-Kollegen den Druck. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur aus Teilnehmerkreisen sagte er: "Jetzt reicht's." NΓΆtig sei jetzt eine Notbremse. "Entweder macht die Ampel ein Gesetz oder wir brauchen eine MinisterprΓ€sidentenkonferenz, die eine klare Notbremse beschlieΓt."
EMA lΓ€sst Impfstoff fΓΌr Kinder zu
Mit der Zulassung des Biontech/Pfizer-Impfstoffs fΓΌr Kinder kΓΆnnen Eltern ihre fΓΌnf- bis elfjΓ€hrigen Kinder bald gegen Corona impfen lassen. Die europΓ€ische ArzneimittelbehΓΆrde EMA stufte den Impfstoff am Donnerstag als sicher und effektiv ein. Kinder ab fΓΌnf Jahren sollen nur ein Drittel der Erwachsenen-Dosis erhalten und zwei Dosen im Abstand von drei Wochen. In Deutschland stehen nach Angaben des amtierenden Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ab 20. Dezember 2,4 Millionen Dosen fΓΌr Kinder zur VerfΓΌgung. Viele KinderΓ€rzte orientieren sich an der Empfehlung der StΓ€ndigen Impfkommission (Stiko), die zu dem Kinder-Impfstoff noch aussteht.
Baerbock: "Geben uns 10 Tage Zeit"
Die ungebremste Verbreitung des Virus ΓΌberschattet unterdessen die Bildung der neuen Regierung immer mehr. Laut GrΓΌnen-Chefin Annalena Baerbock wollen sich SPD, GrΓΌne und FDP zehn Tage Zeit geben, um ΓΌber mΓΆgliche schΓ€rfere MaΓnahmen zu beraten. Bayerns MinisterprΓ€sident Markus SΓΆder (CSU) pocht auf schnelle neue Bund-LΓ€nder-Beratungen - auch weil das neue Infektionsschutzgesetz "der derzeitigen Situation nicht angemessen" sei. Sachsens MinisterprΓ€sident Michael Kretschmer (CDU) schlieΓt einen Lockdown vor Weihnachten nicht mehr aus.
"Wir haben uns zehn Tage Zeit gegeben, um zu sehen, sind wir bei den Booster-Impfungen, sind wir bei den SchutzmaΓnahmen weit genug gekommen", sagte Baerbock am Mittwochabend in der ARD. Der geplante neue Bund-LΓ€nder-Krisenstab solle die Situation tΓ€glich unter die Lupe nehmen. Der voraussichtliche kΓΌnftige Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte so ein neues Gremium angekΓΌndigt. Nach zehn Tagen werde man analysieren, ob weitere MaΓnahmen nΓΆtig seien. Bisher ist geplant, dass Bund und LΓ€nder am 9. Dezember ΓΌberprΓΌfen, ob das von den Ampel-Parteien geΓ€nderte Infektionsschutzgesetz reicht.
Durch das neue Gesetz haben die LΓ€nder keine MΓΆglichkeit mehr fΓΌr Ausgangssperren oder SchlieΓungen von Schulen, Kitas, Betrieben und GeschΓ€ften in einem Landkreis oder gar einem ganzen Bundesland. KontaktbeschrΓ€nkungen, Vorschriften zum Abstand halten, die Maskenpflicht und auch ZutrittsbeschrΓ€nkungen nur auf Geimpfte und Genesene (2G) sind weiter mΓΆglich.
Γber 75.000 Neuinfektionen
Wieder meldete das Robert Koch-Institut Corona-Rekorde: 75.961 Neuinfektionen gab es in 24 Stunden, die Sieben-Tage-Inzidenz lag bei 419,7 Infektionen pro 100.000 Einwohner. Am rasantesten verbreitet sich das Virus in Sachsen mit einer Inzidenz von 1074,6. Die Zahl der Toten stieg bundesweit um 351 auf 100.119. Aktuell sind noch 2334 Intensivbetten frei.
