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Tagesanbruch: Die Folgen von 9/11 – Die Alarmglocken schrillen


Tagesanbruch
Die Alarmglocken schrillen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 10.09.2021Lesedauer: 7 Min.
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Trümmer des World Trade Centers in New York am 11. September 2001.Vergrößern des Bildes
Trümmer des World Trade Centers in New York am 11. September 2001. (Quelle: Alexandre Fuchs/AP/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

der Himmel über uns schwebt meist im toten Winkel. Wir blicken nach vorn, nicht nach oben wie ein Hans-Guck-in-die-Luft. Wir müssen unsere Wege durch das tägliche Gewusel navigieren, schauen eher mal runter auf das Handy oder die Uhr. Aber wenn sich über allem ein blaues, makelloses Firmament erstreckt und auch noch die Sonne lacht, bekommen wir das trotzdem mit. Es stimmt uns froh. Die Welt sieht gleich freundlicher aus. Bis zum Moment, in dem wir schlagartig begreifen, dass es ein Trugbild ist.

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Was morgen vor 20 Jahren am strahlenden Morgenhimmel seinen Lauf nahm, hat fast jeden bis ins Mark erschüttert, der diesen Tag als Erwachsener bewusst erlebt hat. "Ich war gerade im Auto, als ich zuerst davon gehört habe", gehört zu den Sätzen, die dann fallen. Oder: "Ein Freund rief an und sagte: Mach sofort den Fernseher an!" Man weiß, wo man war und was man gerade tat. Dass sich die Erinnerung an den Septembertag 2001, der zunächst wie jeder andere begann, so tief einbrannte, hat nicht nur daran gelegen, dass die Nachricht so unvermittelt einschlug wie der Blitz aus heiterem Himmel. Sondern auch daran, dass man die Bilder, die plötzlich über die Fernseher flimmerten, nicht sofort begriff. Etwas noch nie Dagewesenes, etwas Ungeheuerliches geschah.

Ein großes, brennendes Loch war im Turm des World Trade Centers zu sehen, irgendetwas Schlimmes mit einem Flugzeug war in New York geschehen. Ein Unfall? Vielleicht eine private Sportmaschine? Verflogen? Aber dann raste ein Passagierflugzeug vor aller Augen in den zweiten Turm hinein. 34 Minuten später: eine Maschine voller Menschen schlug im Pentagon in Washington ein. Die Ereignisse überschlugen sich: der amerikanische Luftraum geschlossen, Flüge aus aller Welt umgeleitet, Kampfjets stiegen auf. Weitere Passagiermaschinen seien entführt worden und unterwegs zu Anschlagszielen, hieß es – niemand wusste, wie viele und wohin. Als das Chaos sich langsam lichtete, war die letzte der vier Maschinen in Pennsylvania abgestürzt.

Seitdem ist "der 11. September" – oder 9/11, wie die Amerikaner sagen – kein bloßes Datum mehr. Es steht für eine weltweite Erschütterung und den Beginn einer Epoche. Diese Bedeutung geht nicht nur auf die monströse Gewalt der Detonationen mit fast dreitausend Toten zurück: Die brennenden Türme führten uns auch die Macht der Bilder vor. Dass sie vor laufender Kamera einstürzten, mitten in der Live-Übertragung, während sich die Stimmen der Reporter fassungslos überschlugen, verlieh den Ereignissen eine Wucht, die selbst heute, in Zeiten allgegenwärtiger Smartphones, nie mehr erreicht worden ist. Ganz unproblematisch ist das nicht. Während der Kriege in Afghanistan und im Irak, die zu den direkten Folgen des schrecklichen Septembertages zählen, sind Hunderttausende Menschen umgekommen. In diesen Konflikten und im weltweit geführten "Krieg gegen den Terror" starben allein durch US-Luftschläge mindestens 22.600 unbeteiligte Zivilisten – es können aber auch fast 50.000 gewesen sein, hat die Nichtregierungs-Organisation "Airwars" ermittelt.

