Ein sehr groΓer Moment
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Γberblick ΓΌber die Themen des Tages:
WAS WAR?
Turbulente Zeiten erleben wir gerade in Europa. 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs machen sich vielerorts wieder Nationalismus, Chauvinismus und Extremismus breit. Radikale Parteien erstarken, Populisten relativieren die Verbrechen der Naziherrschaft, und aus den schmutzigen Ecken des Internets schwappt uns der Hass auf AuslΓ€nder und Andersdenkende entgegen. Jeder, der sich dieser Bosheit entgegenstellt, verdient Respekt und UnterstΓΌtzung. Man muss das so deutlich sagen, um die Bedeutung des gestrigen Auftritts der PrΓ€sidenten Italiens und Deutschlands zu wΓΌrdigen: In der toskanischen Gemeinde Fivizzano verbanden Sergio Mattarella und die Erinnerung an die Opfer der deutschen Massaker vor 75 Jahren mit dem Appell an die BΓΌrger beider LΓ€nder, sich jeden Tag fΓΌr Toleranz, Gewaltfreiheit und Menschlichkeit einzusetzen.
Es waren Soldaten der 16. SS-Panzergrenadier-Division "ReichsfΓΌhrer SS" unter dem Kommando von SS-SturmbannfΓΌhrer Walter Reder, die damals tagelang in der Region wΓΌteten. Als Rache fΓΌr die Angriffe von Partisanen ermordeten sie in den DΓΆrfern Vinca, Valla, Mommio, Bardine und San Terenzo mehr als 400 Zivilisten β ΓΌberwiegend Frauen, Kinder und Alte. UnterstΓΌtzt wurden sie von italienischen FaschistenverbΓ€nden der "Schwarzen Brigaden".
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Wenn wir das Wort "ermordet" heute lesen, klingt es erschreckend, ist aber nur eine Chiffre, die uns keine genaue Vorstellung von den Taten gibt. Die ist aber wichtig, um wirklich ermessen zu kΓΆnnen, was damals geschah. Walter Reders MΓ€nner erschossen die Menschen nicht einfach, sie quΓ€lten viele zu Tode. Sie fesselten Gefangene an BΓ€ume, PfΓ€hle oder ausrangierte Lkw, indem sie ihnen Stacheldraht um den Hals legten. Dann feuerten sie ihnen in die Beine, sodass die Opfer langsam erdrosselt wurden. Sie warfen Zeitzeugen zufolge Babys in die Luft und schossen diese ab wie Tontauben. Reder selbst saΓ in einer Trattoria in Valla und lieΓ sich vom Wirt Mittagessen servieren, wΓ€hrend seine MΓ€nner auf seinen Befehl hin in der NΓ€he die Ehefrau und die fΓΌnf Kinder des Wirts umbrachten. Bis heute ist die Erinnerung an die unfassbare BrutalitΓ€t und KaltblΓΌtigkeit der deutschen Soldaten in den DΓΆrfern gegenwΓ€rtig. Mein Kollege Marc von LΓΌpke hat die HintergrΓΌnde der deutschen Kriegsverbrechen in Italien hier beschrieben.
Wer sich vergegenwΓ€rtigt, was Deutsche den Italienern und vielen anderen VΓΆlkern damals antaten, kann sich nur schΓ€men. Umso beeindruckender war die Stimmung, mit der der BundesprΓ€sident gestern in Fivizzano empfangen wurde: Da war kein Hass, da ballte keiner die Faust in der Tasche, stattdessen reichten Hunderte Anwohner dem deutschen Staatsoberhaupt die HΓ€nde, beschworen alle Redner die deutsch-italienische Freundschaft. Dicht gedrΓ€ngt standen die Menschen auf der kleinen Piazza und brachen in lauten Applaus aus, als BΓΌrgermeister Gianluigi Fiannetti den gemeinsamen Einsatz fΓΌr Frieden und Demokratie beschwor und rief: "Es lebe Italien! Es lebe Deutschland! Es lebe Europa!"
