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Gewalt in Nahost: Die Tentakel des Nahostkonflikts reichen in die ganze Welt


Tagesanbruch
Das Gift reicht in die ganze Welt

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 19.05.2021Lesedauer: 7 Min.
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Israelische Sicherheitskräfte bei einem Einsatz gegen palästinensische Demonstranten in der Jerusalemer Altstadt.Vergrößern des Bildes
Israelische Sicherheitskräfte bei einem Einsatz gegen palästinensische Demonstranten in der Jerusalemer Altstadt. (Quelle: Ilia Yefimovich/dpa/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

wann wird's mal wieder richtig Sommer? Heizung statt Angrillen, Regenschirm statt T-Shirt: Dieser Fröstel-Mai ist eine Zumutung – oder? Nein, eigentlich ist er gar nicht so schlimm. Nicht, wenn man aus einer Weltkrise herauskommt. Alle reden über ihre Impftermine, die ersten Restaurantterrassen öffnen wieder, Freunde fragen fröhlich nach einem Treffen. Klar, jetzt nicht leichtsinnig werden, aber freuen dürfen wir uns, das Leben ist schön, auch ohne Sonne! So freue ich mich, ab heute wieder für Sie zu schreiben, auch wenn wir uns zunächst einem betrüblichen Ort zuwenden müssen:

Eine Frage des Territoriums

In Konflikten verliert man schnell den Überblick. Wenn zwei Seiten aufeinander einschlagen, Geschosse explodieren und Opfer nur noch Zahlen sind, wenn in den Nachrichten Wut und Hass neben Beschwörungsfloskeln von Politikern stehen, wenn sich in den sozialen Medien die Kommentare der Besserwisser überschlagen, dann raucht selbst besonnenen Beobachtern schnell der Kopf. Wer sich nicht erst seit anderthalb Wochen, sondern schon seit Jahrzehnten mit dem Konflikt im Nahen Osten beschäftigt, kann in diesen aufgeregten Tagen darüber staunen, wie wenig alle Beteiligten in all den Jahren gelernt haben und wie gering die Bereitschaft ist, abseits schriller Schlagzeilen nach den tieferen Gründen für den dauerhaftesten Konflikt unserer Zeit zu fragen. Stattdessen schauen viele lieber auf die Symptome, die schlimm genug sind.

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Der abscheuliche Judenhass auf deutschen Straßen sorgt in diesen Tagen zu Recht für Empörung. Bis hinauf zum Bundespräsidenten beeilen sich Politiker, ihre Bestürzung zu bekunden. Warum der seit Jahren grassierende Antisemitismus aber nicht schon längst effektiver bekämpft worden ist – mit konsequenter Strafverfolgung, mit Bildungsarbeit in Schulen und Vereinen, mit interreligiösen Begegnungen – vermag niemand so recht zu erklären. "Der Kampf gegen den Antisemitismus muss jeden Tag neu geführt werden", hat der Historiker Peter Longerich, der das Problem so gründlich wie kaum ein anderer erforscht hat, kürzlich im Interview mit unserer Redaktion gesagt. Würde Experten wie ihm mehr Gehör geschenkt, würde vielleicht auch über die Gründe für den muslimischen Antisemitismus differenzierter geurteilt, als es derzeit der Fall ist. Die Feindseligkeit gegen Juden reicht bis in die Frühzeit des Islams zurück, aber geschürt wird sie seit Jahrzehnten vor allem durch den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Wenn Araber die Israelis meinen, sprechen sie von "Jahud", den Juden. Das macht Sprechchöre wie "Scheiß Juden" in Gelsenkirchen kein bisschen besser, stellt sie aber in einen Kontext.

Die Tentakel des Nahostkonflikts reichen in die ganze Welt, seit Jahrzehnten stacheln sie Hass und Misstrauen an, motivieren Terroristen und entzweien Staaten. Legionen von amerikanischen, europäischen und russischen Diplomaten haben sich an einer Lösung der Probleme die Zähne ausgebissen, aber dauerhaft entschärft oder gar aufgelöst werden kann die Dauerfehde nur von den beiden gegnerischen Lagern vor Ort: Solange die israelischen und palästinensischen Führer sich nicht zu ernsthaften Friedensverhandlungen aufraffen, werden Leid, Tod und Zerstörung weitergehen. Wie schwer eine solche Verständigung ist, begreift man erst, wenn man die Knackpunkte dieses Konflikts beleuchtet:

Aus Sicht der Palästinenser begann die Katastrophe mit der Vertreibung im arabisch-israelischen Krieg 1948/49 und wurde durch den Sechstagekrieg 1967 verschärft. Die palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen, rund fünf Millionen Menschen, leben heute in Jordanien, Syrien, dem Libanon, dem Westjordanland und dem Gazastreifen, viele in Lagern oder aus Lagern entstandenen Elendsvierteln. Unter Berufung auf die UN-Resolution 194 verlangen sie, dass sie in ihre Dörfer auf dem heutigen israelischen Staatsgebiet zurückkehren dürfen – doch jede israelische Regierung hat das strikt abgelehnt. Das erleichtert es wiederum den arabischen Aufnahmeländern, die Armseligkeit der Flüchtlinge zu instrumentalisieren: Seht her, Völker der Welt, das ist das Ergebnis des israelischen Unrechts!

