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Wieso ist das Coronavirus gefährlich – riskanter Ruf nach Exit-Strategie


Meinung
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Was heute wichtig ist
Der riskante Ruf nach der Exit-Strategie

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 01.04.2020Lesedauer: 8 Min.
Flughafen Köln: Rettungskräfte der fliegenden Intensivstation der Bundeswehr sind aus Bergamo zurückgekehrt.Vergrößern des Bildes
Flughafen Köln: Rettungskräfte der fliegenden Intensivstation der Bundeswehr sind aus Bergamo zurückgekehrt. (Quelle: Kevin Schrief/Luftwaffe/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages, am 31.03.2020:

WAS WAR?

Wie kommen wir da wieder raus? Noch bevor Deutschland von der größten Corona-Welle heimgesucht worden ist, erheben jene ihre Stimmen, die den Schaden der Kontaktsperre beklagen und das Ende der Ausgangsregeln spätestens Ende April verlangen. "Mit jeder weiteren Woche werden irreparable Schäden für unsere Wirtschaft entstehen", warnt Wolfgang Reitzle, Aufsichtsratschef von Continental und Linde. "Viele kleinere Firmen werden sterben und nicht mehr wiederzubeleben sein. Aber auch Konzerne sind bedroht." Bayerns Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger raunt: "Wir halten das natürlich nicht monatelang durch … weil das die Wirtschaft so abwürgt, dass wir am Ende mehr Tote hätten, weil die Grundversorgung nicht mehr funktioniert, als wenn wir sagen, irgendwann ab Mitte April müssen wir raus aus der Nummer". Zwei Stimmen, die für viele andere sprechen: Wer in die deutsche Wirtschaft hineinhorcht, vernimmt ein ungeduldiges Rumoren – nur trauen sich die meisten Chefs noch nicht, ihrem Groll öffentlich Luft zu machen.

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Die Sorge der Wirtschaftsbosse um ihr Geschäft, ihre Investitionen und ihre Mitarbeiter ist verständlich – aber der Druck kommt zu früh. Er blendet aus, in welch prekäre Lage Deutschland geraten kann, falls die Kontaktsperre zu früh gelockert wird und das Virus sich ungebremst verbreitet. Die Todesfälle in den Altersheimen in Herborn und Wolfsburg wären dann nur das Menetekel einer noch viel größeren Sterbewelle. Um zu erahnen, was da auf uns zukäme, müssen wir nur über die Grenze ins Elsass schauen. Weil dort bereits so viele Menschen an Covid-19 erkrankt sind, fehlt es unseren französischen Nachbarn an allem: Intensivbetten, Beatmungsgeräten, Fachpflegern, Schutzmaterial. Erkrankte Senioren werden nicht mehr beatmet, man fährt sie noch nicht einmal mehr ins Krankenhaus. Stattdessen bekommen sie Opiate gereicht, um ihnen den Tod erträglicher zu machen. Präsident Macron hat über das ganze Land eine strikte Ausgangssperre verhängt: Vor die Tür dürfen Bürger nur noch mit Passierschein, eine Stunde pro Tag, maximal einen Kilometer im Umkreis ihrer Wohnung. Parks und Wälder sind tabu. Ein Szenario wie aus einem apokalyptischen Krimi. Im Vergleich dazu sind die deutschen Regeln seicht und die Gesundheitsversorgung hierzulande geradezu luxuriös – noch.

Wieso ist das Coronavirus so gefährlich?


Wer nicht will, dass sich das schon bald ändert, der hält sich jetzt strikt an die Ausgangsbeschränkungen und redet die Lage nicht schöner, als sie ist. Der akzeptiert, warum das Coronavirus so gefährlich ist: Erstens ist es neu und noch kaum erforscht. Deshalb gibt es zweitens noch keine erprobten Therapien. Drittens ist es ansteckender als die Grippe. Viertens führt es häufiger zu gravierenden Krankheitsverläufen, weil es – anders als die Grippe – im Falle einer Lungenentzündung meist beide Lungenflügel befällt. Fünftens gibt es bislang keinen Impfstoff.

