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Italien: Steinmeier bittet 75 Jahre nach Massaker in Fivizzano um Vergebung


Was heute wichtig ist
Ein sehr großer Moment

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.08.2019Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Bürger von Fivizzano begrüßen die Präsidenten Mattarella und Steinmeier.Vergrößern des Bildes
Bürger von Fivizzano begrüßen die Präsidenten Mattarella und Steinmeier. (Quelle: Florian Harms)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Turbulente Zeiten erleben wir gerade in Europa. 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs machen sich vielerorts wieder Nationalismus, Chauvinismus und Extremismus breit. Radikale Parteien erstarken, Populisten relativieren die Verbrechen der Naziherrschaft, und aus den schmutzigen Ecken des Internets schwappt uns der Hass auf Ausländer und Andersdenkende entgegen. Jeder, der sich dieser Bosheit entgegenstellt, verdient Respekt und Unterstützung. Man muss das so deutlich sagen, um die Bedeutung des gestrigen Auftritts der Präsidenten Italiens und Deutschlands zu würdigen: In der toskanischen Gemeinde Fivizzano verbanden Sergio Mattarella und die Erinnerung an die Opfer der deutschen Massaker vor 75 Jahren mit dem Appell an die Bürger beider Länder, sich jeden Tag für Toleranz, Gewaltfreiheit und Menschlichkeit einzusetzen.

Es waren Soldaten der 16. SS-Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS" unter dem Kommando von SS-Sturmbannführer Walter Reder, die damals tagelang in der Region wüteten. Als Rache für die Angriffe von Partisanen ermordeten sie in den Dörfern Vinca, Valla, Mommio, Bardine und San Terenzo mehr als 400 Zivilisten – überwiegend Frauen, Kinder und Alte. Unterstützt wurden sie von italienischen Faschistenverbänden der "Schwarzen Brigaden".

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Wenn wir das Wort "ermordet" heute lesen, klingt es erschreckend, ist aber nur eine Chiffre, die uns keine genaue Vorstellung von den Taten gibt. Die ist aber wichtig, um wirklich ermessen zu können, was damals geschah. Walter Reders Männer erschossen die Menschen nicht einfach, sie quälten viele zu Tode. Sie fesselten Gefangene an Bäume, Pfähle oder ausrangierte Lkw, indem sie ihnen Stacheldraht um den Hals legten. Dann feuerten sie ihnen in die Beine, sodass die Opfer langsam erdrosselt wurden. Sie warfen Zeitzeugen zufolge Babys in die Luft und schossen diese ab wie Tontauben. Reder selbst saß in einer Trattoria in Valla und ließ sich vom Wirt Mittagessen servieren, während seine Männer auf seinen Befehl hin in der Nähe die Ehefrau und die fünf Kinder des Wirts umbrachten. Bis heute ist die Erinnerung an die unfassbare Brutalität und Kaltblütigkeit der deutschen Soldaten in den Dörfern gegenwärtig. Mein Kollege Marc von Lüpke hat die Hintergründe der deutschen Kriegsverbrechen in Italien hier beschrieben.

Wer sich vergegenwärtigt, was Deutsche den Italienern und vielen anderen Völkern damals antaten, kann sich nur schämen. Umso beeindruckender war die Stimmung, mit der der Bundespräsident gestern in Fivizzano empfangen wurde: Da war kein Hass, da ballte keiner die Faust in der Tasche, stattdessen reichten Hunderte Anwohner dem deutschen Staatsoberhaupt die Hände, beschworen alle Redner die deutsch-italienische Freundschaft. Dicht gedrängt standen die Menschen auf der kleinen Piazza und brachen in lauten Applaus aus, als Bürgermeister Gianluigi Fiannetti den gemeinsamen Einsatz für Frieden und Demokratie beschwor und rief: "Es lebe Italien! Es lebe Deutschland! Es lebe Europa!"

