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Tagesanbruch: In Syrien droht die nächste humanitäre Katastrophe


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 14.08.2018Lesedauer: 6 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Panzer der Rebellen in IdlibVergrößern des Bildes
Panzer der Rebellen in Idlib (Quelle: Ibaa News Network/ap-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Der laute Mann am Bosporus wettert gegen alle, die am Verfall der türkischen Lira schuld seien (ausgenommen er selbst); die CDU diskutiert darüber, dass sie lieber nicht darüber diskutieren will, irgendwann mal mit der Linkspartei zu koalieren – aber das wahre Drama dieser Tage spielt sich andernorts ab.

Idlib heißt die Provinz im Nordwesten Syriens, die noch von Gegnern des Diktators Assad gehalten wird. Rund zweieinhalb Millionen Menschen leben dort, die Hälfte von ihnen sind syrische Binnenflüchtlinge, drei Viertel brauchen humanitäre Hilfe. Die moderaten und säkularen Oppositionellen sind auch dort längst gestorben oder zu den Islamisten übergelaufen, das ändert aber nichts daran, dass uns das Schicksal der Überlebenden und vor allem das der vielen Familien, die sich vor den Regierungstruppen in die Enklave gerettet haben, interessieren sollte. Denn nachdem er die Handelsmetropole Aleppo, die Wüstenstadt Palmyra und die Rebellenhochburg Deraa zurückerobert hat, treibt Assad seine Soldaten (und die iranischen Söldner, flankiert von russischen Kampfjets) nun zum Sturm auf Idlib. Und außer den Kämpfern am Boden stellt sich seinen Einheiten kaum noch jemand in den Weg. Es scheint so, als sei nicht nur die Türkei viel zu sehr mit ihrer Wirtschaftskrise beschäftigt, sondern als hätten auch die USA die syrische Opposition längst aufgegeben.

Na ja, kann man da sagen, so ist das eben, wenn sich in Stellvertreterkriegen das Blatt wendet, und genau besehen haben weder die Türkei noch die USA in Idlib etwas zu suchen. Aber das allein wäre zynisch. Jahrelang haben die ausländischen Mächte die Rebellen unterstützt, haben deren Hoffnung auf ein Syrien ohne Assad-Diktatur geschürt. Und nun scheinen sie die Menschen im Stich zu lassen. Diese politische Verantwortungslosigkeit wird an Tragik nur noch vom Leid der Zivilbevölkerung übertroffen, dessen Ausmaß man erst begreift, wenn man die Bilder und Botschaften in sozialen Netzwerken sieht, wo Betroffene über Bombardements, Hungerblockaden und ihre getöteten Angehörigen berichten.

Oder wenn man sich mit dem deutschen Unicef-Geschäftsführer austauscht. "Was muss eigentlich noch passieren, damit der Krieg in Syrien, nein: der Krieg gegen die Kinder in Syrien endlich aufhört?", sagte mir gestern Christian Schneider. "Er hört einfach nicht auf. Allein in den letzten zwei Tagen, sagen unsere Teams in Syrien, sind in Idlib und dem westlichen Aleppo 28 Jungen und Mädchen ums Leben gekommen. Eine ganze Familie, sieben Menschen, wurde durch die Angriffe ausradiert. Erneut wurden auch von Unicef unterstützte Gesundheitseinrichtungen attackiert. 'Ich kann gar nicht beschreiben, was hier passiert', sagte die zwölfjährige Rand aus Idlib einer unserer Mitarbeiterinnen vor Ort. 'Wir haben weder genug Wasser noch Essen, wir leben in Angst.' In der Heimat des Mädchens droht die nächste große humanitäre Katastrophe Syriens. Dort leben über eine Million Kinder, die wie Rand verängstigt und erschöpft von Jahren des brutalen Krieges sind. Einige von ihnen mussten bis zu sieben Mal fliehen. Doch in Sicherheit sind sie auch jetzt nicht. Bei einer weiteren Eskalation der Gewalt wären die Kinder, wie so oft, die größten Leidtragenden. Wir appellieren dringend an die Kämpfenden und alle, die Einfluss auf sie haben oder in den politischen Prozess involviert sind, dem Schutz von Kindern höchste Priorität zu geben." Das sagte mir Unicef-Chef Schneider und fügte hinzu: "Unterdessen können wir alle etwas tun." Ja, können wir.

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WAS STEHT AN?

Abseits von Wahlkämpfen wird Angela Merkel oft vorgeworfen, sie stelle sich zu selten dem direkten Kontakt mit Bürgern, sie regiere abgehoben in ihrer Blase in Berlin und der großen weiten Weltpolitik. Beim ersten innenpolitischen Auftritt nach ihrem Urlaub tut sie heute etwas dagegen: In Jena lädt die Bundeskanzlerin am Nachmittag zum Bürgerdialog und diskutiert mit Thüringern über die Zukunft Europas. Gut so.

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Wissenschaft ist oft abstrakt. Wir sehen Reagenzgläser, Zahlenkolonnen oder mathematische Formeln, verstehen wenig und ahnen allenfalls ein Quäntchen dessen, was Forscher damit anstellen können. Das Projekt Icarus ist anders. Da genügen schon wenige Zeilen, um auch mich als Laien zu faszinieren. Ich versuche mal, es Ihnen zu erklären: Verhaltensbiologen haben bemerkt, dass manche Tiere vor Naturkatastrophen ein auffälliges Verhalten zeigen. Ziegen am Ätna auf Sizilien bewegen sich seltsam, bevor der Vulkan ausbricht. Papageien in Nicaragua und Bären auf der russischen Halbinsel Kamtschatka benehmen sich vor Erdstößen anders als gewöhnlich. Prima, dachten sich die Wissenschaftler, das können wir uns zunutze machen. Bemerkte man die Signale der Tiere rechtzeitig, könnten Menschen vor einem Ausbruch oder Beben in Sicherheit gebracht werden. Ein tierisches Frühwarnsystem auf der Erde aufzubauen erschien allerdings zu schwierig.

