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Spur im Vierfachmord von Annecy: Das perfekte Verbrechen


Spur im Vierfachmord von Annecy
Das perfekte Verbrechen

Von Dietmar Seher

Aktualisiert am 26.06.2018Lesedauer: 8 Min.
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Fahndungsbild und der Tatort: Vater, Mutter und Schwiegermutter der britischen Familie al-Hili sterben an dieser Stelle in den französischen Alpen nahe Annecy. Auch ein Fahrradfahrer wird erschossen.Vergrößern des Bildes
Fahndungsbild und der Tatort: Vater, Mutter und Schwiegermutter der britischen Familie al-Hili sterben an dieser Stelle in den französischen Alpen nahe Annecy. Auch ein Fahrradfahrer wird erschossen. (Quelle: Robert Pratta)

Der Vierfachmord in einem Alpental bei Annecy sorgte vor fast sechs Jahren für Entsetzen. Bisher konnte die französische Polizei das mysteriöse Verbrechen nicht klären – jetzt gibt es eine neue Spur: War damals ein Serienkiller unterwegs?

Bilder der öffentlichen Trauer gleichen sich, wenn ein Kind Opfer eines Verbrechens geworden ist. Teddybären stehen inmitten kleiner Grablichter. Die Schrift auf aufgestellten selbstgemalten Plakaten fragt nach dem Warum.

Ganz ähnlich hat das Dorf Pont de Beauvoisin in den französischen Alpen getrauert, als die Leiche der neunjährigen Maelys de Araujo in diesem Januar in den benachbarten Bergen gefunden wurde. Maelys war sechs Monate zuvor von einer Hochzeitsfeier verschwunden, die sie mit ihren Eltern besucht hatte.

Seit dem Spätwinter liegt der französischen Staatsanwaltschaft das Geständnis eines 34-jährigen Hochzeitsgastes vor, der schon im letzten Herbst verhaftet worden war: Nordahl Lelandais. Er will das Kind in seinem Auto mitgenommen haben, um ihm Hunde zu zeigen. Noch im Auto habe er es "aus Versehen" getötet. "Maelys wird dich Tag und Nacht verfolgen, bist du stirbst und zur Hölle fährst", schrieb die Mutter dem Mann.

Der Fall wühlt Frankreich auf – und seine nördlichen Nachbarn jenseits des Ärmelkanals gleich mit. Das ist nicht nur so, weil ein unschuldiges kleines Mädchen sterben musste. Nordahl Lelandais könnte noch weit mehr Tötungsdelikte auf dem Gewissen haben. Der Begriff Serienkiller fällt. Der Mord an einem 23-jährigen Soldaten wurde schnell mit ihm in Verbindung gebracht und auch der wohl aufsehenerregendste Kriminalfall der Grande Nation in diesem Jahrzehnt. Diese Tat liegt fast sechs Jahre zurück.

Die Opfer damals: Eine britische Familie und ein Fahrradfahrer. Der Mord an ihnen ist unaufgeklärt. Verschwörungstheorien, Mutmaßungen und Spuren haben die Ermittler ein halbes Dutzend mal in Sackgassen geführt. Steht dieser Vierfachmord von Annecy mit der Verhaftung von Lelandais vor einer Lösung?

Die Geschichte, die hier erzählt wird, beginnt am Nachmittag des 5. September 2012. Europa diskutiert gerade über einen technischen Zwischenfall im französischen Kernkraftwerk Fessenheim, über die Griechenland-Krise natürlich und immer wieder mal über den Irak und die Folgen des Krieges dort. Das Septemberwetter zeigt sich von der schönen Seite. Der britische Tourist William Brett Martin ist mit seinem Rad in einem kargen Hochtal bei Chevaline nahe Annecy in der französischen Provinz Haute Savoie unterwegs.

