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Brexit-Verhandlungen beim EU-Gipfel: Die EU schützt das Heiligste, was sie hat


Was heute wichtig ist
Die EU schützt das Heiligste, was sie hat

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 16.10.2020Lesedauer: 7 Min.
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Schön, dass wir uns sehen: Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron diskutieren am Donnerstag mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments David Maria Sassoli.Vergrößern des Bildes
Schön, dass wir uns sehen: Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron diskutieren am Donnerstag mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments David Maria Sassoli. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

heute darf ich Sie anstelle von Florian Harms begrüßen. Hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Es ist in den Wirren der Corona-Krise ein wenig untergegangen, aber eigentlich sind die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) gestern in Brüssel zusammengekommen, um endlich einen ganz großen Haken der Erleichterung an den Brexit zu machen. Angela Merkel, ihre Kollegen und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hätten gern eine Vereinbarung über die künftigen Beziehungen zwischen dem europäischen Festland und der britischen Insel abgesegnet.

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Das war die Idee. Doch nun geht der Brexit-Streit einfach weiter: Disput um Details, gegenseitige Drohungen, ungewisser Ausgang. Am Donnerstagabend erklärten die Staats- und Regierungschefs der EU, es sei nun an Großbritannien, "die nötigen Schritte zu tun, um ein Abkommen möglich zu machen". Die britische Regierung reagierte enttäuscht und kündigte eine Erklärung für Freitag an.

Dass es auch zehn Wochen vor Ablauf der letzten Frist noch immer keine Einigung gibt und ein Abbruch der Verhandlungen durchaus möglich erscheint, ist allerdings für die EU kein Zeichen der Schwäche, sondern eines der Stärke.

Der Status quo ist vor allem die Folge einer kolossalen Fehleinschätzung seitens der britischen Regierung. Diese war nach dem Brexit-Votum im Juni 2016 (so lange ist das bereits her) optimistisch, dass sie die EU vor sich hertreiben würde. Ihr Gedanke: Weil jeder Staat auf dem Festland unterschiedliche Interessen verfolgt, dividieren wir die Kontinentaleuropäer munter auseinander und bestimmen zu unserem Vorteil, wie die künftigen Beziehungen aussehen. Was wir Rosinenpickerei nennen, heißt im Englischen cherry picking.

Allerdings mussten die Briten und ihr inzwischen nicht mehr ganz so frischer Premier Boris Johnson lernen, dass sie sich weder Kirschen noch Rosinen herauspicken können. Denn die Europäer merkten rasch, dass der Brexit das Heiligste gefährdet, was sie haben: den Binnenmarkt. Der größte Wirtschaftsraum der Welt funktioniert nur, weil sich eben nicht jeder so verhalten kann, wie es ihm passt, sondern weil es gemeinsame Regeln gibt, die immer für alle gelten. Und die deshalb auch deutlich schärfer kontrolliert und sanktioniert werden als der Verstoß gegen Corona-Maßnahmen in Berlin.

Wenn es dem Binnenmarkt an den Kragen geht, entwickelt die EU eine ungeheure Tatkraft, Unheil abzuwehren. Denn der gemeinsame Markt gestattet wirtschaftlich starken Ländern Exporte und ermöglicht den ökonomisch schwächeren Ländern den Zugang zu Hilfen. Schließlich gibt es auf der Welt keine vergleichbare finanzielle Solidarleistung zwischen Staaten wie innerhalb der EU. Davon zeugt unter anderem ein Haushalt von mehr als 150 Milliarden Euro pro Jahr.

Ob der Binnenmarkt allein die EU auf Dauer zusammenhält, ist angesichts der tektonischen globalen Verschiebungen allerdings fraglich. Widerstandsfähiger wäre die Staatengemeinschaft, wenn auch andere Politikbereiche zumindest annähernd auf ein vergleichbares Integrationsniveau gehoben würden. Das würde den Preis einer Trennung weiter erhöhen – und sie dadurch unwahrscheinlicher machen.

Es ist auch nicht so, als würde eine tiefere Integration nicht seit Jahrzehnten versucht. Allein: Es ist noch immer nicht gelungen. Ein Grund dafür dürfte auch darin liegen, dass zu oft utopische Ziele wie eine umfassende politische Union verfolgt werden. Man muss nicht die Meinung von Helmut Schmidt ("Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen") vertreten, um zu glauben, dass kleine Schritte wahrscheinlich der vielversprechendere Weg wären.