Heute ist Israel de facto eine Zweiklassengesellschaft: oben die jüdische Bevölkerung, unten die arabische. Das schürt Tag für Tag Missgunst, Vorurteile und Misstrauen. Noch tiefer rangieren die Menschen in den palästinensischen Gebieten, vor allem im Gazastreifen. Der umfasst 365 Quadratkilometer, was gerade einmal 14,2 Prozent der Fläche des Saarlands entspricht – aber darauf drängen sich mehr als zwei Millionen Menschen, die Hälfte von ihnen Kinder. Sie sind dort lebenslänglich eingesperrt. Schon vor der aktuellen Eskalation fehlte es an Trinkwasser, einer stabilen Stromversorgung, Medikamenten, Arbeitsplätzen, Perspektiven für die jungen Leute. Zwei Drittel der Einwohner sind auf Nahrungsspenden angewiesen. "Die Leute hier empfinden den Gazastreifen als Freiluftgefängnis", sagt der UN-Mitarbeiter Damian Rance, mit dem ich gestern telefoniert habe, "und durch die jüngsten Bombardements ist die Situation noch viel schlimmer geworden. Die Menschen können sich nicht vor den Bomben verstecken, sie haben keinen Schutz. Schon 2.000 Häuser und 40 Schulen sind beschädigt worden, 600.000 Kinder können nicht mehr zur Schule gehen, 38.000 Menschen mussten aus ihren Wohnungen fliehen. Die Situation ist schrecklich!" Auch auf israelischer Seite sterben Zivilisten durch gegnerischen Beschuss, aber die Opferzahlen unter den Palästinensern sind wie bei allen Kämpfen der vergangenen Jahrzehnte um ein Vielfaches höher.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu nimmt das in Kauf. Er will sein Land und sein Volk verteidigen, aber er will auch von seinen Korruptionsskandalen ablenken, zudem bietet ihm die Eskalation die Chance, die Dauerregierungskrise zu überwinden und womöglich doch wieder eine Koalition unter seiner Führung zustande zu bringen, obwohl es nur noch wenige Politiker gibt, die ihm über den Weg trauen. Es ist auch dieses zynische Machtklammern in Israels Politikerriege, das immer wieder Auswege aus dem Konflikt verbarrikadiert. Auf palästinensischer Seite ist es noch schlimmer: Die Clique von Mahmud Abbas, der sich "Palästinenserpräsident" nennt, obwohl er seit Jahren demokratische Wahlen verhindert, scheint ihren Daseinszweck vor allem darin zu sehen, sich an Hilfsgeldern zu bereichern und Opponenten niederzuknüppeln. Abbas versucht das von israelischen Siedlungen zerstückelte Westjordanland zu beherrschen, aber Autorität hat er nicht mehr. Die haben jedoch die Hamas-Führer, die den Gazastreifen kontrollieren und dort zwei Millionen Menschen zu Geiseln ihres Befreiungskampfs machen. Sie lassen sich von Irans Mullah-Regime alimentieren, impfen schon Kindern den Hass auf die "Jahud" ein und scheren sich nicht darum, dass ihre Raketen neben israelischen auch palästinensische Zivilisten treffen. Diese Verbrecherbande zu Friedensgesprächen zu bewegen, ist schwer, aber nicht unmöglich. Die amerikanischen Verhandlungen mit den afghanischen Taliban könnten ein Vorbild sein.

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Es heißt, jeder Stein im Nahen Osten habe historische Bedeutung, und das ist nur geringfügig übertrieben. Noch im kleinsten Kaff gibt es eine Synagoge, Moschee, Kirche, Religionsschule oder einen anderen Ort, der irgendjemandem heilig ist und für dessen Verteidigung nicht wenige ihr Leben geben würden. Diese religiöse Überhöhung kulminiert auf dem Tempelberg in Jerusalem mit dem muslimischen Felsendom, der Al-Aksa-Moschee und der jüdischen Klagemauer, wo sich der gesamte Konflikt wie unter einem Brennglas an jedem Funken neu entzündet. Jedes Mal, wenn Israels Regierung wieder palästinensische Zivilisten aus ihren Häuser vertreibt, um Siedlungen zu bauen, so wie vor wenigen Tagen im Jerusalemer Stadtviertel Scheich Dscharrah geschehen, machen palästinensische Jugendliche ihrer Wut nach dem Freitagsgebet auf dem Tempelberg Luft – erst recht, wenn auch noch das Gerücht umgeht, israelische Soldaten wollten die Kultstätte dauerhaft besetzen.

