Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Zwischenbilanz zu Schwarz-Rot Merz liefert – aber die Koalition wackelt

Merz hat geliefert. In der Wirtschaftspolitik, bei der Migration, auf der internationalen Bühne. Trotzdem genießt seine Regierung wenig Vertrauen. Das hat Gründe.
Die erste Runde geht an … Friedrich Merz? Oder an die Opposition? Die hundert Tage sind erst in gut zwei Wochen vorbei, aber jetzt verabschiedet sich der Kanzler in einen kurzen Sommerurlaub, vorher bringt der Finanzminister noch den Haushalt 2026 ins Kabinett, das war’s dann fürs Erste. Und, wie war sie so, unsere neue Regierung?
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Ihre Antwort hängt sicher davon ab, in welchem politischen Lager Sie sich persönlich verorten: Als Wählerin der Grünen werden Sie bei Merz das Engagement für das Klima vermissen; falls Sie Heidi Reichinnek auf TikTok folgen, leben Sie in einer Dauerempörung über all die Unverschämtheiten, die von der Regierung ausgehen. Als CDU-Wähler geben Sie dem Team Merz vielleicht acht von zehn Punkten, falls Sie es mit der SPD halten, eher weniger. Wenn Sie der AfD zuneigen, halten Sie alle anderen ohnehin für unfähig.
Wen habe ich vergessen? Ach ja, die Anhänger der FDP. Hallo, ist da noch jemand?
Die Trendwende ist eingeleitet
Also, blicken wir auf die ersten drei Monate von Schwarz-Rot. Lassen Sie uns unterscheiden zwischen der A-Note für die Entscheidungen, die Merz und Klingbeil auf den Weg gebracht haben. Und der B-Note für das Bild, das die Koalition dabei abgibt, auch für die Professionalität ihrer Arbeitsabläufe.
Zunächst die A-Note. Friedrich Merz hat bei seinem Amtsantritt drei Ziele genannt, die er mit Priorität angehen werde: das Land nach drei Jahren Rezession wieder auf Wachstumskurs bringen; die Zahl der Flüchtlinge begrenzen; und Deutschlands Präsenz auf dem internationalen Parkett stärken, bis hin zu einer Führungsrolle in Fragen der äußeren Sicherheit. Drei Monate später ist festzustellen: Merz hat geliefert.
Die Regierung hat eine Investitionsoffensive gestartet. Mit Milliardenschulden. Vor der Wahl hat Merz anderes versprochen, das stimmt. Aber der Abschied von den eigenen Illusionen war überfällig, jetzt hat sich Deutschland vom Muff der Schuldenbremse befreit. Die Dax-Konzerne bestätigen den Kurs, sie kündigen eigene Milliardeninvestitionen an. Dazu haben die massiven Erleichterungen bei den Abschreibungen, die Schwarz-Rot beschlossen hat, beigetragen. Aus der Krise wird nicht in ein paar Wochen ein Boom, aber die Trendwende ist eingeleitet, die Daten der Wirtschaftsforscher zeigen das.

Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche.
Was in drei Monaten möglich war, hat die Regierung erreicht
Die Menschen spüren auch, dass die Innenministerin nicht mehr Nancy Faeser heißt, sondern der Innenminister Alexander Dobrindt. Er setzt in der Migrationspolitik um, was die Union angekündigt hat: strikte Grenzkontrollen, Zurückweisung auch von Asylbewerbern. Die Beziehungen zu den Nachbarländern sind daran nicht zerbrochen, wie es Grüne und Linke prophezeit haben. Im Gegenteil, Deutschland erhält viel Zuspruch. Wo es Probleme gibt, etwa im Verhältnis zu Polen, sind beide Seiten bemüht, sie zu lösen, unter Freunden. Eine Mehrheit der Deutschen hat diesen Kurs bei der Migration gewählt. Sie bekommt ihn.
Auf der internationalen Bühne tritt Merz souverän auf. Die Opposition hält ihm schon vor, er kümmere sich zu wenig um die Probleme vor der Haustür. Das ist kleinlich. Der Kanzler hat die Allianz mit Paris und Warschau erneuert, er nimmt die baltischen Staaten und ihre Sorgen vor der russischen Expansion ernst. Berlin und Brüssel agieren oft gemeinsam. Merz hat einen Gesprächsfaden mit Donald Trump geknüpft, ein Crash der Nato ist abgewendet, die Einigung über die Zölle ist eine gute Nachricht. Das eine ist für Deutschlands Sicherheit von zentraler Bedeutung, das andere für die Wirtschaft.