Doch die Zahlen sind abstrakt, der Schrecken fern, die Opfer unsichtbar. Auch die eigentlich segensreichen Regeln des deutschen Pressekodex tragen unabsichtlich dazu bei. Um die Würde der Opfer zu wahren und unnötige Gewaltdarstellungen zu vermeiden, sind die erschütternden Szenen nach einem Terroranschlag, die schreienden Verletzten, die schlimmen Verstümmelungen auf unseren heimischen Bildschirmen nicht zu sehen. Das ist gut so. Zugleich hält es den unmittelbaren Horror einer Autobombe in Bagdad – und ja, auch den eines fehlgeleiteten westlichen Drohnenangriffs oder Luftschlags – von unserer Wahrnehmung fern. 9/11 drang durch. Wir wurden Zeugen verbundener Tragödien in sehr unterschiedlicher Gewichtung.

Am 11. September 2001 war die Grenze zwischen Gut und Böse scharf gezogen. Doch die emotionale Wucht des Tages stieß Entscheidungen an, die diese Linie schnell verwischten. Der Schmerz der Hinterbliebenen, der Zorn und die Verunsicherung einer ganzen Nation lud zum Missbrauch geradezu ein. Die USA holten zum Gegenschlag aus: Die Rückzugsorte der Terroristen in Afghanistan fielen, ihre Gastgeber vom Taliban-Regime gleich mit. Das schob weiteren Terrorattacken den Riegel vor, bediente über dieses Minimalziel hinaus aber kaum mehr als einen Racheimpuls. Denn die Entscheider in Washington – Präsident Bush, sein Vize Cheney und der Pentagon-Falke Rumsfeld – witterten die Chance zur Durchsetzung einer ganz anderen Agenda. Sie surften auf der patriotischen Welle in den USA und setzten durch, was als "Umgestaltung des Nahen Ostens" nur verharmlosend umschrieben wäre.

Seit dem Ende des Kolonialismus hat keine Macht mehr mit solcher Selbstverständlichkeit das Schicksal anderer Völker regeln wollen. Afghanistan? Erledigt. Einmarsch im Irak? Los geht‘s. Iran? Logo, gehen wir als nächstes an. Als distanzierte Beobachter waren wir in Deutschland nicht demselben Sog ausgesetzt. Aber wir waren auch nicht das Ziel eines solch einmaligen, die Vorstellungskraft sprengenden Anschlags. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass wir diesseits des Atlantiks vor vergleichbaren Impulsen sicher sind. Wenn 9/11 eine Lektion für uns bereithält, dann die: Entfesselte Emotionen, die ein ganzes Volk erfassen, mögen verständlich sein. Aber sie müssen die Alarmglocken schrillen lassen.

Die Welt hat den 11. September bis heute nicht hinter sich gelassen. Vielen Hinterbliebenen blieb es verwehrt, mit dem traumatischen Tag abzuschließen: Zwei Opfer unter den Trümmern der Twin Towers wurden erst diese Woche (!) identifiziert, in mehr als 1.100 Fällen warten die Familien noch immer auf den Trost eines Schlusspunkts. Schlimmer noch: Die vergiftete Symbolik der fallenden Türme fordert bis heute neue Opfer. Zuletzt beschloss die Regierung Joe Bidens, den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan bis zum Jahrestag des Anschlags durchzuziehen, koste es, was es wolle. Die Heimkehr wurde hektisch. Der gnadenlose Zeitplan ließ die afghanischen Streitkräfte kollabieren, spedierte die Taliban nach Kabul, zwang Ortskräfte und Aktivisten in Todesangst zum Untertauchen, bescherte uns die infernalischen Szenen am Flughafen. Ja, der Herbsttag vor zwanzig Jahren prägt unsere Welt bis heute. Das hätte an jenem strahlenden Morgen niemand gedacht.

