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Überlebende des Holocausts: Diese Gesichter können Geschichten erzählen


Tagesanbruch
Diese Menschen haben uns etwas zu sagen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 22.01.2020Lesedauer: 6 Min.
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In der Ausstellung "Survivors" in Essen zeigt der Fotograf Martin Schoeller Bilder von Überlebenden des Holocausts.Vergrößern des Bildes
In der Ausstellung "Survivors" in Essen zeigt der Fotograf Martin Schoeller Bilder von Überlebenden des Holocausts. (Quelle: Martin Schoeller)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Gesichter können Geschichten erzählen. Gestern hatten wir gleich mehrere Gelegenheiten, in solche Gesichter zu blicken. Wir sahen das Gesicht des Herrn mit den rosigen Wangen, der ins verschneite Davos gejettet war, um den anderen Milliardären, Staatschefs, Firmenbossen und sonstigen hohen Tieren zu berichten, wie großartig er sei. "Amerika wächst und gedeiht, Amerika gewinnt wieder wie niemals zuvor! Der größte Boom! Die gerechteste Wirtschaft! Die sauberste Luft!", verkündete der Herr mit den rosigen Wangen und blickte selbstgefällig ins Publikum. Hob die Brauen, kniff die Augen zusammen, spitzte die Lippen und brandmarkte Klimaaktivisten als "Untergangspropheten" und "Schwarzseher". Ein Wahlkampfmonolog für die amerikanischen Fernsehzuschauer, keine Inspiration für das Publikum in den Schweizer Bergen. "Das war die schlechteste Rede, die ich in meinem Leben gehört habe", unkte Grünen-Chef Robert Habeck. Auch US-Ökonomen warnen: Das derzeitige Wachstum in den Vereinigten Staaten ist vor allem auf den riskanten Anstieg der privaten Verschuldung zurückzuführen.

Dann sahen wir in das Gesicht des 17-jährigen Mädchens mit dem langen Zopf, das ebenfalls in den Alpenort geeilt war, allerdings im Zug. "Unser Haus brennt noch immer. Eure Untätigkeit heizt die Flammen stündlich an", tadelte sie das Auditorium. Hob die Brauen, kniff die Augen zusammen, fixierte ihre Gegenüber und schärfte ihnen ein: "Wir sagen euch immer noch, dass ihr in Panik geraten sollt." Eine Mahnung, eine verbale Backpfeife.

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Zwei Gesichter, zwei Geschichten, zwei Weltsichten. Sie prallen aufeinander, sie passen nicht zusammen, sie lassen kaum Raum für einen Dialog. Wenn sich öffentliche Debatten darin erschöpfen, dass selbst ernannte Supermänner und beseelte Aktivisten ihre Epistel verkünden, dann kommen wir nicht weiter. Sicher, wir brauchen Weckrufe, um die schädlichen Routinen unserer Verbrennungswirtschaft endlich zu korrigieren. Klar, wir brauchen auch Optimismus, der uns aus unserer gelegentlichen Sauertöpfigkeit reißt. Aber ohne die Bereitschaft zum Ausgleich und zum Kompromiss werden wir die großen Herausforderungen unserer Zeit nicht bewältigen können, weder bei einem elitären Stelldichein wie dem Weltwirtschaftsforum noch in unserem deutschen Politikalltag noch sonst wo. Sei es die Klimakrise, die wachsende Weltbevölkerung, die Migration oder die Kluft zwischen Arm und Reich: Lösungen finden wir nur, wenn wir miteinander statt übereinander reden.


WAS STEHT AN?

