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Estland-Geheimdienst warnt: "Putin plant eine Massenarmee"


Interview
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Estnischer Geheimdienstchef
"Dann müssen wir mit allem rechnen"

  • Daniel Mützel
InterviewVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 07.04.2024Lesedauer: 8 Min.
RUSSIA-PUTIN/ARMY DAYVergrößern des Bildes
Wladimir Putin (2.v.l.) und Verteidigungsminister Sergej Schoigu (Archvibild): Die russische Führung bereitet sich auf einen möglichen Krieg mit der Nato vor. (Quelle: SPUTNIK/reuters)
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Russland eskaliert in der Ukraine und wähnt sich im Krieg mit dem Westen. Im Interview erklärt der estnische Geheimdienstchef, was der Kreml als Nächstes plant – und warnt Deutschland.

Ein unscheinbares Gebäude im Süden der estnischen Hauptstadt Tallinn, umhüllt von weißer Bauplane und Fassadengerüst. Nur der meterhohe Betonwall und die vielen Überwachungskameras lassen vermuten, dass sich hinter den Mauern ein besonders geschütztes Areal auftut. Hier, zwischen Wohnhäusern, Brachland und verlassenen Bushaltestellen, sitzt der Välisluureamet, der Auslandsnachrichtendienst Estlands.

Chef der Behörde ist seit November 2022 der Geheimdienstoffizier Kaupo Rosin, der zuvor unter anderem den estnischen Militärgeheimdienst leitete. Rosin hat sich an diesem Mittwoch Zeit für t-online genommen, fast zwei Stunden spricht der Geheimdienstchef über russische Einflussoperationen, Putins imperiale Ambitionen in Europa und die Angst vor einem Atomkrieg. Der Geheimdienstler hat auch eine Botschaft für Deutschland – und warnt vor "kinetischen Operationen" der Russen.

t-online: Herr Rosin, hat der deutsche Bundeskanzler einen Atomkrieg verhindert?

Kaupo Rosin: Ich bin nicht sicher, worauf Sie anspielen.

Die "New York Times" berichtete kürzlich von einem abgehörten Gespräch russischer Militärs, die im Oktober 2022 einen Nuklearwaffeneinsatz in der Ukraine besprochen haben sollen. Einen Monat später reiste Scholz nach Peking und brachte die Chinesen dazu, sich öffentlich gegen den Einsatz von Kernwaffen zu positionieren. In Deutschland wurde das so interpretiert, als habe der deutsche Kanzler wohl eine nukleare Katastrophe mitverhindert.

Ich war bei dem Gespräch nicht dabei. Ich verfüge aber über keine Daten, die diese Behauptung belegen würden. Unsere Geheimdienste haben seit Februar 2022 keine ungewöhnlichen Aktivitäten der russischen Nuklearstreitkräfte festgestellt.

Was wäre das zum Beispiel?

Etwa wenn die Nuklearstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt werden, was nur einmal kurz nach Invasionsbeginn stattfand. Oder wenn atomare Sprengköpfe bewegt werden, etwa von Depots zu möglichen Trägersystemen. Wir kennen die Depots, die Standorte der Trägersysteme, die zuständigen Truppenteile. Es gab reguläre Übungen, aber nichts Beunruhigendes.

Für wie wahrscheinlich halten Sie den Einsatz einer taktischen Atombombe in der Ukraine?

Das ist ein extrem unwahrscheinliches Szenario.

Warum?

Ein Diktator wie Putin hat ein übergeordnetes Interesse: sein Überleben. Das wäre im Fall eines Nukleareinsatzes existentiell bedroht. Meiner Erfahrung nach fürchtet die russische Führung nichts mehr als eine Dynamik, die sie nicht kontrollieren kann. Was nicht heißt, dass sie die Dinge immer korrekt berechnet. Der Überfall auf die Ukraine basierte auf zahlreichen Fehlkalkulationen. Aber ein Atomwaffeneinsatz wäre eine historische Zäsur mit unberechenbaren Folgen, auch für Putins politisches und physisches Überleben.