Es lebe Deutschland β diese Worte aus dem Mund des Oberhaupts einer Gemeinde, in der Deutsche sich wie blutrΓΌnstige HyΓ€nen aufgefΓΌhrt haben: Das war der Moment, in dem ich GΓ€nsehaut bekam und tiefe Dankbarkeit fΓΌr diese groΓe VersΓΆhnungsgeste empfand. Wir Nachgeborenen tragen keine Schuld an den Verbrechen unserer Vorfahren. Aber wir tragen die Verantwortung, dass dergleichen nie wieder geschieht. BundesprΓ€sident Steinmeier, der seine Rede auf Italienisch hielt, erklΓ€rte das so:
"Mit Trauer verneige ich mich vor den Toten der Massaker in Fivizzano. Ich bitte Sie um Vergebung fΓΌr die Verbrechen, die Deutsche hier verΓΌbt haben. Ihnen allen, den Γberlebenden, den Opfern und ihren Nachfahren mΓΆchte ich sagen: Wir Deutsche wissen, welche Verantwortung wir fΓΌr diese Verbrechen tragen. Es ist eine Verantwortung, die keinen Schlussstrich kennt. Sie, die Opfer und ihre Nachfahren, haben ein Recht auf Gedenken und Erinnerung. Sie haben ein Recht darauf, dass auch bei uns in Deutschland bekannt wird, was Ihnen angetan wurde. (β¦) Vergebung und VersΓΆhnung kann man nicht verlangen. Sie kΓΆnnen nur gewΓ€hrt werden. Wir Deutschen sind zutiefst dankbar fΓΌr die Bereitschaft zur VersΓΆhnung und die Freundschaft zwischen unseren beiden LΓ€ndern, die daraus erwachsen ist. (β¦) Wer um die Vergangenheit weiΓ, der wird besser gerΓΌstet sein fΓΌr eine gemeinsame europΓ€ische Zukunft. Wer aber vergisst, ist schwΓ€cher, der wird anfΓ€lliger fΓΌr Intoleranz und Gewalt. Nein, wir dΓΌrfen nicht vergessen. Wir dΓΌrfen nicht vergessen, damit unser Bewusstsein nicht wieder verfΓΌhrt wird und sich verdunkelt." (Einen kurzen Ausschnitt der Rede habe ich gefilmt.)
Italiens StaatsprΓ€sident Mattarella nahm den Faden auf: "Es wΓ€re ein Trugschluss zu glauben, dass diese Verbrechen sich nur ereignen konnten, weil sie in einer anderen Zeit stattfanden. Erst der Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus hat zu unseren demokratischen Verfassungen und der europΓ€ischen Einigung gefΓΌhrt." Er zitierte den italienischen Schriftsteller Primo Levi: "Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen" β und fΓΌgte hinzu: "Es ist unsere Pflicht, das zu verhindern."
Wir neigen ja oft dazu, Politiker fΓΌr alles und jedes zu kritisieren, bei jedem Ereignis das Haar in der Suppe und bei jeder guten Absicht den Hintergedanken zu suchen. Auf dem Marktplatz von Fivizzano war diese Haltung gestern unangebracht. Wer dabei war, erlebte einen sehr groΓen Moment europΓ€ischer VersΓΆhnungskultur, der die konstruktiven und verantwortungsvollen KrΓ€fte in der Gesellschaft stΓ€rkt. Man wird sich noch in Jahren an diesen Moment erinnern.
WAS STEHT AN?
Donald Trump ist eine Pfeife. Heute pfeift er dies in die Welt, morgen das, und ΓΌbermorgen pfeift er dann auf das, was er gestern rausgeblasen hat. Das Wort unberechenbar ist zu klein fΓΌr diesen PrΓ€sidenten, und es ist auch viel zu harmlos. Der Mann hat die Sprunghaftigkeit zur Strategie erhoben: Mit seinem tΓ€glichen Twitter-Gewitter verunsichert er Freund und Feind, schwΓΆrt seinen Opfern erst dicke Freundschaft, droht ihnen dann mit Strafen, und wenn gerade nix los ist, will er halt mal geschwind GrΓΆnland kaufen. So lenkt er die eigene BevΓΆlkerung, aber auch die ganze Welt von seinen UnzulΓ€nglichkeiten ab, so hΓ€lt er den Anschein aufrecht, ein Staatsmann zu sein, wΓ€hrend er in Wahrheit nur ein narzisstischer SchaumschlΓ€ger ist.