Er hält an, um Fotos der beeindruckenden Landschaft zu machen. Dabei überholt ihn ein anderer Radler. Es ist der Franzose Sylvain Mollier. Aber diesen Namen wird Martin erst hören, wenn die Polizei über die identifizierten Opfer des schauerlichen Verbrechens redet, auf das er bald darauf stößt.

Der Brite tritt nach der Pause in die Pedale – und trifft kurze Zeit später auf einen blutbeschmierten Tatort. Auf einem Waldparkplatz steht ein weinroter BMW mit laufendem Motor. Die Hinterräder drehen über dem Straßenrand durch.

William Brett Martin realisiert schnell: Dies hier ist der Schauplatz eines Massakers. Über dem Steuer des Autos hängt ein Toter, Saad al-Hili aus London, ein irakisschstämmiger Brite. Im Auto findet er zwei weitere Leichen. Es sind die von der Ehefrau Iqbal al-Hili (47) und der 74-jährigen Schwiegermutter des Fahrers, Suhaila. Im Fahrzeug lebt noch die siebenjährige Tochter der al-Hilis, Zainab. Sie ist, in die Schulter getroffen, schwer verletzt. Unverletzt wird später nur die vierjährige Zeena geborgen. Sie hatte sich im Fußraum unter dem Rock der Mutter versteckt. Etwas abseits sieht Martin den vierten Toten. Es ist der 42-jährige, der ihn bei seiner Fotopause vorhin auf dem Rad überholt hat. Martin benachrichtigt die Polizei.

"Ich habe zuerst das Fahrrad liegen gesehen", berichtet der frühere Royal Air Force-Pilot zwei Jahre später in der BBC. Erst habe er an einen fürchterlichen Unfall geglaubt. An eine Kollision zwischen dem Auto und dem Rad. Aber dann seien ihm die Einschusslöcher in den Autoscheiben aufgefallen und die siebenjährige Zainab, wie sie aus dem Auto torkelte. "Sie war schwer verletzt und ganz mit Blut bedeckt."

Recht schnell haben die Ermittler erste Details über den Tatablauf in dem einsamen Hochtal herausgefunden: Es gibt vier Leichen. Die Kopf- und Rückenschüsse stammen aus einer alten Schweizer Armeepistole des Typs Luger P 06. Sie sind für den Tod der vier Menschen ursächlich. Mollier, der Fahrradfahrer, ist alleine von sieben Treffern durchsiebt. Der Vater al-Hili, ein Computeringenieur, muss vor dem für ihn tödlichen Schuss noch versucht haben, durch das Zurücksetzen des BMW die Familie aus der Schusslinie des oder der Täter zu steuern. Nur so lassen sich die Reifenspuren und die überhängenden, durchdrehenden Räder erklären.

Täter soll mit Motorrad geflüchtet sein

Vier Minuten habe der Überfall gedauert, glaubt die französische Polizei. Sie sieht darin eine "kaltblütige" Tötung. 25 leere Patronenhülsen hat sie am Tatort sicherstellen können. Möglicherweise war der Täter, der nach der Tat offenbar mit einem Motorrad durch den Ortskern von Chevaline verschwand, alleine. Denn als die verletzte Zainab später aus einem Koma erwacht, erinnert sie sich: Da sei "ein Böser" gewesen. Aber ist so eine Aussage belastbar? Die unverletzte Zeena hat in ihrem Versteck unter dem Rock der Mutter gar nichts gesehen. Nur Schreie hat sie gehört.

Heute, fast sechs Jahre danach, wissen Gendarmerie und Staatsanwälte kaum mehr als 2012. Das gilt für die möglichen Mörder wie für das mögliche Motiv. Mangels greifbarer Verdächtiger setzten die Fahnder die Nachfragen zunächst bei den Mordopfern an. Aber je tiefer sie nach Fakten und Fiktionen in deren Umfeld gruben, desto schneller jagte eine Theorie die andere. Die Sache al-Hili entwickelte sich für die Ermittler zum Debakel, über das der britische Journalist Tom Parry 2015 ein detailreiches Buch geschrieben hat. Der englische Titel heißt: "The perfect crime". Das perfekte Verbrechen.