Die Angst vor einer nuklearen Eskalation im Ukraine-Krieg ist dennoch weit verbreitet, auch in Deutschland. Sie wird immer wieder angeführt, etwa um bestimmte Waffensysteme nicht oder erst spät zu liefern. Wie blickt der Kreml darauf?

Die Russen haben verstanden, dass eine nukleare Bedrohung für die Gesellschaften des Westens schwer auszuhalten ist. Die russischen Nachrichtendienste analysieren die westlichen Reaktionen auf Atomdrohungen, sammeln Feedback ein und melden es der Befehlsebene. Die wiederum nutzt die Erkenntnisse, um die Methoden der nuklearen Erpressung zu verfeinern. Die Russen sind nicht dumm, sie überlegen genau, wann und wie sie sie einsetzen.

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Mit Erfolg?

Aus russischer Sicht ist sie eine der wenigen wirklich effektiven Waffen im Informationskrieg. Ohne die nukleare Erpressung wäre die westliche Militärunterstützung für die Ukraine deutlich höher, das ist zumindest die Einschätzung russischer Dienste. Wir können davon ausgehen, dass sie sie noch häufiger einsetzen werden.

Weitere russische Vorstöße zu erwarten

Das US-Hilfspaket steckt im Kongress fest, Deutschland lehnt eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern ab. Wie könnte sich die Lage auf dem ukrainischen Schlachtfeld 2024 entwickeln?

Wir müssen mit einem schrittweisen Vorrücken der Russen rechnen. Sie werden wohl weitere, begrenzte Geländegewinne machen. Im Abnutzungskrieg geht es aber nicht um Territorium per se, sondern darum, wer mehr Ressourcen hat und wer als Erstes bricht. An diesem Punkt sind wir aber noch nicht. Ich sehe keine Anzeichen für einen Kollaps der ukrainischen Verteidigung.

Kritiker sagen, der Westen liefert der Ukraine gerade so viel, um zu überleben, aber nicht genug, um zu gewinnen.

Der Westen hat keine Strategie, auch nach zwei Kriegsjahren nicht. Das ist ein großes Problem. Wir können uns nicht darauf einigen, was wir eigentlich erreichen wollen. Die Ukraine könnte gewinnen, wenn der politische Wille im Westen da wäre. Uns muss allen klar sein: Wenn wir die Hilfen einstellen oder auslaufen lassen, wird die militärische Niederlage der Ukraine nicht mehr aufzuhalten sein. Es ist eine brutale, aber einfache Gleichung.

Ist es die Schuld des Westens, wenn die Ukraine verliert?

Nicht die alleinige, aber zum großen Teil.

Welche konkreten Kriegsziele verfolgt die russische Militärführung auf kurze Sicht?

Das russische Minimalziel sind die vier ukrainischen Oblaste, die Russland 2022 illegal annektiert hat: Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson. Ob die russische Armee einen erneuten Großangriff auf Charkiw oder Odessa startet, hängt von der Lage auf dem Schlachtfeld ab. Klar ist aber: Für jeden größeren Vorstoß bräuchte Russland mehr Soldaten.

Rekrutiert Russland nicht permanent neue Soldaten?

Ja, aber das sind Vertragssoldaten, die sich auf im Schnitt 30.000 Männer monatlich belaufen. Ich rechne mit 300.000 bis 400.000 weiteren russischen Soldaten, die so bis Ende 2024 zusammenkommen. Das sind mehr als genug, um die Verluste an der Front auszugleichen. Aber um tiefer ins ukrainische Hinterland vorzustoßen, braucht Putin eine größere Streitmacht – und eine Mobilisierung auf einen Schlag.

Die letzte Mobilisierung fand im Herbst 2022 statt, rund 300.000 russische Männer wurden damals zum Kriegsdienst verpflichtet. Rechnen Sie mit einer weiteren Welle?

