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Bundestagswahl 2021: Die Strategie von Olaf Scholz wirkt – hat aber einen Haken


Tagesanbruch
Der Merkel

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 04.08.2021Lesedauer: 5 Min.
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SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz bei seinem gestrigen Besuch im NRW-Hochwassergebiet in Gemünd.Vergrößern des Bildes
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz bei seinem gestrigen Besuch im NRW-Hochwassergebiet in Gemünd. (Quelle: Oliver Berg/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

träte Angela Merkel noch einmal an, würde sie ziemlich sicher die Bundestagswahl für die Union gewinnen und könnte vier weitere Jahre Kanzlerin bleiben. Aber sie will nicht, sie will in Würde abtreten. Damit kann ihr gelingen, was bisher keinem ihrer Vorgänger gelungen ist. Von Adenauer bis Schröder wurden alle Kanzler aus dem Amt gedrängt oder abgewählt. Frau Merkel will die Regierungsgeschäfte aus freien Stücken an ihren Nachfolger oder ihre Nachfolgerin übergeben und hochgeachtet in den Ruhestand wechseln. Schon das allein ist eine beachtliche Leistung.

Die Kanzlerin weiß, dass so eine Vollbremsung aus einem 16-Stunden-Arbeitstag ins Rentnerleben eine psychologische Herausforderung ist, und selbst wenn sie öffentlich Witzchen darüber reißt, weiß sie auch, dass sie zunächst in ein tiefes Loch fallen wird. Da wird es ihr nicht anders ergehen als Präsidenten, Spitzenmanagern oder Bundestrainern. Aus so einem Loch herauszukommen, gelingt nicht allen ehemaligen Topführungskräften. Vielleicht wird es Frau Merkel ja gelingen, indem sie einen Lehrauftrag an einer ausländischen Universität annimmt oder sich selbst in Vorlesungen setzt. Ihre Wissbegierde ist immer noch groß. Oder sie reist durch Deutschland und lernt das Land, in dem sie seit der Wiedervereinigung fast ausschließlich als vielbeschäftigte Politikerin gelebt hat, endlich auch als Privatfrau kennen. Möglichkeiten gibt es einige, und schon jetzt ist absehbar, dass viele Menschen die Langzeit-Kanzlerin wohl schon bald nach deren Abgang vermissen werden.

Je näher die Bundestagswahl rückt, desto stärker wird dieses Verlustgefühl. Und desto größer wird die Sehnsucht vieler Leute nach einer Person, die der Kanzlerin gleicht, die ähnlich wie sie mit Ruhe, Fleiß und Fachwissen die Geschicke des Landes lenkt. Weder der zuletzt ungeschickt auftretende CDU-Kandidat Armin Laschet noch die fehleranfällige Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock bieten sich da gegenwärtig an. Aber es gibt ja noch einen Dritten, der die Rolle einnehmen könnte – und genau das ist die Strategie von Olaf Scholz: Der SPD-Kandidat inszeniert sich als natürlicher Nachfolger der Kanzlerin, er will quasi "der Merkel" sein.

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Bislang galt er vielen als blass, doch in Krisenzeiten erlangt er gerade durch sein nüchternes Auftreten Glanz: Unaufgeregt managt der Finanzminister den Corona-Schuldenhaushalt, von langer Hand plante er die internationale Mindeststeuer für Großkonzerne, mit seiner amerikanischen Kollegin versteht er sich bestens. Die ambitionierten Klimaschutzideen der Grünen kontert er mit konkreten Vorschlägen, das Verordnungsrecht so zu ändern, dass endlich mehr Windräder und Solaranlagen gebaut werden können. Als Hamburger nimmt er in der Regel den Mund nicht zu voll, darin gleicht er der Kanzlerin, ebenfalls eine gebürtige Hamburgerin. Auch auf seiner Weste prangt mancher schwarze Fleck, aber zwischen Corona-Alarm und Hochwasserkatastrophe verblassen in der öffentlichen Wahrnehmung sowohl die vermasselte Organisation des G20-Gipfels 2017 als auch der Cum-Ex-Skandal um die Warburg-Bank und die desaströse Rolle der Finanzaufsicht bei der Wirecard-Pleite.

Die jüngsten Umfragen geben Olaf Scholz Rückenwind, er zieht an seinen Konkurrenten ums Kanzleramt vorbei. Im neuen RTL-"Trendbarometer" geben 21 Prozent der Befragten an, sie würden bei einer Direktwahl Herrn Scholz zum Kanzler küren – während Frau Baerbock nur auf 18 und Herr Laschet nur auf 15 Prozent kommt. Das ZDF-"Politbarometer" zeigt ein ähnliches Bild: Bei der Frage, wen sie sich im Kanzleramt wünschen, nennen 34 Prozent Scholz, 29 Prozent Laschet und 20 Prozent Baerbock.

Trotzdem knallen im Willy-Brandt-Haus keine Sektkorken, denn in Deutschland wählen die Bürger nun einmal nicht Kanzlerkandidaten, sondern Parteien – und da sieht es düster aus: Die SPD versumpft im Umfragetief, über mickrige 16, 17, gelegentlich mal 18 Prozent kommt sie seit Monaten nicht hinaus. Offenkundig steht die Partei in den Augen vieler Wähler weder fürs Bewahren des Merkel-Erbes noch für etwas Neues, zudem sind viele Bürger misstrauisch: Bekommen sie mit einer Stimme für die Sozialdemokraten die pragmatische Scholz-SPD oder die ideologische SPD der Lifestyle-Linken Saskia Esken und Kevin Kühnert? So gesehen passt der Kandidat nicht zur Partei (oder die Partei nicht zum Kandidaten).

