Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Trump löst Aufruhr aus

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
nach mehr als 580 Tagen Krieg steht Israel am Scheideweg: Will es Frieden anbahnen oder auf lange Sicht weiterkämpfen, weiter töten, weiter leiden? Das ist im Nahen Osten die Frage der Woche. Donald Trumps Reise nach Saudi-Arabien, Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate entpuppt sich dabei als entscheidende Wegmarke.
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Der Präsident verschiebt Amerikas Interessen im Nahen Osten: Seine Geschäfte in den Golfstaaten sind ihm erkennbar wichtiger als die jahrzehntelange Treue der USA zu Israel. Die Immobiliendeals seiner Söhne und der Trump Organization, der Kryptowährungsfonds seines Nahostberaters, Waffen für die Araber und Petrodollars für amerikanische KI-Projekte, von denen wiederum Trumps Clan profitiert: Der mächtigste Mann der Welt stellt auf der ersten großen Auslandsreise seiner zweiten Amtszeit das Business in den Vordergrund.
Friedensimpulse für Gaza? Fehlanzeige. Lieber schließen Trumps Leute schnelle Deals mit der Hamas zur Freilassung der letzten US-Geisel und mit den jemenitischen Huthi-Rebellen, um die Schifffahrtsrouten am Persischen Golf zu sichern. Gestern Abend haben sie auch noch rasch die Sanktionen gegen Syrien aufgehoben, wo lukrative Ölgeschäfte locken. Angeblich verhandeln sie auch schon mit den Iranern. Weltpolitik nach dem IMWIW-Prinzip: Ich mach', was ich will.
Mit zunehmender Beunruhigung registrieren israelische Regierungsvertreter, dass Amerikas Unterstützung womöglich endlich sein könnte. Nicht, weil Trumps Administration viel Empathie für das Leid der Palästinenser aufbringt. Sondern, weil der komplizierte Nahostkonflikt sie schlicht nicht interessiert.
Dabei schreit das Leid zum Himmel. Deutsche Amtsträger beginnen ihre Ausführungen bei Besuchen in Jerusalem stets mit dem Hinweis auf die bestialischen Hamas-Morde in Israel vor anderthalb Jahren und das schlimme Schicksal der Geiseln, von denen 20 ziemlich sicher und 3 weitere womöglich noch am Leben sind. Den Höllensturm der israelischen Armee im Gazastreifen kleiden sie dagegen allenfalls in sorgenvolle Worte. Wer in arabischen Ländern den Fernseher anknipst, hört und sieht dagegen das ungeschminkte Grauen: zerfetzte Körper, verhungernde Kinder, Trümmerlandschaften, die mal Städte waren.
Doch der Krieg zerstört nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter. Beide Gesellschaften – sowohl die palästinensische als auch die israelische – seien tief traumatisiert, sagt ein führender israelischer Journalist. Beide Seiten sähen in den Gegnern keine Menschen mehr, sondern nur noch Feinde. Und auf beiden Seiten fehlten starke Anführer, die echtes Interesse an Frieden hätten. Sowohl die Hamas-Befehlshaber als auch Netanjahu und seine Regierung handelten ausschließlich egoistisch. "Eigentlich sind wir alle ihre Geiseln."
Eine Meinung, die von vielen liberal gesinnten Israelis geteilt wird. Die Mehrheit der Bevölkerung wolle, dass die Geiseln freikommen, dass das Sicherheitsversagen am 7. Oktober 2023 aufgearbeitet wird und dass es schnell Neuwahlen gibt, um einen Neuanfang zu ermöglichen, zitiert eine andere Journalistin aktuelle Meinungsumfragen. Immer weniger Menschen seien bereit, den Feldzug im Gazastreifen zu unterstützen. Tatsächlich verweigern mittlerweile viele Reservisten den Einberufungsbefehl, schon mehr als 100.000 sollen es sein. "Nach dem Hamas-Terror und 500 Tagen Krieg in Gaza sind wir ausgebrannt", sagt ein Historiker.
Wer könnte helfen, die Gewaltspirale zu durchbrechen? Sollte sich aus Trumps Golfstaatsvisite tatsächlich keine diplomatische Initiative ergeben, werden Netanjahu und seine rechtsextremen Minister den Feldzug im Gazastreifen wohl ausweiten und versuchen, Hunderttausende Palästinenser über die Grenze nach Ägypten zu vertreiben, glauben israelische Kommentatoren. Siedlerorganisationen schmieden bereits Pläne für die Landnahme.
Können deutsche Politiker etwas tun, um die nächste Eskalation zu verhindern? Dieser Tage geben sich Amtsträger aus Berlin in Jerusalem die Türklinke in die Hand. Der neue Außenminister Johann Wadephul war gerade hier, hinterließ jedoch einen blassen Eindruck.
Nun ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier angereist. Er kennt das Land und dessen führende Politiker seit Jahrzehnten. Sein Gespräch mit Netanjahu war vertraulich, nur eine dünne Erklärung wurde hinterher bekannt. Aber man darf davon ausgehen, dass er mehr gesagt hat, als nur seine Sorge auszudrücken.