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Wie kommt man so einem bei? Wie spricht man mit dem mΓ€chtigsten Mann der Welt, wenn der sich rationaler Logik verschlieΓt? Die meisten Staats- und Regierungschefs der Welt haben auf diese Frage bislang keine Antwort gefunden, auch die nΓΌchterne Angela Merkel weiΓ nicht recht, wie sie mit dem Donald umgehen soll. Emmanuel Macron dagegen hat es rausgefunden. Der Mann, der das mΓΌde Europa jeden zweiten Tag mit einer neuen Initiative belebt und nun den G7-Gipfel in Biarritz ausrichtet, schlΓ€gt Herrn Trump mit seinen eigenen Waffen. Zu bestaunen war diese Taktik gestern Abend: Okay, wenn der Ami uns EuropΓ€er mit stΓ€ndigen Γberraschungen nervt, wenn er mit StrafzΓΆllen droht und den harten Brexit herbeiredet, dann ΓΌberraschen wir ihn doch einfach auch mal! So dachte Herr Macron und lud kurzerhand Irans AuΓenminister Sarif nach Biarritz ein β offenbar ohne Trump vorher zu informieren. Die USA haben das Atomabkommen mit Teheran gekΓΌndigt und rΓΌsten sich fΓΌr eine militΓ€rische Konfrontation, die EuropΓ€er wollen eine Eskalation auf jeden Fall verhindern. Was liegt also nΓ€her, als das Thema zur Chefsache zu machen und den Big Boss aus Washington zu zwingen, sich damit auseinanderzusetzen? Chapeau, das ist ein cleverer Schachzug!
Aber wohin fΓΌhrt er? Vielleicht erfahren wir es heute, wenn die Angela den Donald zum VieraugengesprΓ€ch trifft. Am letzten Gipfeltag soll es um Klimapolitik, den Handelsstreit und sicher auch den Iran gehen. Ist sie clever, denkt sie sich vorher noch rasch eine Γberraschung aus.
Und sonst? Die kΓΌnftige EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen beginnt heute mit der Auswahl ihrer Kommissare. Die SPD stellt ihr Konzept fΓΌr eine VermΓΆgensteuer vor. In der Wahlarena beantworten die sΓ€chsischen Spitzenkandidaten Fragen von BΓΌrgern; der MDR ΓΌbertrΓ€gt ab 20.15 Uhr.
DIE GUTE NACHRICHT
Selten hat eine Tagesanbruch-Ausgabe so viele Reaktionen hervorgerufen wie die vom vergangenen Freitag. Unter dem Titel "Trauer um eine untergegangene Welt" versuchte ich zu ergrΓΌnden, warum so viele Ostdeutsche den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der DDR vermissen und die heutige Bundesrepublik kritisch sehen. Im Forum unter dem Artikel sammelten sich mehr als 2.600 Kommentare und fast 30.000 Reaktionen, Dutzende Leser formulierten in ausfΓΌhrlichen E-Mails ihre Gedanken. "Unser Leben in der DDR war sicher nicht immer einfach, dafΓΌr aber von gegenseitiger Achtung und Hilfe geprΓ€gt", schrieb mir eine Leserin aus Cottbus. Aber auch Westdeutsche Γ€uΓerten VerstΓ€ndnis fΓΌr den Frust vieler BΓΌrger in den neuen BundeslΓ€ndern. "Man hat den Menschen im Osten ein StΓΌck Vergangenheit genommen. Es ist alles so glatt, ohne Ecken und Kanten, geworden", meinte ein Leser aus dem Saarland. "Ich wΓΌnsche uns, das alles wieder etwas menschlicher, herzlicher wird". Andere merkten an, dass sich das ΓΆffentliche Leben auch im Westen stark verΓ€ndert habe, auch dort wΓΌrden viele Menschen heutzutage SolidaritΓ€t und gute Nachbarschaft, aber auch WertschΓ€tzung durch vertrauenswΓΌrdige Politiker vermissen.
Nicht alle diese Zuschriften kann ich persΓΆnlich beantworten, aber ich habe sie alle gelesen, bedanke mich herzlich dafΓΌr und nehme sie als Ansporn, gemeinsam mit meinen Kollegen noch intensiver hinzuschauen und hinzuhΓΆren, was BΓΌrger in den verschiedenen Regionen unseres Landes denken, fΓΌhlen, sagen. Man kann nΓ€mlich sehr viel daraus lernen. Das ist eine gute Nachricht, finde ich.
WAS LESEN?
Noch sechs Tage bis zu den Landtagswahlen. In Brandenburg dΓΌrfte die Regierungsbildung wegen der absehbaren Zugewinne fΓΌr die AfD besonders schwierig werden. Der CDU-Landeschef Ingo Senftleben will endlich an die Macht und schlieΓt nun sogar eine Koalition mit der Linken nicht mehr aus. Es wΓ€re eine politische Revolution fΓΌr Deutschland, analysiert mein Kollege Johannes Bebermeier.
WAS AMΓSIERT MICH?
Diese G7-Gipfel sind doch wirklich eine super sinnvolle Sache β oder β¦?
Ich wΓΌnsche Ihnen einen produktiven Wochenbeginn. Herzliche GrΓΌΓe
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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