Aber 400 Kilometer über unseren Köpfen, da geht es. Dort zieht die "Internationale Raumstation" (ISS) ihre Bahnen. Und dort hat heute in den frühen Morgenstunden mitteleuropäischer Zeit das Icarus-Experiment begonnen. Auf dessen Höhepunkt werden morgen Abend zwei russische Kosmonauten aus einer Luke klettern und eine neue Antenne an die ISS montieren. Künftig soll diese Antenne die Signale von Mini-Sendern empfangen, mit denen rund um den Globus Ziegen, Papageien, Bären, Zugvögel, Schildkröten und andere Tiere ausgestattet wurden. Eine Software gleicht die Signale ab und schlägt bei auffälligem Verhalten Alarm. So lassen sich bei Naturkatastrophen möglicherweise viele Opfer vermeiden und zugleich der Artenschutz verbessern. Ist Wissenschaft nicht faszinierend?

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WAS LESEN?

Meinungsbeiträge über die Flüchtlingskrise glänzen leider viel zu selten durch Expertise, oft dominieren Plattitüden und Pauschalurteile. Anders beim britischen Ökonomen Paul Collier. Wer das Interview liest, das er der Zeitschrift "Internationale Politik und Gesellschaft" gegeben und das die "Neue Zürcher Zeitung" zusammengefasst hat, kommt gründlich ins Nachdenken. Die Aufnahme von Wirtschaftsflüchtlingen in Europa sei grundfalsch, sagt Collier. "So feiern wir uns selbst als gute Menschen und sind im Grunde zutiefst unethisch. Was Afrika braucht, ist eine Stärkung der Produktion und nicht ein Anrecht auf Konsum. Afrika braucht unsere Almosen nicht, es braucht unsere Unternehmen."

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Auch für Angela Merkel und die anderen europäischen Staatenlenker findet der Wissenschaftler deutliche Worte: "In der Flüchtlingskrise … waren politische Entscheidungsträger am Werk, die ihrem Auftrag nicht nachgekommen sind, langfristig zu denken, was eine vernünftige, auf lange Sicht gute Politik wäre. Stattdessen scheinen sie von Woche zu Woche oder gar von Tag zu Tag auf die Ereignisse reagiert zu haben. Mit kurzfristigen Entscheidungen aufgrund kurzfristiger Ereignisse gerät man immer tiefer in einen Schlamassel. Wir sollten uns endlich fragen: 'Wie sieht eine nachhaltige Politik aus?' Ich glaube, dass wir sehr schnell einen breiten Konsens darüber finden könnten, dem sowohl die Linke wie die Rechte zustimmen könnte." Ein aufschlussreiches Interview.

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"Lass doch mal das Wasser ab." So versucht man normalerweise, den Nachwuchs wieder aus der Badewanne zu bekommen. Aber diesmal ist es der Auftakt zu einem Gedankenexperiment. Denken Sie an den Rhein mit seinen vielen sehenswürdigen Stellen, die Loreley etwa oder den Rheinfall von Schaffhausen. Dann denken Sie sich das Wasser weg, und alles andere darin auch – bis auf das Plastik. Ein dürres, langweiliges Rinnsal schlängelt sich nun bis Koblenz und noch weiter. Doch ab Bonn tut sich langsam etwas, der Fluss schwillt an, bis wir schließlich das unübertroffene Highlight des Plastik-Rheins erreichen, sein Schaffhausen, seine Loreley, alles in einem: Duisburg.

Ganze Berge von Plastik strömen dort in den Fluss. Die vielen Menschen im Ruhrgebiet verfehlen ihre Wirkung nicht, sie sorgen für viele kleine Beiträge: den Abrieb vom Synthetik-Shirts in der Waschmaschine. Den Abrieb der Autoreifen auf den Straßen, vom Regen fortgespült. Natürlich den Müll. Ganz vorn dabei: die Industrie. Zwar sind der Einleitung von Chemikalien schon lange Grenzen gesetzt, aber die Plastikpartikel wurden dabei irgendwie vergessen. Es wird Zeit, das zu ändern. Zwar wird sich niemals mehr Mikroplastik im Meer sammeln, als es Wasser gibt. Aber mehr Plastikmasse als alle Fische zusammengenommen: durchaus. Vielleicht schon 2050. Es wird Zeit, das zu ändern.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Manche Stellen sind schnell zu besetzen, bei anderen gestaltet sich die Kandidatensuche eher zäh. Ich hätte da folgenden Fall: Sie sind verantwortungsbewusst, zuverlässig, ehrlich und praktisch veranlagt. Kurze Probezeit. Unterbringung kostenlos, in einem eigenen, kleinen Häuschen. Auf einer griechischen Insel. Tätigkeit maximal vier Stunden täglich. Ihre Aufgabe: mit Katzen spielen, sie streicheln und versorgen. Ob das wohl jemand machen will?

Wo immer sie gerade sind, ich wünsche Ihnen einen entspannten Tag.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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