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus sagte: "Wir mΓΌssen jetzt intensiv handeln." Die bisher geplante Bewertung am 9. Dezember sei "viel zu spΓ€t", so Brinkhaus in der ARD. SΓΆder sagte der "SΓΌddeutschen Zeitung": "Jede MΓΆglichkeit, die derzeitige Krisenlage zu verbessern, muss genutzt werden." Merkel machte deutlich, dass sie die aktuelle Entwicklung als sehr gefΓ€hrlich einschΓ€tzt. "Wir brauchen mehr BeschrΓ€nkungen von Kontakten", sagte sie. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur hatte die geschΓ€ftsfΓΌhrende Kanzlerin den Spitzen der Ampel-Parteien am Dienstag angeboten, die MaΓnahmen zu verschΓ€rfen. Eine gesetzliche Notbremse oder klare Lockdown-Vereinbarungen mit den LΓ€ndern wΓ€ren naheliegend, hieΓ es.
Nach Ansicht von Mecklenburg-Vorpommerns Gesundheitsministerin Stefanie Drese (SPD) mΓΌsse ein weiterer Lockdown in Betracht gezogen werden. "Ich kann in dieser aktuellen Pandemie-Lage gar nichts mehr ausschlieΓen", sagte Drese der dpa.
Bald Verlegung von Intensiv-Patienten
Die Luftwaffe hΓ€lt in KΓΆln zwei Flugzeuge die Verlegung von Intensivpatienten in der Corona-Pandemie bereit. In Bayern, ThΓΌringen und Sachsen begannen die Vorbereitungen fΓΌr die Verlegung von 54 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen in aktuell weniger stark betroffenen Gebieten im Norden und Westen Deutschlands.
Aus Sicht der bayerischen Krankenhausgesellschaft wird eine bundesweite Verlegung von Intensivpatienten aber nur kurzfristig helfen: "Die momentan noch vorhandenen IntensivkapazitΓ€ten im Norden werden uns nur einige Wochen helfen kΓΆnnen, weil auch dort die Belegung steigt." Planbare Operationen sollen nach dem Willen der Gesundheitsminister vom Bund und LΓ€ndern bundesweit verschoben werden.
Start fΓΌr neuen Krisenstab noch unklar
Bei SPD, GrΓΌnen und FDP geht man davon aus, dass die neue Koalition mitverantwortlich gemacht wird, wenn dΓΌstere Szenarien stark steigender Kranken- und Totenzahlen in den kommenden Wochen eintreten, wie es in Koalitionskreisen hieΓ. Offen blieb, wann der Bund-LΓ€nder-Krisenstab im Kanzleramt eingerichtet wird. Laut Scholz soll das Gremium vor Amtsantritt der Ampel beginnen.
Gesundheitsminister Spahn schrieb angesichts der neuen Totenzahlen auf Twitter: "Wir dΓΌrfen das nicht einfach so hinnehmen." Etwas Mut mache der Blick auf das Impfen: Binnen zwei Tagen habe es nun knapp 200.000 Erstimpfungen gegeben. 626.000 Booster-Impfungen am Vortag seien ein neuer Tagesrekord.
Die Gesundheitsminister der LΓ€nder forderten vom Bund unterdessen bereits konkret eine Γnderung am neuen Infektionsschutzgesetz - und zwar hinsichtlich der neuen Testpflichten in Praxen, Kliniken und Pflegeeinrichtungen. FΓΌr geimpfte und genesene BeschΓ€ftigte sei eine Testung zwei Mal wΓΆchentlich mittels Selbsttest ausreichend, heiΓt es in einem einstimmigen Beschluss. Nach dem neuen Gesetz mΓΌssen sich auch Geimpfte tΓ€glich testen lassen. Die LΓ€nder kΓΌndigen an, dass die neuen Regeln "nicht angewendet werden".