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Tod eines Politikers: Warum starb Jürgen Möllemann vor 20 Jahren?


Tod beim Fallschirmsprung
Warum starb Jürgen Möllemann?

Von Miriam Hollstein

05.06.2023Lesedauer: 5 Min.
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Viel Ärger bereitet dem FDP-Generalsekretär in dieser Zeit der mächtige Landesvorsitzende der FDP Nordrhein-Westfalen Jürgen W. Möllemann. Volkommen zerrüttet ist das Verhältnis beider nach Möllemanns Attacken gegen Israel und den Zentralrat der Juden in Deutschland 2002. Möllemann stirbt kurze Zeit später unter ungeklärten Umständen bei einem Fallschirmsprung.Vergrößern des Bildes
Jürgen Möllemann im Jahr 2002 (l. mit dem damaligen FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle (†2016). Die beiden hatten ein schwieriges Verhältnis.

Vor 20 Jahren stürzte der FDP-Politiker Jürgen Möllemann bei einem Fallschirmsprung in den Tod. Er war einer der schillerndsten Politiker der Bundesrepublik.

Es war Donnerstag, der 5. Juni 2003 um 12.15 Uhr, als am Flugplatz Marl das Propellerflugzeug mit einer Gruppe von neun Fallschirmspringern an Bord aufstieg. Einer von ihnen: Jürgen Möllemann, Ex-Vizekanzler, Ex-Wirtschaftsminister, einer der prominentesten FDP-Politiker. Bekannt durch seine ungewöhnlichen Auftritte, durch visionäre Ideen, aber auch durch zahlreiche Skandale. Drei Stunden vorher hatte der Bundestag wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung die Immunität des 57-jährigen Bundestagsabgeordneten aufgehoben.

Auf einer Flughöhe von 4.000 Metern angekommen sprangen die Fallschirmspringer in zwei Gruppen, weil sie eine Formation bilden wollten. Nur einer sprang allein. Möllemann öffnete seinen Hauptschirm, löste ihn dann aber ab. Der Reserveschirm öffnete sich nicht. Ungebremst stürzte der sprungerfahrene Politiker auf den Boden. Er war sofort tot.

"Wir waren schockstarr"

Die Nachricht machte wie ein Lauffeuer die Runde. Möllemann war bewundert, verachtet, gehasst gewesen. Kalt gelassen hatte er niemanden. Vor allem in seiner eigenen Partei herrschte Fassungslosigkeit. "Wir waren schockstarr", erinnert sich einer: "Dass das Selbstmord gewesen sein könnte, war unvorstellbar. Das war komplett gegen alles, was ihn ausmachte."

Jürgen Möllemann war ein Breitbeiner in der Politik. Einer, dem es nie an Selbstbewusstsein mangelte und den Anfeindungen nicht anfochten. Und die gab es genug. Wozu er auch selbst viel beitrug. Gestartet war er in der CDU, wechselte 1970 in die FDP, machte dort rasch Karriere. Er wurde in Nordrhein-Westfalen Landesvorsitzender der Liberalen, musste später sein Amt wieder abgeben, weil er sich mit dem damaligen Bundesvorsitzenden und Außenminister Klaus Kinkel angelegt hatte. Doch er kam zurück, brachte die FDP zurück in den Landtag – mit 9,8 Prozent und einem umstrittenen Wahlkampfspot, in dem eine nackte Blondine in einer Badewanne ums Leben kommt, weil sie einen Föhn benutzt (Slogan: "Wir brauchen dringend mehr Geld für Bildung").

Auch auf der Bundesbühne mischte er mit, erst als Bundestagsabgeordneter, ab 1987 als Bildungsminister und später Wirtschaftsminister unter Helmut Kohl sowie – nach dem Rücktritt von Hans-Dietrich Genscher – zusätzlich Vizekanzler. 1993 musste er von beiden Ämtern zurücktreten, weil bekannt wurde, dass er auf offiziellem Briefpapier des Wirtschaftsministeriums für die Geschäftsidee eines Vetters geworben hatte. Bei der "pfiffigen Idee", wie Möllemann im Schreiben an mehrere Handelskettenchefs lobte, handelte es sich übrigens um Einkaufswagenchips, wie sie heute an fast jedem Schlüsselbund zu finden sind.

Möllemann war der Erfinder des "Projekts 18"

Jürgen Möllemann war der Erfinder des "Projekts 18", was vom späteren Vorsitzenden Guido Westerwelle übernommen wurde. 2001 gab er dieses Ziel für die Bundestagswahl 2002 aus. Natürlich wusste auch er, dass das unrealistisch war. Aber, so das Kalkül: Wer die ganze Zeit darüber diskutierte, ob die Liberalen die 18 Prozent erreichten, würde nicht diskutieren, dass sie unter die 5-Prozent-Hürde fielen. Denn die FDP steckte in einer Existenzkrise. Nach fast 30 Jahren in der Regierung (1969-1998) hatte die Partei verlernt, wie man Opposition macht.