Gesichter können Geschichten erzählen – und zwar sehr viel eindrucksvollere als jene im Scheinwerferlicht von Davos. Der Fotograf Martin Schoeller hat 75 dieser Gesichter fotografiert, eine Ausstellung in Essen zeigt seine Bilder ab heute. Anlass ist ein Jahrestag: Am Montag vor 75 Jahren befreite die Rote Armee die noch lebenden Opfer des Vernichtungslagers Auschwitz. Mehr als 1,1 Millionen Menschen hatten die Nazis dort ermordet, überwiegend Juden. In dieser und in der kommenden Woche reiht sich eine Gedenkveranstaltung an die nächste, der Bundespräsident fliegt heute nach Israel, um an einer Konferenz in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem teilzunehmen: Politiker aus 40 Ländern diskutieren dort über Mittel und Wege gegen den grassierenden Antisemitismus in der Welt. Frank-Walter Steinmeier hält ebenso eine Rede wie der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin.

Was wie Routine klingen mag, ist es überhaupt nicht. Auch 75 Jahre nach dem Ende des deutschen Terrorregimes hören viele Menschen in Israel sehr genau hin, was ein deutsches Staatsoberhaupt zum Holocaust sagt – und wie es das sagt. Auch hierzulande sollten wir das tun. Deshalb begleitet mein Kollege Tim Kummert den Bundespräsidenten nach Jerusalem und wird für Sie berichten. Vorher aber bitte ich Sie, einen Augenblick in die Gesichter von einigen der Holocaust-Überlebenden zu schauen, die der Fotograf Martin Schoeller porträtiert hat. Vielleicht erblicken Sie darin ja ebenfalls Geschichten:

Hannah Goslar-Pick wurde 1928 in Berlin geboren. Zusammen mit ihrer Familie zog sie nach Amsterdam. Von dort wurde die Familie erst in das Durchgangslager Westerbork und später in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert. Heute sagt sie: "Alle Menschen sind als Ebenbilder Gottes geschaffen worden. Wir sind alle gleich. Ungeachtet der Hautfarbe oder der Religion sollten wir in Frieden zusammenleben. Das ist sehr schwierig, ich weiß, aber wir sollten uns stärker anstrengen, miteinander auszukommen."

Naftali Fürst wurde 1932 in Bratislava geboren. Die Nazis verschleppten ihn mitsamt seiner Familie in das Konzentrationslager Sered, später ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und dann auf einen Todesmarsch ins KZ Buchenwald. Heute sagt er: "Projekte des Gedenkens wie diese Ausstellung sind so wichtig. Wer noch in der Lage ist, seine Geschichte zu erzählen, sollte dies unbedingt tun. Im Namen der ermordeten Männer, Frauen und Kinder ist es unsere Verpflichtung, immer wieder unsere Lebensgeschichten zu erzählen."

Artemis Meron wurde 1928 im griechischen Ioannina geboren. Die Nazis verschleppten sie ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Sie hat überlebt.

Marta Wise wurde 1934 in Bratislava geboren. Die Nazis deportierten sie erst ins Konzentrationslager Sered und später ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Heute sagt sie: "Wir Juden müssen immer wachsam sein – und stolz darauf, wer wir sind. Weil wir das Volk sind, das überlebt hat. Sie (die Nazis) sind Monster, die das menschliche Leben nicht wertschätzten und Millionen ermordeten."

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Avraham Ben-Hador wurde 1927 in Plovdiv in Bulgarien geboren. Die bulgarische Regierung kollaborierte mit Nazi-Deutschland und erließ Rassengesetze gegen die jüdische Bevölkerung, unter denen auch Avraham und seine Familie litten. Er hat sie überlebt.

Moshe Trossman wurde 1932 in Rokitna geboren, das damals zu Polen gehörte und heute in der Ukraine liegt. Mit seiner Familie lebte er im Getto, vor dessen Räumung konnte die Familie fliehen. Auf der Flucht wurde Moshe Trossman angeschossen und versteckte sich im Wald. Später schloss er sich einer Partisanengruppe an. Heute sagt er: "Wir dürfen niemals vergessen, was geschehen ist. Wir müssen fortfahren, unsere Geschichten zu erzählen, damit die Welt sie kennt und sich erinnert, was wir durchgemacht haben. Wir müssen uns an die Opfer des Holocausts erinnern – ganze Familien, Männer, Frauen und Kinder –, die nur deshalb ermordet wurden, weil sie Juden waren."