Für Klartext ist es höchste Zeit. Gerade weil Deutschlands Staatsvertreter eine besondere Verantwortung für Israel und dessen Sicherheit haben, sollten sie lauter und deutlicher einfordern, dass israelische Politiker und Generäle endlich die Menschenrechte achten und Zivilisten verschonen. Die Ideologie der Hamas lässt sich nicht ausmerzen, indem man immer wilder um sich schlägt und neben Terroristen auch Zigtausende Unschuldige tötet. Es braucht Verhandlungen, es braucht Allianzen mit den Golfstaaten, es braucht neben dem Austausch von Geiseln und Gefangenen auch politische Zugeständnisse.
Bleibt die Frage, ob Israels Ministerpräsident diese Botschaft versteht und ausnahmsweise einmal nicht egoistisch handelt. Für diesen Mann wäre das tatsächlich ein Wunder. Und für die Region der dringend nötige Hoffnungsschimmer.
Merz macht Ansage
Ein bisschen fremd klingen die neuen Zuordnungen von Namen und Ämtern ja schon noch. Aber gut, gewöhnen wir uns dran: Im Bundestag steht heute zunächst eine Regierungsbefragung mit Finanzminister Lars Klingbeil und Kanzleramtschef Thorsten Frei auf der Tagesordnung, bevor Bundestagspräsidentin Julia Klöckner der verstorbenen Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer nachruft. Und dann, etwa um 13 Uhr, folgt die erste Regierungserklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz, an die sich eine zweistündige Debatte anschließt. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hatte die Erwartungen im Vorfeld hochgeschraubt: Mit Blick auf seinen Parteichef kündigte er "vielleicht eine seiner wichtigsten Reden in diesem Jahr" und die Vorstellung einer "Agenda 2030" an.
Wir erinnern uns: "Agenda 2030" hatte die CDU schon im Januar ein wirtschaftspolitisches Extrakt ihres Wahlprogramms genannt – mit dem feinen Unterschied, dass sie damals noch an der Schuldenbremse festhalten wollte. Einige Punkte aber haben es tatsächlich in den schwarz-roten Koalitionsvertrag geschafft, weshalb mit Schlagworten wie Investitions-Booster (Steuerentlastungen für investierende Firmen), Aktivrente (bis 2.000 Euro im Monat steuerfrei für arbeitende Rentner) oder Bürokratierückbau und der Senkung von Energiekosten zu rechnen ist. Interessant wird die Antwort auf die Frage, was davon die selbst ernannte "Arbeitskoalition" noch vor der Mitte Juli beginnenden parlamentarischen Sommerpause umsetzen will. Bis dahin bleiben nur noch vier Sitzungswochen.
Ford steht still
Seit 1930 gibt es die Ford-Werke in Köln, zu einem gewerkschaftlich organisierten Streik jedoch ist es dort in den fast 100 Jahren noch nie gekommen. Das dürfte sich heute ändern: Wie die IG Metall mitteilt, soll die Arbeit vom Beginn der Frühschicht bis Ende der Nachtschicht am Donnerstagmorgen ruhen, an den Werkstoren werden Streikposten aufgebaut.
Die Protestaktion richtet sich gegen einen geplanten Stellenabbau an dem Standort mit 11.500 Beschäftigten: Bis Ende 2027 will der Autobauer 2.900 Arbeitsplätze streichen, um Kosten zu senken. Die Gewerkschaft möchte das verhindern und fordert einen Sozialtarifvertrag mit hohen Abfindungen und finanziellen Sicherheiten. Allerdings sind die Einflussmöglichkeiten des deutschen Managements begrenzt: Die Ford-Oberbosse sitzen in den USA.
Rechts und renitent
Der Fall ist brisant: Wegen Volksverhetzung und übler Nachrede wurde der rechtsextreme Provokateur Sven Liebich im Juli 2023 vom Amtsgericht Halle zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt. Berufungen scheiterten vor dem Landgericht Halle, woraufhin Liebich Revision einlegte, mit der sich nun in letzter Instanz das Oberlandesgericht Naumburg befassen muss. Zwischenzeitlich hat der Neonazi – wohl als erneute Provokation – seinen Personenstand von männlich auf weiblich ändern lassen und nennt sich nun Marla-Svenja. Dass Liebich im Falle einer Bestätigung der Haftstrafe ins Frauengefängnis kommt, gilt trotzdem als unwahrscheinlich.
Ohrenschmaus
Heute was Feines gefällig? Bitte sehr.
Lesetipps
Schon am Donnerstag könnte es in Istanbul zu Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine kommen. Kremlchef Putin gerät plötzlich unter Zugzwang, schreibt mein Kollege Patrick Diekmann.
Kanzler Merz will nicht mehr über den Taurus sprechen. Wird er der Ukraine den mächtigen Marschflugkörper trotzdem liefern? Unsere Reporter Daniel Mützel und Johannes Bebermeier berichten.
Drohen wegen der Trockenheit in Deutschland bald riesige Waldbrände? Mein Kollege Leon Pollok hat Experten befragt.
Zum Schluss
Die Scheichs machen Weltpolitik.
Ich wünsche Ihnen einen hellsichtigen Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.