Olaf Scholz hofft trotzdem, dass er die SPD aus dem Keller ziehen und in eine Ampelkoalition mit den Grünen und der FDP unter seiner Führung bugsieren kann – und er gibt sich ersichtliche Mühe, sein Anpacker-Image zu perfektionieren. So auch bei seinem gestrigen Besuch in den hochwassergeschädigten Orten in Nordrhein-Westfalen: Während sich Landesvater Armin Laschet zuletzt mit dem Ärger frustrierter Anwohner konfrontiert sah, stapfte der Finanzminister im Regencape und mit grimmiger Miene durch die Trümmer, erzählte, dass bereits "viele Milliarden" Hilfsgeld bereitstünden, und mahnte einen besseren Hochwasserschutz an. Geschichte wiederholt sich nicht, Wahlkampfgeschichte erst recht nicht, aber angesichts dieser Bilder fühlte sich mancher Beobachter an den Gummistiefelauftritt von Gerhard Schröder in Sachsen 2002 erinnert. Schließlich hat schon einmal ein Hochwasser einen Bundestagswahlkampf maßgeblich beeinflusst.

Heute darf Olaf Scholz sich schon mal ein bisschen als Kanzler fühlen: In der Kabinettsitzung vertritt er die Kanzlerin und bringt Hilfen für hochwassergeschädigte Firmen auf den Weg. Großes Bohei wird er darum nicht machen, am liebsten wäre es ihm wohl, die Bürger würden gar nicht merken, dass auf dem Chefsessel ein anderer sitzt. Dass die SPD-Bundestagsabgeordneten im Herbst nochmals eine Merkel ins Kanzleramt wählen würden, selbst wenn sie in Wahrheit Scholz heißt, ist allerdings ziemlich ungewiss.


Hilfe für den Libanon

Heute vor einem Jahr erschütterte eine gewaltige Explosion die Innenstadt von Beirut, fast 200 Menschen kamen ums Leben. Die Katastrophe, deren Hintergründe immer noch nicht aufgeklärt sind, traf ein Land in einer wirtschaftlichen Dauerkrise: Seit 2019 hat das libanesische Pfund mehr als 90 Prozent seines Werts verloren, die Preise für Fleisch, Obst und Gemüse steigen stetig, Strom, Treibstoff und Medikamente sind Mangelware. Um die Zivilbevölkerung zu unterstützen, treffen sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, US-Präsident Joe Biden, Deutschlands Außenminister Heiko Maas und EU-Ratspräsident Charles Michel heute mit Libanons Präsidenten Michel Aoun. So begrüßenswert das Engagement insbesondere der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich ist, so wichtig wäre es allerdings auch, die zerstrittene politische Elite des multikonfessionellen Landes endlich zur Bildung einer funktionierenden Regierung zu zwingen. Denn auch in dieser Hinsicht herrscht im Libanon schieres Chaos.

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Prozess-Farce in Minsk

Die Schreckensnachrichten aus Belarus reißen nicht ab. Erst die versuchte Entführung einer Olympia-Athletin, gestern wurde der ins ukrainische Exil geflohene Aktivist Witaly Schischow tot aufgefunden – und heute beginnt in Minsk der Prozess gegen die Oppositionellen Maria Kolesnikowa und Maxim Snak. Kolesnikowa, die lange als Kulturmanagerin in Stuttgart gearbeitet hat, war im Zuge der gefälschten Präsidentschaftswahl international bekannt geworden, seit September sitzt sie im Gefängnis. Die Regime-Schergen werfen ihr Verschwörung und Extremismus vor. Ihr und ihrem Mitstreiter drohen bis zu zwölf Jahre Haft – und in der EU beginnt man zu begreifen, dass selbst die härtesten Sanktionen gegen das Terrorregime verpuffen.


Was lesen?

Corona wird irgendwann in den Hintergrund rücken, aber die "Querdenker" werden bleiben, warnt Mathias Wörsching. Warum die Behörden machtlos sind, die Zivilgesellschaft zu leise bleibt und sich die Szene radikalisiert, hat der Rechtsextremismusexperte meiner Kollegin Annika Leister erklärt.


Alle Bundesländer bieten nun auch Corona-Impfungen für 12- bis 17-Jährige an. Was Kinder, Jugendliche und Eltern dazu wissen sollten, erläutert meine Kollegin Sandra Simonsen.


Gesundheitsminister Jens Spahn will offenbar den Druck auf Impfmuffel erhöhen – und plant eine Maskenpflicht bis 2022. Mehr bei den Kollegen der "FAZ".


Was amüsiert mich?

Kehrt man nach langer Abwesenheit nach Hause zurück, freuen sich die Liebsten. So weit, so gewöhnlich. Was der Radprofi Simon Geschke bei seiner Rückkehr von der Tour de France und den Olympischen Spielen erlebt hat, ist allerdings eher ungewöhnlich.

Ich wünsche Ihnen einen richtig schönen Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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