Das zeigt sich am Beispiel der Außenpolitik. Warum die Forderung nach mehr Gemeinsamkeit dann eben doch meistens nur ein Lippenbekenntnis ist, liegt vor allem daran, dass die Länder eben sehr unterschiedliche Interessen verfolgen: Für Portugal ist die Russlandpolitik weniger bedeutend als für Estland. Den Esten wiederum ist es nicht so wichtig wie den Portugiesen, ob viele Flüchtlinge den europäischen Kontinent über die Straße von Gibraltar erreichen.

Wie schwer eine gemeinsame Linie bereits innerhalb eines Nationalstaates ist, zeigt der Umgang mit der Corona-Pandemie in Deutschland. Noch immer beharrt jedes Bundesland darauf, möglichst lange selbst Entscheidungen treffen zu können. Das führte zuletzt dazu, dass Berliner und Hamburger in Mecklenburg-Vorpommern nicht willkommen waren, in Nordrhein-Westfalen dagegen schon. Wirklich Sinn hat das nicht ergeben, weil – zumindest nach allem, was man weiß – eine Berlinerin in Rostock nicht ansteckender ist als in Köln.

Gemeinsame Lösungen zwischen 27 Nationalstaaten sind noch schwieriger als zwischen dem Bund und 16 Bundesländern. Trotzdem bräuchte die EU dringend eine neue Erzählung, die in die Zukunft weist. Etwa, dass sie umfassenden Schutz bietet.

Dazu gehört mittelfristig die konsequente Sicherung der Außengrenzen genauso wie eine viel engere Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik. Und kurzfristig ist ein gemeinsames Vorgehen bei einem möglichen Impfstoff gegen Corona geboten.

Es wäre ein Erfolg, wenn sich die Europäer bei der Beschaffung möglicher Corona-Impfstoffe nicht selbst Konkurrenz machten. Und noch besser wäre es, wenn Deutschland für den Fall, dass etwa das Mainzer Unternehmen Biontech als erstes die Zulassung für einen Impfstoff bekommt, nicht von einem deutschen Produkt spräche, sondern von einem europäischen.

Weiter gedacht bedeutet das auch, dass damit erst ein Altenheim in der Provence versorgt wird, bevor eine Kita in Rheinland-Pfalz an der Reihe ist. Denn so wichtig konkrete politische Fortschritte sind, so bedeutend ist auch immer die Symbolik.


WAS STEHT AN?

Es sind noch 18 Tage bis zur US-Wahl. Dieser Satz ist nicht wirklich falsch, schließlich ist der offizielle Wahltermin am 3. November. Aber er ist eben auch irreführend. Denn er suggeriert, dass Donald Trump und Joe Biden noch bis dahin um jede Stimme kämpfen können.

Doch die Zahl der Bürger, die der republikanische Präsident und sein demokratischer Herausforderer überhaupt noch umstimmen können, sinkt von Tag zu Tag.

Schließlich läuft die Wahl in vielen Bundesstaaten längst. Und sehr viele US-Amerikaner nutzten in den vergangenen Tagen die Möglichkeit, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Bis gestern hatten bereits mehr als 18 Millionen ihre Stimme abgegeben – sei es per Briefwahl oder indem sie vorzeitig ein Wahllokal aufsuchten. Letzteres ist in den USA verbreitet, wie die langen Schlangen zeigen.

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Besonders groß ist die Begeisterung fürs "early voting" derzeit in Hochburgen der Demokraten. In Travis County, zu dem die liberale texanische Stadt Austin gehört, haben an den ersten beiden Tagen fast 75.000 der rund 850.000 Wahlberechtigten ihre Stimme persönlich abgegeben. Auch kamen bereits weit über 20.000 Briefwahlunterlagen zurück. Nicht zuletzt, weil die Mobilisierung unter den Demokraten offenbar sehr hoch ist, läuft Donald Trump die Zeit davon, wie mein Kollege Fabian Reinbold analysiert.

Ob Trump die Wahl aber tatsächlich verliert, ist trotzdem offen. In Travis County bekam Hillary Clinton 2016 fast zwei Drittel der Stimmen. Geholfen hat ihr das am Ende angesichts des komplizierten Wahlsystems nicht. Und ob die Beteiligung dieses Jahr überall in den USA deutlich steigen wird, ist zwar wahrscheinlich, aber angesichts der Corona-Pandemie nicht sicher. Selbst wenn den meisten Bürgern bewusst sein dürfte, wie viel in diesem Jahr wirklich auf dem Spiel steht.