Es lebe Deutschland – diese Worte aus dem Mund des Oberhaupts einer Gemeinde, in der Deutsche sich wie blutrünstige Hyänen aufgeführt haben: Das war der Moment, in dem ich Gänsehaut bekam und tiefe Dankbarkeit für diese große Versöhnungsgeste empfand. Wir Nachgeborenen tragen keine Schuld an den Verbrechen unserer Vorfahren. Aber wir tragen die Verantwortung, dass dergleichen nie wieder geschieht. Bundespräsident Steinmeier, der seine Rede auf Italienisch hielt, erklärte das so:

"Mit Trauer verneige ich mich vor den Toten der Massaker in Fivizzano. Ich bitte Sie um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier verübt haben. Ihnen allen, den Überlebenden, den Opfern und ihren Nachfahren möchte ich sagen: Wir Deutsche wissen, welche Verantwortung wir für diese Verbrechen tragen. Es ist eine Verantwortung, die keinen Schlussstrich kennt. Sie, die Opfer und ihre Nachfahren, haben ein Recht auf Gedenken und Erinnerung. Sie haben ein Recht darauf, dass auch bei uns in Deutschland bekannt wird, was Ihnen angetan wurde. (…) Vergebung und Versöhnung kann man nicht verlangen. Sie können nur gewährt werden. Wir Deutschen sind zutiefst dankbar für die Bereitschaft zur Versöhnung und die Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern, die daraus erwachsen ist. (…) Wer um die Vergangenheit weiß, der wird besser gerüstet sein für eine gemeinsame europäische Zukunft. Wer aber vergisst, ist schwächer, der wird anfälliger für Intoleranz und Gewalt. Nein, wir dürfen nicht vergessen. Wir dürfen nicht vergessen, damit unser Bewusstsein nicht wieder verführt wird und sich verdunkelt." (Einen kurzen Ausschnitt der Rede habe ich gefilmt.)

Italiens Staatspräsident Mattarella nahm den Faden auf: "Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass diese Verbrechen sich nur ereignen konnten, weil sie in einer anderen Zeit stattfanden. Erst der Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus hat zu unseren demokratischen Verfassungen und der europäischen Einigung geführt." Er zitierte den italienischen Schriftsteller Primo Levi: "Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen" – und fügte hinzu: "Es ist unsere Pflicht, das zu verhindern."

Wir neigen ja oft dazu, Politiker für alles und jedes zu kritisieren, bei jedem Ereignis das Haar in der Suppe und bei jeder guten Absicht den Hintergedanken zu suchen. Auf dem Marktplatz von Fivizzano war diese Haltung gestern unangebracht. Wer dabei war, erlebte einen sehr großen Moment europäischer Versöhnungskultur, der die konstruktiven und verantwortungsvollen Kräfte in der Gesellschaft stärkt. Man wird sich noch in Jahren an diesen Moment erinnern.


WAS STEHT AN?

Donald Trump ist eine Pfeife. Heute pfeift er dies in die Welt, morgen das, und übermorgen pfeift er dann auf das, was er gestern rausgeblasen hat. Das Wort unberechenbar ist zu klein für diesen Präsidenten, und es ist auch viel zu harmlos. Der Mann hat die Sprunghaftigkeit zur Strategie erhoben: Mit seinem täglichen Twitter-Gewitter verunsichert er Freund und Feind, schwört seinen Opfern erst dicke Freundschaft, droht ihnen dann mit Strafen, und wenn gerade nix los ist, will er halt mal geschwind Grönland kaufen. So lenkt er die eigene Bevölkerung, aber auch die ganze Welt von seinen Unzulänglichkeiten ab, so hält er den Anschein aufrecht, ein Staatsmann zu sein, während er in Wahrheit nur ein narzisstischer Schaumschläger ist.

