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Ukraine-Krieg und das Getreide: Wie Europa eine Kettenreaktion verhindern will


Tagesanbruch
Die Angst vor der Kettenreaktion

MeinungVon Camilla Kohrs

Aktualisiert am 25.05.2022Lesedauer: 7 Min.
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Ein militärisches Fahrzeug steht in der Ukraine auf einem verminten Weizenfeld: Das Land kann sein Getreide kaum noch exportieren.Vergrößern des Bildes
Ein militärisches Fahrzeug steht in der Ukraine auf einem verminten Weizenfeld: Das Land kann sein Getreide kaum noch exportieren. (Quelle: Edgar Su/reuters)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

es sind düstere Worte, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestern wählte. Der russische Präsident Wladimir Putin nutze den "Hunger als ein Instrument der Macht", warnte sie beim Weltwirtschaftsforum in Davos.

Sie zählte auf, wie Russland vorgeht: Truppen bombardierten bewusst Getreidesilos in der Ukraine, blockierten Häfen wie Odessa und damit den Export von Getreide in die Welt. Auch eigene Getreideexporte würden zurückgehalten, um den Weltmarktpreis in die Höhe zu treiben. Das erinnere an eine dunkle Vergangenheit, "die Zeiten der sowjetischen Beschlagnahme der Ernten und der verheerenden Hungersnot der 1930er-Jahre".

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Nun, mahnt von der Leyen, müsse alles getan werden, damit das Getreide aus der Ukraine kommt, damit den Ärmsten der Armen geholfen werden kann.

In Europa herrscht Alarmstimmung. Denn der Krieg in der Ukraine hat längst eine Entwicklung in Gang gesetzt, die Millionen Menschen in eine Hungersnot stürzen könnte. Russland und die Ukraine sind zwei der größten Getreideexporteure der Welt. Dass aus diesen Ländern jetzt weniger Getreide auf dem Weltmarkt landet, lässt nicht nur die Preise in unseren Supermärkten steigen. Es trifft vor allem Länder in Afrika und dem Nahen Osten. Dort ist in vielen Regionen das Hungerproblem wegen Corona-Pandemie, Klimakatastrophen und Konflikten ohnehin schon massiv gewachsen.

Verzeihen Sie mir bitte, dass ich Sie am frühen Morgen mit nüchternen Zahlen behellige. Aber die Summe der Menschen, die vor dem Hungertod stehen, ist so gewaltig, dass man es lesen muss. Laut UN waren das bereits vor Corona 135 Millionen Menschen, während der Pandemie verdoppelte sich die Zahl. Und der Präsident des UN-Welternährungsprogramms warnte kürzlich, dass sie durch den Ukraine-Krieg wohl auf mindestens 323 Millionen steigen werde. Das sind mehr Menschen, als in den USA leben. Dazu kommen viele Hundert Millionen, die tagtäglich nicht genug zu essen haben.

Schon seit Jahren warnen Hilfsorganisationen. Sie klagen, dass sie aus dem Westen zu wenig Geld erhalten, um das Problem in den Griff zu bekommen. Die EU muss sich also auch fragen lassen, warum sie nicht schon früher reagiert hat.

Dass sie jetzt tätig wird, hat natürlich nicht nur mit reiner Nächstenliebe zu tun. Es liegt auch im geopolitischen Interesse – um eine Kettenreaktion zu verhindern, die letztlich auch Europa weiter unter Druck setzen könnte. Die UN warnte unlängst davor, dass es neben Hungersnöten zu Destabilisierung und Massenmigration auf der ganzen Welt kommen könnte, wenn die Häfen der Ukraine nicht bald geöffnet würden.

Auch der frühere deutsche Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch, warf Putin in einem Interview mit dem "Tagesspiegel" vor, er versuche nicht nur gezielt Hungerkrisen im Nahen Osten und in Nordafrika zu erzeugen, sondern auch Europa mit dadurch entstehender Massenmigration unter Druck zu setzen.

Die Verkettung von Hunger und Massenmigration ist allerdings nicht ganz so einfach und unmittelbar, wie etwa der Ökonom und Migrationsforscher Tobias Heidland erklärt (hier lesen Sie sein Interview). Unter Hunger leiden zunächst die Ärmsten, die aber kein Geld für eine lange Flucht haben. Allerdings können Hungerkrisen ein Grund für soziale Unruhen sein. Selbst wenn die aber in bewaffnete Konflikte umschlagen, flüchten die meisten maximal in ein Nachbarland.

Heidland zieht einen Vergleich zu der letzten großen Lebensmittelkrise, die gepaart mit weiteren Problemen in vielen arabischen Staaten zu Massenprotesten führte. Etwa in Syrien: Die Proteste wurden gewaltsam niedergeschlagen, 2011 entzündete sich ein Bürgerkrieg.