Vor vier Jahren gaben nach Angaben von Elect Project weniger als 139 der mehr als 230 Millionen Bürger, die hätten wählen können, tatsächlich ihre Stimme ab. Das entsprach einer Wahlbeteiligung von rund 60 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2017 machten mehr als 76 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Stimmrecht Gebrauch.


In Erfurt tagt die Mitgliederversammlung des Deutschen Bauernverbandes. Auch Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) wird eine Rede halten. In der Regel betonen Politiker bei solchen Terminen salbungsvoll die Bedeutung der jeweiligen Organisation für das große Ganze. Direkte Kritik oder zumindest die vorsichtige Aufforderung, doch mal Dinge zu überdenken, sind eher selten. Mal schauen, was die stets fröhlich daherkommende Ministerin sich vor den Landwirten traut.

Klöckners Kabinettskollege Andreas Scheuer, der in der Maut-Affäre zuletzt immer stärker unter Druck geraten ist, hat zumindest am frühen Nachmittag einmal etwas Ablenkung von all dem selbst gemachten Stress. Der Bundesverkehrsminister ist beim Baubeginn eines Abschnitts der A14 in der Nähe von Wittenberge dabei. Dort entsteht auch eine neue Brücke über die Elbe, die Brandenburg und Sachsen-Anhalt verbindet. Bei so viel Symbolik müsste sich die Rede fast von selbst schreiben. Der Anteil an Satzbausteinen dürfte allerdings eher hoch sein.

Die europäische Weltraumorganisation ESA informiert über Details eines spannend klingenden Projekts: Am 10. November soll der Satellit "Copernicus Sentinel-6 Michael Freilich" von der Vandenberg Air Force Base in Kalifornien aus in den Weltraum starten. Gemeinsam mit einem zweiten Satelliten, der später ins All geschossen wird, soll er die Veränderungen der Meeresspiegel genau vermessen.


WAS LESEN?

Je kälter es wird, desto leerer wird es im Außenbereich von Kneipen und Restaurants. Doch drinnen – das betonen Experten immer wieder – ist die Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus deutlich größer. Wer trotzdem nicht auf sein Feierabendbier oder Wochenend-Schnitzel verzichten möchte, sollte zur eigenen Sicherheit einige Regeln beachten. Meine Kollegin Sandra Simonsen hat die wichtigsten Tipps zusammengefasst.

Zu den merkwürdigsten Erfahrungen als Journalist gehört es, dass man immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert wird, Medien seien von oben gesteuert und würden ständig alle das Gleiche schreiben. Dabei hat Deutschland wohl eine der vielfältigsten Medienlandschaften der Welt.

Das wiederum führt nach meiner Erfahrung dazu, dass unterschiedliche Publikationen Dinge eben auch aus unterschiedlichen Sichtweisen beleuchten. Falls Sie es mir nicht glauben sollten: t-online hat gestern analysiert, dass die Kanzlerin ziemlich viel beim Corona-Gipfel durchgesetzt hat. Nico Fried, der Leiter der Parlamentsredaktion der "Süddeutschen Zeitung", schreibt nun allerdings, wie enttäuscht die Kanzlerin über die Entscheidungen ist. Sein Kollege von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hatte Angela Merkel bereits im Vorfeld des Gipfels vorgeworfen, mit ihrer Politik sogar die Akzeptanz der Maßnahmen zu mindern.

Ein Thema. Verschiedene Blickwinkel. Unterschiedliche Schlussfolgerungen. So, wie es einer lebendigen Demokratie gut tut.


WAS AMÜSIERT MICH?

Ich bin nicht unmusikalisch, spiele ganz okay Klavier. Aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werde ich keinen Durchbruch als Tänzer mehr feiern können. Deshalb bin ich beruhigt, dass "the greatest jobs President God ever created" (Donald Trump über Donald Trump) immerhin nicht auch noch der größte Tänzer ist, den Gott jemals geschaffen hat.

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag. Und lassen Sie sich Mitte Oktober nicht die Stimmung durch November-Wetter vermiesen.

Ihr

Sven Böll
Managing Editor t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Twitter: @SvenBoell

Mit Material von dpa.

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