So streiten sich zwei verfeindete Brudervölker Jahr um Jahr und Jahrzehnt um Jahrzehnt um ein und denselben Boden, so geht es Auge um Auge und Zahn um Zahn, so ist der Dauerkampf im Nahen Osten bei aller politischen Instrumentalisierung und aller religiösen Überhöhung vor allem das: ein Territorialkonflikt. Einen gemeinsamen Staat wollen die Israelis nicht, weil sie darin aufgrund der hohen palästinensischen Geburtenrate irgendwann zur Minderheit würden. Eine Zweistaatenlösung kann aber nur funktionieren, wenn alle oben genannten Probleme mit echtem Lösungswillen angepackt werden. Das ist seit Jitzchak Rabins Ermordung 1995 nicht mehr der Fall; in den vergangenen Jahren setzt die internationale Diplomatie keine wegweisenden Impulse mehr, und die Führer der Kontrahenten beschäftigen sich lieber mit ihren Eigeninteressen als mit den Interessen ihrer Bevölkerungen. Die würden mehrheitlich sehr gern in Frieden und Sicherheit leben. Aber dafür braucht es andere, mutigere und vor allem aufrichtigere Leute als Herrn Netanjahu, Herrn Abbas und die Kommandeure der Hamas. Bleibt zu hoffen, dass Jitzchak Rabin irgendwann doch noch würdige Erben bekommt.


Eine Frage der Gerechtigkeit

Diese Gerichtsverhandlung dürften Millionen Menschen mit Spannung erwarten: Knöpft der deutsche Staat Rentnern zu viel Steuergeld ab? Mit dieser Frage beschäftigt sich ab heute der Bundesfinanzhof in München. Unser Reporter Mauritius Kloft ist vor Ort und wird für Sie berichten. Vorab hat er Gert Zimmermann getroffen, der die Klage ins Rollen gebracht hat. Was den 74-Jährigen antreibt, erfahren Sie hier.


Löws Euro-Kicker

Jogi Löw gibt seinen Kader für die Fußball-EM bekannt, die nun ja wohl tatsächlich stattfindet. Welche 26 Kicker wählt der Bundestrainer für sein letztes Turnier aus, und überwindet er sich doch noch, den Müller-Thomas endlich zurückzuholen? Ab 12:30 Uhr erfahren Sie es in unserem Liveticker.


Märchen des Monats

Corona ade: Biergärten, Restaurantterrassen, sogar einige Museen, Theater und Schwimmbäder dürfen wieder aufmachen. Toll! Aber war da nicht etwas, das eigentlich viel wichtiger wäre? Hatten das Regierungspolitiker nicht hoch und heilig versprochen?

"Oberste Priorität haben für mich Kitas und Schulen." (SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz)

"Uns ist allen klar, Schule, Bildung, Kinderbetreuung muss absolute Priorität haben." (CDU-Chef Armin Laschet)

"Was ich dazu sagen kann, ist, dass das Erste, was wir wieder öffnen, die Schulen und die Kindergärten sein werden." (Kanzlerin Angela Merkel)

Falls Sie Kinder haben, die Sie nun weiterhin jeden zweiten Tag zu Hause betreuen müssen, weil Kitas und Schulen in Deutschland in Wahrheit keine Priorität haben, denken Sie vielleicht darüber nach, was Politikerversprechen wert sind.


Was lesen?

Wie ließe sich die Spirale der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern unterbrechen und der Weg zum Frieden gestalten? Julius von Freytag-Loringhoven, Leiter des Jerusalemer Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung, hat für uns einige bemerkenswerte Beobachtungen notiert.


Was ist da los in der spanischen Enklave Ceuta in Nordafrika, woher kommen all die Migranten? Die Kollegen vom "Spiegel" haben einen kompakten Überblick.


Falls Sie zu den Millionen Glücklichen gehören, die in einem Impfzentrum eine Spritze gegen Covid-19 bekommen haben, fragen Sie sich vielleicht: Wo landen eigentlich meine Daten, wenn die Zentren irgendwann geschlossen werden, wie kann ich meine Impfung beweisen, falls ich meinen Impfpass verliere? Unser Rechercheur Lars Wienand ist auf eine große Leerstelle gestoßen.


Ist das wirklich der kälteste Mai aller Zeiten, und wann kommt der Sommer? Unsere Wetter-Kolumnistin Michaela Koschak erklärt es Ihnen.


Was amüsiert mich?

Schrieb ich oben, dass die europäische Diplomatie im Nahostkonflikt nicht sonderlich einfallsreich sei?

Ich wünsche Ihnen einen produktiveren Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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