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Erbstreit? Industriespionage? Saddams-Millionen?

Steckte ein Erbstreit dahinter? Saad al-Hili lag mit seinem Bruder wegen eines Grundstücks über Kreuz. Der vorübergehend sogar Festgenommene hat jedoch seine Unschuld belegen können. Die Spur ist schnell ins Off gegangen.

War die Tat im Milieu der Industriespionage anzusiedeln? Der tote 50-jährige Familienvater arbeitete in der sicherheitsempfindlichen britischen Luft-und Raumfahrtsbranche. Oder mischte ein Geheimdienst mit aus dem Kreis der üblichen Verdächtigen?

Das alles blieb genau so ohne Beweise wie ein in Zeitungen verbreitetes Gerücht, al-Hilis Vater habe auf einem Schweizer Konto eine Million Dollar aus dem Vermögen des 2006 gehängten früheren irakischen Staatschefs Saddam Hussein gehortet. Der ermittelnde Staatsanwalt Eric Maillaud jedenfalls widersprach dem heftig: Er habe nie etwas davon gehört.

Als schließlich zwei Jahre nach der Tat herauskommt, dass Iqbal, Saads Ehefrau, von 1999 bis 2000 schon einmal in den Vereinigten Staaten verheiratet war, ohne dies ihrer späteren Familie je gesagt zu haben, kommt es zur verrücktesten Volte. Die Spekulationen treiben in Richtung Familiendrama. Der Höhepunkt: Der verschwiegene Ex-Ehemann James T. aus Natchez/Mississipi ist genau an dem Tag einem Herzinfarkt erlegen, an dem seine Ex-Frau weit weg im Süden Frankreichs durch Gewalteinwirkung umgekommen ist. Die Information erweist sich als verschwörungstheoretisch und wertlos.

Galt der Angriff vielleicht doch dem Fahrradfahrer?

Zunächst war sich die französische Polizei sicher: "Das Motiv für die Tat liegt in Großbritannien". Dann dämmerte es ihr: War die britische Familie überhaupt das Ziel des Anschlags? Oder galten die Schüsse dem Fahrradfahrer Mollier, dessen Tod man zunächst für einen Kollateralschaden gehalten hatte? Kamen, anders, die Briten dem oder den Tätern durch einen puren Zufall als unbequeme Zeugen in die Quere? Dafür spricht: Der Radfahrer ist zuerst getötet worden, ergibt die kriminaltechnische Untersuchung.

Mollier hatte in der Kernenergie-Branche gearbeitet, ein für die kriminalistische Motivsuche durchaus interessanter Arbeitsplatz. Aber dort war er ein Schweißer unter vielen. So rückte mehr sein persönliches Umfeld in den Blick - und damit erstmals der Name eines möglichen Täters. Molliers Partnerin kannte einen früheren Fallschirmjäger der Fremdenlegion, Patrice Menegaldo. Und Molliers Schwester Sylvaine hatte über sieben Jahre ein Verhältnis mit dem ehemaligen Legionär. "Als die Polizei uns über den Tod meines Bruders befragte, wollte sie wissen, wer in unserem Bekanntenkreis Waffen besitze. Patrice hatte Waffen, und wir erzählten das", berichtete Sylvane später. Der Verdacht verstärkte sich: Auseinandersetzungen im Kreis der Molliers könnten mit dem Vierfach-Mord zu tun haben. Aber: auch dieser Zusammenhang ist nicht mehr aufzuklären. Patrice Menegaldo ist tot. Der 50-jährige hat 2014 Suizid begangen.