Selbst wenn es sich anders anfühlen mag, selbst wenn man sich daheim langweilt und genervt von Homeoffice, Kindergehopse oder fehlender Abwechslung ist, selbst wenn Beschwichtigungsredner im Fernsehen, im Internet oder am Küchentisch anderes behaupten: Dieses Virus ist hochgefährlich, und es verbreitet sich immer noch viel zu schnell. Schon mehr als 65.000 Bundesbürger sind infiziert, alle fünf Tage verdoppelt sich die Zahl. Sie muss auf mindestens 10, besser 14 Tage gedehnt werden, andernfalls stünde auch unser Gesundheitssystem bald vor dem Kollaps – so wie im Elsass, so wie in Oberitalien, so wie in Spanien, so wie in New York.

Deshalb ist der Appell der Bundes- und der Landesregierungen richtig: zu Hause bleiben. Nur für nötige Einkäufe, Arztbesuche oder gelegentliche Spaziergänge aus dem Haus gehen. Deshalb ist es auch hinnehmbar, dass die Bundesregierung noch keine Exit-Strategie hat, wie sie nun immer mehr Wirtschaftsvertreter fordern. Die Strategie kann gegenwärtig nur eine Taktik sein: Täglich die Lage beobachten und auf Sicht fahren. Gut möglich, dass nach der Videokonferenz der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten am Mittwoch die Regeln weiter verschärft werden – etwa durch die Vorschrift, außerhalb der eigenen Wohnung einen Mundschutz zu tragen, wie es in Österreich schon der Fall ist. Gut möglich aber auch, dass die Bundesregierung bis Ostern wartet, ehe sie schärfere Regeln erlässt – oder eben die Ausgangsbeschränkungen lockert. Nur das steht gegenwärtig fest: Nach Ostern will das Kabinett den Effekt der bisherigen Maßnahmen bewerten. Erst dann sei absehbar, ob sich die Infektionsketten unterbrechen lassen.

Die Zeit bis dahin nutzen die Behörden, um zusätzliche Krankenhausbetten aufzustellen – in mehreren Bundesländern sollen dafür auch Hotels in Not-Hospitäler umgewandelt werden. Sogenannte "Kontakt-Teams" aus Tausenden von Helfern versuchen bei jedem gemeldeten Corona-Infizierten, sämtliche Kontaktpersonen zu identifizieren. Aufgrund des strikten deutschen Datenschutzes braucht es dafür – anders als in Südkorea, Singapur oder Taiwanpro Infiziertem fünf Helfer und drei bis vier Tage Zeit. Eine Mammutaufgabe.

Nicht erfasst werden dabei jene Menschen, die sich unwissentlich infiziert haben, aber keine Symptome aufweisen. Das kann beispielsweise beim Kurzkontakt mit einem Corona-Erkrankten im Supermarkt oder beim Joggen passieren. Wer sich ansteckt, aber nicht erkrankt, noch nicht einmal leichte Symptome bekommt, ist dennoch fortan immun gegen das Coronavirus. Mediziner sprechen von der "stillen Feiung". Mehr als 40 Prozent der Infizierten zählen vermutlich zum Heer dieser Glücklichen. Ließen sich in ihrem Blut die Antikörper nachweisen, könnten sie sich sofort wieder ins Leben stürzen, ins Büro zurückkehren, die Wirtschaft ankurbeln. Leider gibt es diesen Test noch nicht – allerdings einen ersten Vorläufer. Seine Erprobung braucht noch Zeit, ebenso wie die Forschung an einem Impfstoff.

All das sollte man wissen, bevor man ein schnelles Ende der Kontaktsperre fordert. "Über das Ende zu entscheiden, ist noch schwieriger als die Entscheidung über den Anfang des Ausnahmezustandes", schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl. Wie recht er damit hat.