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Das ist schwer zu prognostizieren. Putins Mobilisierungsdekret ist formell noch in Kraft und war mit hohen politischen Kosten verbunden. Nach unseren Erkenntnissen war die Teilmobilisierung 2022 bei den Russen ziemlich unpopulär. Es gibt eine wachsende Kriegsmüdigkeit auch in Russland. Nicht so sichtbar wie im Westen, aber groß genug, dass die russische Führung sie mit Sorge beobachtet und Maßnahmen ergreift. Bisher hat der Kreml die Lage unter Kontrolle, organisiert Treffen mit Hinterbliebenen oder erkauft sich Schweigen mit Geld. Eine weitere Mobilisierungswelle könnte das Regime destabilisieren.

Über 400.000 Russen kämpfen mittlerweile in der Ukraine. Wenn die von Ihnen erwähnten Vertragssoldaten hinzukommen, sieht die Ukraine Anfang 2025 dann einer Armee von bis zu 800.000 Mann entgegen?

Ob die 300.000 bis 400.000 neuen Rekruten in die Ukraine geschickt werden, hängt vom weiteren Kriegsverlauf ab. Ein Teil davon soll sicher auch die neuen Verbände bestücken, die gemäß russischer Militärreform aufgebaut werden und für eine mögliche Konfrontation mit der Nato bereitstehen sollen.

Russlands Bedrohung für die Nato

Wie groß ist die russische Bedrohung für die Nato?

Das strategische Ziel der Russen hat sich nicht geändert: die Neuordnung der europäischen Sicherheitsarchitektur. Der Pfad zu diesem Ziel kann variieren, aber schließt immer die Anwendung militärischer Gewalt als Option ein. Der Ukraine-Feldzug ist derzeit die größte Variable in dieser Gleichung. Verliert Russland den Krieg, wird die russische Führung neu kalkulieren müssen. Ihre Aufmerksamkeit und Ressourcen würden wahrscheinlich weiter in die Ukraine gehen, Europa würde aus dem Fokus geraten.

Und wenn Russland gewinnt?

Dann werden wir ein siegreiches, selbstbewusstes Russland haben, das seine Aggression gegen weitere osteuropäische Staaten richten wird, in welcher Form auch immer.

Welche Rolle spielt die russische Militärreform?

Die Reform sieht vor, die russische Armee in die Lage zu versetzen, militärische Operationen gegen die Nato auszuführen, sobald die politische Führung den Befehl gibt. Das ist der Zweck von Putins Militärreform. Der Kreml rechnet mit einem möglichen Krieg mit der Nato in den nächsten zehn Jahren. An der russischen Westflanke, an der Grenze zu Norwegen, Finnland und dem Baltikum, werden wir mittelfristig stärkere Truppenverbände sehen. Auch für die Ukraine sieht die Reform eine größere Streitmacht vor. Insgesamt soll die Truppenstärke auf 1,5 Millionen Soldaten erhöht werden, was machbar ist in ein paar Jahren. Putin plant eine Massenarmee wie zu Sowjetzeiten.

Glauben Sie, dass Russland ein Nato-Mitglied angreifen würde? Eine Armee, die seit zwei Jahren unter heftigsten Verlusten in der Ukraine kämpft, wird sich kaum mit der Nato anlegen. Oder?

Militärische Abschreckung basiert auf aufmarschfähigen und einsatzbereiten Streitkräften sowie auf militärischen Plänen, die mit Ressourcen unterlegt sind. Wenn diese Abschreckung unglaubwürdig ist, sei es durch militärische oder politische Schwäche, wird ein aggressiver, berechnender Gegner das zu seinem Vorteil nutzen. Die Aufgabe der Nato ist es, dass die Kalkulationen der Russen immer zu ihrem Nachteil ausgehen. Wenn das nicht mehr der Fall ist, dann müssen wir mit allem rechnen.

Russische Einflussoperationen gegen Europa

Tschechische Ermittler haben das russische Einflussnetzwerk "Voice of Europe" ausgehoben, das europäische Politiker für Kremlpropaganda eingespannt und finanziert haben soll. Werden solche Einflussversuche vor der Europawahl im Juni zunehmen?