Erst einige Jahre später begannen die Menschen, bis nach Europa zu flüchten. Eine Ursache laut Heidland: "Dem Welternährungsprogramm waren damals die Mittel ausgegangen, um die Menschen vor Ort zu ernähren." Zudem waren die Nachbarländer mit der Anzahl der Geflüchteten überfordert. Viel zu spät haben Politiker in Europa damals erkannt, dass sie die Nachbarländer des Kriegsstaates mehr hätten unterstützen müssen.

So weit will man es nun offenbar nicht kommen lassen. Doch so klar die Worte von Kommissionspräsidentin von der Leyen auch waren, es bleibt die große Frage nach dem "Wie". Gesagt ist einfacher als getan.

Die Antwort der EU lautet bislang: Züge bringen das Getreide aus der Ukraine zu anderen Häfen in Europa. Erste Lieferungen sind in den vergangenen Tagen angekommen, doch es geht nur langsam voran.

Die Zeit läuft davon. Bis Juli muss laut der EU-Transportkommissarin Adina Vălean die wahnsinnige Menge von 20 Millionen Tonnen Getreide die Ukraine verlassen. Weil das Land Lieferfristen einhalten muss, um Geld zu verdienen, aber auch, damit in den Silos Platz für die nächste Ernte ist. Mit Zügen allein ist das nicht zu schaffen.

Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis äußerte deswegen eine andere Idee: Er ist auf der Suche nach einer "Koalition der Willigen", die mit Kriegsschiffen die Handelsrouten im Schwarzen Meer bewacht. So könnten Getreideschiffe von Odessa aus sicher zum Bosporus fahren. Unterstützung kommt aus Estland, und auch die britische Regierung hat vorsichtig angedeutet, nicht abgeneigt zu sein – auch wenn ein Sprecher betonte, es gebe derzeit keine Pläne, britische Kriegsschiffe in das Schwarze Meer zu entsenden.

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Ganz einfach allerdings ist es nicht: Es gibt schwimmende Minen im Schwarzen Meer, die Flotte müsste also mit Minensuchbooten begleitet werden. Zudem müsste die Türkei erlauben, dass die Kriegsschiffe den Bosporus durchfahren. Und deren Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist derzeit eher für eine Verweigerungshaltung bekannt.

Und überhaupt: westliche Kriegsschiffe im Schwarzen Meer vor Odessa? Da, wo sich derzeit ukrainische und russische Truppen beschießen? Es ist kein Wunder, dass es auch Kritik an dieser Idee gibt. Denn auch wenn es rechtlich keinen Konflikt mit Russland geben dürfte – ob es in der Realität reibungslos klappt, ist eine andere Frage.

Das räumte gestern auch der estnische Präsident Alar Karis ein. "Nicht jeder ist überzeugt, dass es eine gute Idee ist", sagte er der US-Nachrichtenagentur "Bloomberg". Es werde hauptsächlich kritisiert, dass ein solcher Einsatz den Krieg im Schwarzen Meer eskalieren lassen könnte. "Aber es sieht so aus, als könnte es klappen", war sich Karis sicher.

Estland und Litauen sind mit ihrer Einschätzung nicht allein. Der renommierte britische Militärforscher Lawrence Freedman und der frühere Nato-General James Stavridis etwa sprachen sich bereits vor einigen Tagen für eine solche Seepassage aus. Russland- und Militärexperte Gustav Gressel sagte t-online, er halte die Idee für machbar und zog eine Parallele zu vergleichbaren Einsätzen der USA während des Zweiten Weltkriegs vor 1941 und dem Iran-Irak-Krieg. Allerdings müsste eine solche Passage, umgelegt auf heute, nicht von Odessa aus, sondern eher vom rumänischen Constanța aus starten.

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Folgt man den Experten, wäre es kein so heikles Unterfangen wie die Flugverbotszone über der Ukraine. Die EU hat sich zu der Idee allerdings bislang noch nicht offiziell geäußert, auch von der Leyen erwähnte sie nicht in ihrer Rede beim Wirtschaftsgipfel.

Es bleibt die Frage: Wie weit ist die EU tatsächlich bereit zu gehen, um eine Hungerkatastrophe abzuwenden?


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Was amüsiert mich?

Alles neu macht der Mai.

Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Mittwoch und dann einen schönen Feiertag. Am Freitag schreibt mein Kollege Peter Schink für Sie. Bis dahin, machen Sie's gut.

Ihre

Camilla Kohrs
Redakteurin Politik/Panorama
Twitter: @cckohrs

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Mit Material von dpa.

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