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Wie kommt man so einem bei? Wie spricht man mit dem mächtigsten Mann der Welt, wenn der sich rationaler Logik verschließt? Die meisten Staats- und Regierungschefs der Welt haben auf diese Frage bislang keine Antwort gefunden, auch die nüchterne Angela Merkel weiß nicht recht, wie sie mit dem Donald umgehen soll. Emmanuel Macron dagegen hat es rausgefunden. Der Mann, der das müde Europa jeden zweiten Tag mit einer neuen Initiative belebt und nun den G7-Gipfel in Biarritz ausrichtet, schlägt Herrn Trump mit seinen eigenen Waffen. Zu bestaunen war diese Taktik gestern Abend: Okay, wenn der Ami uns Europäer mit ständigen Überraschungen nervt, wenn er mit Strafzöllen droht und den harten Brexit herbeiredet, dann überraschen wir ihn doch einfach auch mal! So dachte Herr Macron und lud kurzerhand Irans Außenminister Sarif nach Biarritz ein – offenbar ohne Trump vorher zu informieren. Die USA haben das Atomabkommen mit Teheran gekündigt und rüsten sich für eine militärische Konfrontation, die Europäer wollen eine Eskalation auf jeden Fall verhindern. Was liegt also näher, als das Thema zur Chefsache zu machen und den Big Boss aus Washington zu zwingen, sich damit auseinanderzusetzen? Chapeau, das ist ein cleverer Schachzug!

Aber wohin führt er? Vielleicht erfahren wir es heute, wenn die Angela den Donald zum Vieraugengespräch trifft. Am letzten Gipfeltag soll es um Klimapolitik, den Handelsstreit und sicher auch den Iran gehen. Ist sie clever, denkt sie sich vorher noch rasch eine Überraschung aus.


Und sonst? Die künftige EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen beginnt heute mit der Auswahl ihrer Kommissare. Die SPD stellt ihr Konzept für eine Vermögensteuer vor. In der Wahlarena beantworten die sächsischen Spitzenkandidaten Fragen von Bürgern; der MDR überträgt ab 20.15 Uhr.


DIE GUTE NACHRICHT

Selten hat eine Tagesanbruch-Ausgabe so viele Reaktionen hervorgerufen wie die vom vergangenen Freitag. Unter dem Titel "Trauer um eine untergegangene Welt" versuchte ich zu ergründen, warum so viele Ostdeutsche den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der DDR vermissen und die heutige Bundesrepublik kritisch sehen. Im Forum unter dem Artikel sammelten sich mehr als 2.600 Kommentare und fast 30.000 Reaktionen, Dutzende Leser formulierten in ausführlichen E-Mails ihre Gedanken. "Unser Leben in der DDR war sicher nicht immer einfach, dafür aber von gegenseitiger Achtung und Hilfe geprägt", schrieb mir eine Leserin aus Cottbus. Aber auch Westdeutsche äußerten Verständnis für den Frust vieler Bürger in den neuen Bundesländern. "Man hat den Menschen im Osten ein Stück Vergangenheit genommen. Es ist alles so glatt, ohne Ecken und Kanten, geworden", meinte ein Leser aus dem Saarland. "Ich wünsche uns, das alles wieder etwas menschlicher, herzlicher wird". Andere merkten an, dass sich das öffentliche Leben auch im Westen stark verändert habe, auch dort würden viele Menschen heutzutage Solidarität und gute Nachbarschaft, aber auch Wertschätzung durch vertrauenswürdige Politiker vermissen.

Nicht alle diese Zuschriften kann ich persönlich beantworten, aber ich habe sie alle gelesen, bedanke mich herzlich dafür und nehme sie als Ansporn, gemeinsam mit meinen Kollegen noch intensiver hinzuschauen und hinzuhören, was Bürger in den verschiedenen Regionen unseres Landes denken, fühlen, sagen. Man kann nämlich sehr viel daraus lernen. Das ist eine gute Nachricht, finde ich.


WAS LESEN?

Noch sechs Tage bis zu den Landtagswahlen. In Brandenburg dürfte die Regierungsbildung wegen der absehbaren Zugewinne für die AfD besonders schwierig werden. Der CDU-Landeschef Ingo Senftleben will endlich an die Macht und schließt nun sogar eine Koalition mit der Linken nicht mehr aus. Es wäre eine politische Revolution für Deutschland, analysiert mein Kollege Johannes Bebermeier.



WAS AMÜSIERT MICH?

Diese G7-Gipfel sind doch wirklich eine super sinnvolle Sache – oder …?

Ich wünsche Ihnen einen produktiven Wochenbeginn. Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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