"Voice of Europe" ist nur eines von mehreren russischen Einflussnetzwerken in Europa. Die konkreten Ziele variieren, meist geht es jedoch darum, die Ukraine-Unterstützung zu untergraben und die europäischen Gesellschaften zu destabilisieren. Das Problem für Russland nach dem Überfall auf die Ukraine war zunächst, dass die klassischen Einflussinstrumente wie russische Medienportale sanktioniert oder aufgelöst wurden. Seitdem suchen die Russen nach neuen Kanälen für ihre Propaganda. Aber die russischen Aktivitäten beschränken sich mittlerweile nicht nur auf den Informationskrieg.

Sondern?

Die Russen greifen zunehmend auf kinetische Operationen zurück. Das ist ein besorgniserregender Trend in mehreren europäischen Staaten. Es werden mittlerweile Personen akquiriert, die konkrete Aktionen durchführen. Zuletzt gab es in Estland Angriffe auf das Privatauto von Innenminister Lauri Läänemets. In anderen Aktionen wurden Zweiter-Weltkriegs-Denkmäler beschmiert oder beschädigt. Insgesamt zwölf Personen wurden in dem Zusammenhang festgenommen. Es war eine hybride Operation, dahinter standen russische Auftraggeber.

Welchen Zweck hatten die Aktionen?

Es ist eine Form von Vandalismus mit einer politischen Komponente. Über die konkreten Ziele in diesen Fällen kann ich nur spekulieren. Allgemein geht es Russland darum, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stören, ein Gefühl der Unsicherheit zu verbreiten, neue Konflikte zu schüren oder existierende zu verschärfen. Diese kinetischen Angriffe Russlands sind neu. Wir beobachten sie seit der zweiten Jahreshälfte 2023. Wenn der Trend weitergeht, wovon wir ausgehen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Menschen dabei getötet werden.

Wer steckt dahinter?

Im estnischen Fall ein russischer Geheimdienst, mehr kann ich dazu nicht sagen. Wir kennen die Einheit und wissen, dass es für die Agenten mittlerweile zu schwer ist, die Aktionen selbst auszuführen, weil wir ihre Identitäten kennen. In anderen Fällen ist auch das russische Präsidentenbüro verwickelt oder andere staatliche Organisationen.

Wie laufen solche Operationen ab?

Oft sind es Mittelsmänner, die die Aktionen planen. Das sind etwa ehemalige Wagner-Soldaten oder Kriminelle, die als freie Unternehmer ihre Dienste anbieten, Projekte für kinetische Operationen konzipieren und dafür bei russischen Behörden Geld einwerben.

Ein Markt für hybride Kriegsführung?

Sozusagen. Die Mittelsmänner beobachten die politische Lage in unterschiedlichen Ländern, etwa bei Schlüsselereignissen wie Wahlen oder Demonstrationen, und pitchen dazu passende Ideen bei ihren Auftraggebern in den russischen Geheimdiensten. Manche Projekte werden abgelehnt, andere angenommen und die Finanzierung besorgt. Die Mittelsmänner suchen dann Leute, um den Auftrag auszuführen.

Wer führt die Aktionen aus?

Meist sind es Kleinkriminelle oder vulnerable Personen, in manchen Fällen sogar ukrainische Geflüchtete. In jedem Fall entbehrliche Personen aus Sicht des russischen Staates. Man findet sie auf sozialen Medien oder im kriminellen Milieu. Die Rückkoppelungseffekte sind gering: Selbst wenn der Plan schiefgeht, werden nur Personen enttarnt, die ohnehin kaum etwas wissen. Der Nachteil ist, dass die Aktionen bislang nicht besonders professionell ausgeführt wurden. Aber ich rechne damit, dass die Russen daraus lernen und ihre Operationen anpassen werden.

In welchen Ländern beobachten Sie solche Aktionen noch?

Diese Operationen finden In mehreren europäischen Staaten statt, leider kann ich nicht genauer darauf eingehen. Estland teilt seine Informationen mit verbündeten Nachrichtendiensten.

Ist Deutschland betroffen?

Soweit ich weiß, gehört Deutschland nicht dazu. Das kann sich aber ändern.

Herr Rosin, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Kaupo Rosin
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