Die Sorge der Bundesregierung um die Gesundheit der Bevölkerung deckt sich mit den Sorgen der Bürger. Zu Recht bereiten aber auch die wirtschaftlichen Folgen vielen Menschen Kopfzerbrechen. Der Sachverständigenrat der Regierung hat ein Gutachten zur Corona-Krise geschrieben und darin drei mögliche Szenarien skizziert:

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Szenario 1 (blau) geht davon aus, dass die Kontaktsperre Ende April aufgehoben wird und sich die wirtschaftliche Lage im Sommer normalisiert. Der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) läge dann im Gesamtjahr bei minus 2,8 Prozent, die Linie würde wie ein V verlaufen: So schnell, wie der Einbruch kam, ginge es auch wieder bergauf. Schon im kommenden Jahr wüchse die Wirtschaft wieder kräftig.

Im Szenario 2 (orange) verliefe die Linie in Form eines gedehnten V. Im Gesamtjahr würde das BIP deutlich schrumpfen: minus 5,4 Prozent. Auch hier ginge es 2021 wieder ordentlich bergauf. Dieses Szenario könnte eintreten, würden die Ausgangsbeschränkungen auch nach April aufrechterhalten.

Sollten die Regeln sogar über den Sommer hinaus notwendig sein, könnte Szenario 3 (schwarz) eintreten. Dann entspräche die Linie dem gefürchteten langen U. Dann würden selbst die vielen Hilfsmilliarden verpuffen, Deutschlands Wirtschaftsstruktur erlitte nachhaltigen Schaden. Insolvenzen, Massenentlassungen und Armut wären wohl die Folge.

Das will keiner. Deshalb ist es so wichtig, dass die Bundesregierung umsichtig vorgeht. Und dass wirklich alle Bürger jetzt die Kontaktsperre einhalten – damit diese eben in nicht allzu ferner Zukunft vorsichtig gelockert werden kann.


WAS STEHT AN?

Eine Gemeinsamkeit hat die Wirtschaftskrise mit der neuen Krankheit: Sie ist schlimmer als gedacht. Die Wirtschaftszahlen aus China fallen mit jedem Update schlechter aus. Dem Rest der Welt muss das als Warnung dienen: Malt euch aus, wie schnell es abwärts geht – und dann schlagt noch kräftig was drauf. Immerhin hat sich die Erkenntnis, dass uns ein Einschnitt historischen Ausmaßes erwartet, schneller durchgesetzt als die Einsicht, dass das Virus weltweit wütet. Anders als bei Viren weiß die Politik beim Geld schon seit der letzten Finanzkrise, wie wichtig sofortiges Handeln ist. Wie hart Zögern bestraft wird. Daher überschlagen sich die Regierungen weltweit nun mit ihren Rettungspaketen: 37 Milliarden! 156 Milliarden! 600 Milliarden! All die Summen werden kaum genügen, aber sie sind ein Anfang.

Der Hammerschlag, den Covid-19 gegen unser Leben und Arbeiten geführt hat, zeigt: Unsere Art zu wirtschaften macht uns verwundbar. Lieferketten sind global vernetzt, produziert wird hier und da, montiert wird dort. Fallen im einen Land Kapazitäten aus, findet sich Ersatz anderswo. Doch je weiter sich das Coronavirus verbreitet, desto mehr stößt diese Strategie an ihre Grenzen. Falls China tatsächlich bald in alter Stärke an die Werkbank zurückkehrt, mag das manchen Lieferengpass überwinden. Klar ist aber auch: Peking startet damit ein riskantes Experiment. Vielleicht gelingt es, vielleicht steht aber auch schon auf der nächsten Ereigniskarte: Gehe zurück zur Badstraße. Gehe nicht über Los. Ziehe nicht 4.000 Mark ein. Mach den ganzen Schlamassel noch mal durch.