Aliza Landau wurde 1938 im polnischen Ruda Pabianicka geboren. Nachdem ihrer Familie die Flucht aus dem Getto von Lodz gelungen war, lebte sie in verschiedenen Verstecken. Aliza Landau wurde von Christen aufgenommen, die ihr Leben retteten.

Sieben Menschen, die den Terror der Nazis überlebt haben. Die uns daran erinnern, dass es keinen Schlussstrich unter diesem Menschheitsverbrechen geben kann. Dass es unser aller Verantwortung ist, dafür zu sorgen, dass dergleichen nie wieder geschieht. In jedem Land, an jedem Ort, erst recht in Deutschland. Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassenwahn dürfen unsere Gesellschaft nicht vergiften, und wer den Hass schürt, muss jederzeit mit dem Widerstand des Staates und der anständigen Bürger rechnen. Auch das können wir sehen, wenn wir in diese Gesichter blicken.

Welche Formen der Erinnerungskultur halten Sie für sinnvoll? In unserer Leserdebatte können Sie darüber heute diskutieren.


Im Parlament in Athen wird heute wohl erstmals eine Frau zum griechischen Staatsoberhaupt gewählt. Ekaterini Sakellaropoulou heißt sie, ist 63 Jahre jung und gilt als progressiv, vor allem in Umweltfragen – wenngleich sie nur repräsentative Aufgaben übernimmt.

Die EU-Kommission plant eine Konferenz zur Zukunft Europas, die binnen zwei Jahren Reformvorschläge für die EU erarbeiten soll. Heute erfahren wir mehr zum Ablauf.

Im Prozess gegen den früheren Hollywood-Mogul Harvey Weinstein in New York sind heute die Auftaktplädoyers geplant. Mehr als 80 Frauen haben dem heute 67-Jährigen sexuelle Übergriffe vorgeworfen, damit nahm die #MeToo-Bewegung ihren Anfang.

Bundeskanzlerin Merkel empfängt heute – tärää! – Abordnungen mit "Prinzenpaaren" aus den gut gelaunten Bundesländern und bekommt den Karnevalsorden verliehen. Alle anderen Bundesländer sind natürlich auch ohne Karneval/Fasnacht/Fasching/sonstiges Gedöns gut drauf.


WAS LESEN?

Das eine ist, dass die AfD wie alle anderen Parteien behandelt werden will. Das andere ist, dass die AfD aufgrund der Hetzreden mancher Funktionäre attraktiv für Rechtsextremisten ist – und offenbar auch für Terroristen: Der mutmaßliche Mörder des hessischen Kommunalpolitikers Walter Lübcke hat offenbar Werbung für die AfD gemacht, haben die Kollegen des NDR recherchiert. Wann begreift der Verfassungsschutz, dass diese Partei flächendeckend überwacht werden muss?


Auch im Fußball ist Rassismus ein Krebsgeschwür. Der jamaikanische Bundesliga-Spieler Leon Bailey kann ein Lied davon singen. Meinem Kollegen Benjamin Zurmühl hat er erklärt, wie er darauf reagiert.


Während Donald Trump in der Schweiz auf der Bühne steht, wird in Washington hinter den Kulissen erbittert um den Amtsenthebungsprozess gegen den Präsidenten gefeilscht. Unser US-Korrespondent Fabian Reinbold hat sich umgehört.


WAS AMÜSIERT MICH?

Oh, was hat denn der Sender NTV da während der Trump-Rede in den roten Streifen geschrieben?

Ich wünsche Ihnen einen engagierten Tag. Morgen schreibt mein Kollege Peter Schink den Tagesanbruch, mich lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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