Bei der Landtagswahl in Sachsen fiel sie 1999 auf 1,1 Prozent, was den damaligen ZDF-Moderator Steffen Seibert zur spitzfindigen Bemerkung veranlasste, die FDP sei "verdammt nah dran an der Partei Bibeltreuer Christen".

Möllemanns Kalkül ging auf: Bei der Bundestagswahl landete die FDP mit ganz leichtem Gewinn bei 7,4 Prozent.

Aber Möllemann war nicht nur der Retter seiner Partei; er fügte ihr auch schweren Schaden zu. 2002 zeigte er Verständnis für Selbstmordattentate gegen Israel. Er war da der Vorsitzende der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, die in diesem Frühjahr erst wieder aufgefallen ist durch einen prorussischen Propagandaauftritt ihrer heutigen Vorsitzenden, einer Prinzessin. Möllemann sorgte dafür, dass der grüne Landtagsabgeordnete Jamal Karsli, der von einem "Vernichtungskrieg" der israelischen Regierung gegen die Palästinenser gesprochen hatte, nach dessen erzwungenen Austritt bei den Grünen in die NRW-FDP-Fraktion aufgenommen wurde.

Nach massiver Kritik bat Möllemann um Entschuldigung, ließ aber kurze Zeit später ein Flugblatt drucken, in dem er dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon und dem deutsch-jüdischen Publizisten Michel Friedman erneut vorwarf, mit ihrem Verhalten antijüdische Ressentiments zu schüren. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, nannte Möllemanns Aussage, Juden seien mit ihren Äußerungen für den Antisemitismus selbst verantwortlich, "die größte Beleidigung, die eine Partei in der Geschichte der Bundesrepublik nach dem Holocaust ausgesprochen" habe.

Die FDP distanzierte sich, Möllemann musste den Vorsitz der NRW-Partei ein zweites Mal aufgeben. Im Zug der Untersuchungen über die dubiose Finanzierung des Flugblattes tauchten weitere Vorwürfe gegen Möllemann auf: Es ging um Parteispenden, Schwarzkonten, gefälschte Quittungen.

"Der ist kein Quartalsirrer, die Abstände sind kürzer", soll einer der FDP-Granden bei einer Vorstandssitzung damals über ihn gesagt haben. Möllemann wurde zum Austritt aufgefordert.

Und Möllemann? Der ging zum Gegenangriff über. Drohte mit der Gründung einer neuen Partei, die den "Tod der FDP" bedeuten würde. Veröffentlichte im März 2003 ein Buch, in dem er über die FDP-Spitze herzog.

Drei Monate später stürzte er in den Tod. Schnell kursierten alle möglichen Theorien. Von einem Unfall, einem Mord, einem Geheimdienstkomplott war die Rede. Die Staatsanwaltschaft ermittelte in alle Richtungen. Doch schnell verdichteten sich die Anzeichen, dass es ein selbst gewählter Sprung in den Tod gewesen war.

Dem "Bodycheck", bei dem sich Springer wechselseitig vor dem Sprung die Ausrüstung kontrollieren, hatte sich Möllemann unter einem Vorwand entzogen. Nachdem er den Hauptschirm abgeworfen hatte, stürzte er unkontrolliert zu Boden. Eine spätere Untersuchung ergab, dass der "Cypres", ein Öffnungsmechanismus, der Geschwindigkeit und Höhe misst und automatisch im Notfall den Reserveschirm auslöst, ausgeschaltet war.

Auch in der nordrhein-westfälischen Springer-Szene glaubt man an einen Selbstmord. Dort hatte man Möllemann geschätzt, er galt auf dem Flugplatz als charmant, hilfsbereit und unprätentiös. "Wenn man gemeinsam auf 4.000 Meter hochsteigt, ist da kein Platz für 'Ich bin was Besseres'", sagt einer, der häufiger mit ihm sprang: "Ich glaube, das war das, was er suchte: Normalität im Kreis Gleichgesinnter."

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Um "Mölli" rankten sich viele Legenden

Natürlich sorgte "der Mölli" trotzdem für Gesprächsstoff: Etwa als er aus der Szene mehrere Springer für sein Wahlkampfprojekt rekrutierte, bei dem sie mit Schirmen in den gelb-blauen FDP-Farben über Wahlkampfveranstaltungen absprangen. Die Kosten für den Sprung übernahm Möllemann, was für viele ein Anreiz war, mitzumachen.

Der Politiker liebte das Adrenalin vor dem Sprung, den Rausch des Falls. Er war erfahren, hatte mehrere schwierige Landungen überstanden, musste mehrmals auch in Notsituationen den Reserveschirm ziehen.

Am 5. Juni 2003 zog er ihn nicht. "Da hat sich jemand ums Leben gebracht, mit einer Sache, die er sehr geliebt hat", sagt der frühere Fallschirmkamerad.

Auf der Beerdigung wurde seine Lieblingsarie von Puccini gespielt: Nessun dorma – keiner schlafe.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Gespräch mit einem früheren Fallschirmsprungkollegen von Jürgen Möllemann
  • ARD-Dokumentation "Der Tag als Jürgen Möllemann in den Tod sprang" von Georg M. Hafner
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