Was in drei Monaten in der Sache möglich war, hat die Regierung erreicht. Das Vertrauen, dass Deutschland bei ihr gut aufgehoben ist, fehlt aber trotzdem noch. Das liegt an der B-Note. Merz selbst hat noch vor seiner Wahl zum Kanzler auf einer unsinnigen Abstimmung über die Migrationspolitik im Bundestag bestanden. Das nutzte nur der AfD; die SPD war brüskiert. Um im Grundgesetz die Schuldenbremse zu lockern, brauchte er die Stimmen der Grünen, stieß diese aber zunächst vor den Kopf. Bei der Kanzlerwahl fiel er im ersten Anlauf durch. Diesem Anfang wohnte wenig Zauber inne, aber viel Ärger.
Union und SPD wollen eigentlich gar nicht miteinander regieren
Defizite im Management der Politik ziehen sich durch die Arbeit der Koalition. Zuletzt scheiterte die Wahl von drei Verfassungsrichtern an handwerklichen Fehlern. Die Fraktionen von Union und SPD tun sich schwer, die Mehrheiten für die Regierung zu organisieren. Jens Spahn galt anfangs als starker Mann hinter Merz. Seine Autorität als Fraktionschef der Union ist schon jetzt nachhaltig beschädigt.
Nach nicht einmal hundert Tagen drängt sich noch ein anderer Eindruck auf: Union und SPD wollen eigentlich gar nicht miteinander regieren. Obwohl sie schon zum fünften Mal in einer Koalition miteinander verbandelt sind, zuletzt allein dreimal unter Angela Merkel. Aber beide haben sich verändert. Die CDU verfolgt nicht mehr den versöhnlichen Mittekurs der einstigen Kanzlerin, ihr Profil ist jetzt prägnanter und ihre Politik konservativer. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des AfD-Erfolgs ist die Union nach rechts gerückt.
Die SPD ist nach links gerückt. Sie hat anfangs viel erreicht und die Schuldenbremse gekippt, dem Koalitionsvertrag ihren Stempel aufgedrückt, sieben Ministerien bekommen. Trotzdem fühlt sich das Regieren mit der Union für sie ungut an. Ob Außen- oder Innenpolitik, Wirtschafts- oder Sozialpolitik: Die Sozialdemokraten müssen sich im Bundestag disziplinieren, damit sie nicht an der falschen Stelle klatschen. Politisch und mental sind sie den Grünen und Linken viel näher als der CDU und der CSU.
Der Herbst wird heiß
Können Merz und Klingbeil diese Differenzen überwinden? Nach der Sommerpause wird es kompliziert. Renten, Gesundheit, Pflege, die Probleme der Sozialsysteme werden die Agenda bestimmen. Und vor allem: das Bürgergeld (SPD) versus Neue Grundsicherung (CDU/CSU).
Die Union hat vor der Wahl tiefgreifende Reformen versprochen, die SPD hat die Sicherung des Status quo versprochen. Das passt nicht zusammen. Ein Kompromiss schien kurz nach der Wahl dennoch möglich: Klingbeil schloss aus den desaströsen 16,4 Prozent für seine Partei, dass sie sich künftig wieder stärker um die arbeitenden Teile der Gesellschaft kümmern müsse. Arbeitsministerin Bärbel Bas kritisierte, wie kriminelle Clans das Bürgergeld missbrauchen. Die SPD näherte sich der Realität an.
Davon kann aktuell aber keine Rede mehr sein. Unter dem Eindruck linker Mehrheiten in Partei und Fraktion hat sich die SPD-Spitze in ihre ideologischen Bunkeranlagen zurückgezogen. Und Carsten Linnemann, der General(sekretär) der CDU, feuert eine verbale Salve nach der anderen auf diesen Bunker ab: "Ein Herbst, der sich gewaschen hat" stehe der Koalition bevor. Es ist Gift in der Debatte.
Da werden Erinnerungen wach
Daraus folgt: Auf die zweiten hundert Tage kommt es an. Wenn die Merz-Regierung den Herbst übersteht und die A-Note nach den überfälligen Entscheidungen immer noch gut ist, werden mehr Menschen als bisher ein Grundvertrauen gewinnen: Schwarz-Rot will regieren, und kann das auch. Soweit die Chance.
Das Risiko: Wenn Merz und Klingbeil bei der Rente nur teure Wahlversprechen einlösen und beim Bürgergeld Formelkompromisse erzielen, dann werden Erinnerungen an vergangene Zeiten wach. Nein, nicht an die Zeit der Ampelkoalition, das war ein Gebilde ganz eigener Art. Sondern Erinnerungen an die letzte Große Koalition unter Angela Merkel. An jene Regierung, die es ruhig angehen ließ – und die all die Probleme hinterlassen hat, vor denen Merz und Klingbeil jetzt stehen.
Ganz egal, ob Sie den Regierungsparteien nahestehen oder der Opposition von links oder rechts: Hoffen wir, dass die Koalition es schafft. Sie ist für vier Jahre gewählt, und es wäre fatal für das Land, wenn sie ihre besten Zeiten schon nach hundert Tagen hinter sich hätte.