Bis jetzt wird der Einbruch in der weltweiten Produktion vor allem dadurch aufgefangen, dass kaum noch jemand etwas kaufen will. In Krisenzeiten halten die Leute ihre Moneten zusammen. Aber allzu lange darf dieser Zustand nicht dauern, sonst wird aus dem V der Rezession schnell ein U der Depression – siehe oben. Auch langfristige Folgeschäden müssen wir bedenken. Nach der Euro-Schuldenkrise hat die EU immense Energie aufgewandt, sich aus dem Berg der finanziellen Altlasten herauszuarbeiten. Das können wir nun erst einmal vergessen. Was als Schuldenniveau für einen Staat noch tragbar ist, werden wir nach der Krise neu definieren müssen. Immerhin: Weltweit sitzen alle Nationen im selben Boot. Die Wackelkandidaten von gestern, die sich mit leeren Kassen durchlavierten und jetzt auch noch vom Coronavirus besonders hart getroffen sind, werden viele zusätzliche Milliarden benötigen – zum Beispiel Italien. Das reiche Deutschland hat sich in normalen Zeiten mit der Großzügigkeit schwergetan. Aber die Einsicht in die Notwendigkeit wird reifen. Denn die Zeiten sind nicht mehr normal.

Den düsteren Aussichten zum Trotz können wir uns auf eine tröstende Gewissheit stützen: Kein Staat auf der Welt ist so gut für diese Krise gerüstet wie Deutschland. Ein reiches Land mit einem der besten Gesundheitssysteme Europas. Bis eben noch sprudelnde Steuereinnahmen, moderate Staatsschulden, Top-Noten bei der Kreditwürdigkeit. Instrumente wie die Kurzarbeit und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Und vor allem ein hoch entwickeltes, funktionierendes soziales Netz. Wenn wir die Krise nicht meistern, wer dann? Die Aufgabe wird uns bis zum Anschlag fordern, aber sie wird gelingen. Gut gelingen sogar, wenn wir beim Blick auf unser eigenes Schicksal die viel schlimmere Lage bei unseren Nachbarn und den Gebeutelten andernorts in der Welt nicht vergessen. Wenn wir unseren Wohlstand nutzen, um bei der Hilfe für taumelnde Ökonomien nicht zu knausern. Zugegeben, ein bisschen Eigennutz ist dann auch dabei: Wir Exportweltmeister sind auf die Kaufkraft unserer Handelspartner angewiesen – und gute Beziehungen sind die beste Basis fürs Geschäft. In der Stunde der Not auch für andere da zu sein, das wird ihnen jetzt helfen. Und am Ende auch uns selbst.


WAS LESEN?

Das ungarische Parlament zeigt uns, was geschieht, wenn Mächtige die Corona-Krise ausnutzen, um demokratische Rechte auszuhebeln: Es entmachtet sich selbst und stattet Viktor Orbans Regierung mit einem Freibrief aus. Die Sozialdemokratin Klara Dobrev fühlt sich an Hitlers Notstandsgesetz erinnert, hat sie meiner Kollegin Madeleine Janssen gesagt.


Der Anschlag von Hanau hat unser Land erschüttert. Viele Politiker und Journalisten waren sich schnell einig: Das war eine rassistische Tat. Die BKA-Ermittler sehen das offenbar differenzierter.


Es ist eine Szene wie aus einem Traum: Unter Wasser haben diese Leute auf Stühlen Platz genommen – ohne Taucherausrüstung. Warum machten die das? Mein Kollege Marc von Lüpke verrät es Ihnen in unserer Rubrik "Historisches Bild".


WAS AMÜSIERT MICH?

Wie sieht das eigentlich aus, wenn die Quarantäne-Kanzlerin im Homeoffice arbeitet?

Ich wünsche Ihnen einen produktiven Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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