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Angeschlagen im Ring

Wenn Menschen merken, dass ihnen eine bittere Niederlage bevorsteht, neigen sie zu unterschiedlichen Verhaltensweisen. Manche plustern sich auf, andere rennen kopflos durch die Gegend. Und wieder andere fügen sich apathisch in ihr Schicksal, während sie schon mal überlegen, wem sie später die Schuld in die Schuhe schieben können. Alle drei Reaktionen auf die desaströse Umfragelage sind gegenwärtig in CDU und CSU zu beobachten. Spricht man mit Spitzenpolitikern, Hintermännern und -frauen, verfestigt sich der Eindruck: Wenn auf den letzten Metern des Wahlkampfs nicht noch eine Überraschung passiert, sehen die Schwarzen am überübernächsten Sonntag einem Debakel entgegen – und anschließend einer knallharten Abrechnung, die nicht nur Armin Laschet politisch erledigen könnte.

Noch aber ist es nicht soweit. Noch sind es 16 Tage bis zur Wahl, und am Wochenende steigt der Kanzlerkandidat der Union noch mal in den Ring: Am Sonntagabend trifft er im zweiten Fernseh-Triell auf seine Kontrahenten Olaf Scholz und Annalena Baerbock. Bereits morgen will er auf dem CSU-Parteitag in Markus Söders Heimatstadt Nürnberg den bayerischen Truppen einheizen (oder sich von den bayerischen Truppen einheizen lassen). Denn auch für die Christsozialen sieht es schlecht aus: In den Umfragen liegen sie in Bayern nur noch bei mickrigen 28 Prozent – ein Ergebnis, bei dem sich Franz Josef Strauß im Grabe rumdrehen würde. Kommt es wirklich so desaströs, bräuchte der amtierende Bayernfürst schnell einen Schuldigen, damit sein eigener Thron nicht zu wackeln beginnt. Auch so ist es zu erklären, dass CSU-Generalsekretär Markus Blume gestern im "Spiegel" schon mal messerscharf klarstellte: "Natürlich stünden wir mit Markus Söder besser da." Am 26. September könnten noch sehr viel mehr politische Messer gezückt werden.


Drohkulisse gegen die EU

Alexander Lukaschenko versuchte schon mal auf seine Art, Befürchtungen zu zerstreuen: "Wir haben nicht vor, jemanden anzugreifen", säuselte er, "niemand braucht das Baltikum." Die Beteuerung des belarussischen Diktators bezogen sich auf die Sorge der EU, Russland könne über den Suwalki-Korridor – die einzige Landverbindung zwischen Polen und Litauen, die im Norden an die russische Exklave Kaliningrad stößt und im Süden an Belarus – das Baltikum von der EU abschneiden. Hintergrund ist das Militärmanöver "Sapad 2021", das Apparatschiks aus Moskau und Minsk ab heute auf Truppenübungsplätzen beider Länder abhalten. 200.000 Soldaten, 80 Kampfjets, 15 Kriegsschiffe, 290 Panzer und schwere Artillerie trainieren "die Abwehr eines Überfalls durch illegale bewaffnete Gruppen mit externer Unterstützung". Keine Frage, dass die "Externen" auf der westlichen Seite der Grenze verortet werden.


Was lesen?

Bis zur nächsten Präsidentschaftswahl in den USA ist es noch mehr als drei Jahre hin. Doch bei den oppositionellen Republikanern bringen sich schon mehrere Anwärter in Stellung. Unser Washington-Korrespondent Bastian Brauns porträtiert einen Mann, den viele für noch gefährlicher halten als Donald Trump.


Mitten in Europa werden Menschen wie Dreck behandelt: Unsere Reporterin Sophia Maier ist regelmäßig in den Flüchtlingslagern auf griechischen Inseln unterwegs. Hier ist ihre erschütternde Bilanz.


Bis auf die AfD bekennen sich alle Parteien zu dem Ziel, die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Nach einer Analyse der Wahlprogramme kommen Experten nun jedoch zu dem Schluss: Die Klimaziele reichen dafür allesamt nicht aus – auch die der Grünen nicht.


Was amüsiert mich?

Ist doch schön, wenn man einen Macher wählen darf.

Ich wünsche Ihnen einen produktiven Tag. Morgen erhalten alle Tagesanbruch-Abonnenten wieder eine Sonderausgabe zum Bundestagswahlkampf. Am Montag kommentiert Annika Leister das zweite TV-Triell, von mir lesen Sie am Dienstag wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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