Erbstreit. Spionage. Familienkrach. Der Radfahrer. Die Sackgassen haben bis bis heute enorm Zeit gekostet. Beigetragen haben dazu auch die Reibungsverluste in der Zusammenarbeit der Polizeien in England und Frankreich. Beide Länder lösen solche Kriminalfälle nach unterschiedlichen rechtlichen Regeln. Das sich endlos hinziehende Verfahren hat die in Großbritannien lebenden Angehörigen der al-Hilis wütend gemacht. Verwandte der Toten warfen den französischen Fahndern vor, die Spur zum Fahrradfahrer Mollier zu vernachlässigen. Unterschwellig tauchte sogar der Begriff "Rassismus" auf. Die beiden überlebenden Mädchen Zainab und Zeena sind inzwischen bei Pflegefamilien untergebracht, aber in nicht-muslimischen. Auch das hat für Kritik der al-Hili-Familie gesorgt.

War es am Ende doch ein Franzose? Ein "Touristenhasser", wie manche in den Hochsavoier Alpen glauben? Oder tatsächlich der geständige Mörder von Maelys, der Neunjährigen, die bei der Hochzeit verschwundenen war und deren Leiche man gefunden hat?

Liste mit fast 30 Opfern

Alle beunruhigenden, ungelösten Fälle in der Region würden neu bewertet, hat Staatsanwalt Thiery Dran versprochen, nachdem im September 2017 Nordahl Lelandais festgenommen worden war. Es gibt eine Liste mit fast 30 Opfern, deren Tod oder Verschwinden bis ins Jahr 2011 zurückreichen und die auf einen Zusammenhang mit Lelandais überprüft werden soll. Der Vierfachmord vom Hochtal bei Chevaline ist in dieser Liste enthalten.

Die Polizei kommt schrittweise voran. Seit wenigen Wochen hat sie ein weitergehendes Geständnis des 34-Jährigen in den Akten stehen. Danach hat er nicht nur die kleine Maelys de Araujo getötet, sondern, Monate zuvor in der Nacht vom 11. auf den 12. April 2017, auch den 23-jährigen Korporal Arthur Noyer. Mit dem Tod der drei britischen Familienmitglieder und von Sylvain Mollier will Nordahl Lelandier dagegen nichts zu tun haben.

Ärzte gehen Psyche von Lelandais auf den Grund

Noch nicht? Könnten die drei al-Hilis und der Radfahrer Mollier einem Serienkiller zum Opfer gefallen sein, einfach, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren? Wissenschaftler wie Christoph Paulus von der Universität des Saarlandes glauben: "Serienmorde besitzen im Gegensatz zu einfachen Morden kein direkt erkennbares Motiv". Die Ursache, höchst aggressiv zum Serienmörder zu werden, liege oft in der Kindheit und Jugend des Täters und in dem Bestreben, Macht über andere auszuüben.

Vielleicht können die Ärzte der Psychiatrischen Klinik Le Vinatier in Lyon mehr über die Person des Verdächtigen herausfinden. Dort ist Nordahl Lelandais untergebracht worden. Seine Mutter hat erzählt, während der Schulzeit ihres Sohnes sei es zu einem Ereignis gekommen, das ihn unvermittelt die Ausbildung abbrechen ließ und in die Arme der Armee trieb. Was da passiert ist? Das weiß sie nicht. Oder sie schweigt darüber.

Sechzig Jahre zuvor starb ebenfalls eine britische Familie

Vielleicht aber ist am Ende auch alles so wie bei der Affäre Dominici. Im französischen Durance-Tal war im August 1952 eine vierköpfige britische Familie bei der Übernachtung in freier Natur getötet worden. Die Leichen wurden – wie bei Annecy – kurz nach der Tat aufgefunden. Ein 76-Jähriger aus dem Clan der Dominici wurde dafür zum Tode verurteilt, vom damaligen Staatschef Charles DeGaulle aber begnadigt.

Die für das Urteil grundlegende Beweislage geriet höchst spärlich. Für viele Briten wie Franzosen erscheint der Todesfall der Familie von Sir Jack Drummond aus dem Jahr 1952 deshalb bis heute so wie der Vierfachmord von Annecy fast auf den Monat genau 60 Jahre später: Als ungeklärtes Rätsel.

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