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Münchner Oktoberfest 1980: Wer verübte den Anschlag? │Ungeklärte Kriminalfälle


13 Menschen tot, 211 verletzt
Wer verübte den Anschlag aufs Münchner Oktoberfest?

Von Dietmar Seher

Aktualisiert am 23.09.2018Lesedauer: 9 Min.
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München, 26. September 1980: Beim Anschlag auf das Oktoberfest starben dreizehn Menschen.Vergrößern des Bildes
München, 26. September 1980: Beim Anschlag auf das Oktoberfest starben dreizehn Menschen. (Quelle: amw/ullstein-bild)

Im Herbst 1980 explodierte am Haupteingang zum Münchner Oktoberfest eine Bombe. Sie riss 13 Menschen in den Tod. Ein Student, der der rechten Szene zugehörte, wurde schnell zum Alleintäter erklärt. Seine Motive seien privat. Daran glaubt kaum noch jemand. Aber neue Ermittlungen kommen nur schleppend voran. Zu viele Merkwürdigkeiten belasten die Aufklärung.

Hans Roauer aus Donauwörth hat viel Metall im Körper. Überall stecken die kleinen Splitter. Im Kopf. In der Schulter. In den Beinen. Ein Bein wäre ihm nach dem Ereignis damals beinahe amputiert worden. Er ist froh, die Ärzte konnten es retten.

Damals. Das ist lange her, am 26. September 1980 am Eingang zur Theresienwiese, wo die Münchner ihr Oktoberfest feierten. "Wir waren auf dem Nachhauseweg". Roauer sah ein Auto und am Auto einen jungen Mann, der sich mit den Insassen unterhielt – konkreter: wohl stritt. "Sie hatten einen heftigen Wortwechsel", so Roauer. Der junge Mann wandte sich ab, lief mit einer hellen Tüte in der Hand an Roauer vorbei zu einem Papierkorb. Er legte die Tüte hinein. Es gab einen hellen Blitz. Einen lauten Knall. An mehr kann sich Roauer nicht erinnern.

Mehr als ein Kilogramm TNT

Der helle Blitz, der laute Knall, die metallenen Splitter: Sie waren die Folge einer Bombenexplosion, die an diesem späten Abend 13 Menschen das Leben kostete. 211 wurden verletzt, 68 davon schwer – wie Roauer oder Dimitros Lagkadinos, der erst 17 Jahre alt war. Er sitzt heute im Rollstuhl. Gabriele, die Freundin, überlebte nicht. Oder wie Claudia Redlin, die man splitterdurchsiebt fand. Sie stand direkt neben dem Papierkorb, als die Bombe explodierte. Sie konnte gerettet werden.

Die Herkunft des Sprengsatzes ist unbekannt, seine genauere Zusammensetzung schon: Eine abgesägte, 1954 in London hergestellte Mörsergranate, kombiniert mit dem Druckbehälter eines Feuerlöschers aus österreichischer Produktion, gefüllt mit 1,4 Kilo TNT-Sprengstoff und mit einem einfachen Zünder ausgestattet. Das Attentat auf der Wies'n gilt als schwerster terroristischer Angriff in der deutschen Nachkriegszeit. Wer ihn plante? Wer da hinter steckte? Was er bezweckte? Vieles ist unklar. Bis heute.

Schon kurz nach der Tat nannten bayerische Sicherheitsbehörden einen Täter-Namen: Gundolf Köhler, 21, Student der Geologie aus Donaueschingen. Er habe alleine gehandelt. Motive für den Anschlag lägen in Beziehungsproblemen, auch in der nicht bestandenen Klausur zum Vordiplom. Köhler sei bei der Tat ums Leben gekommen. Die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft, die diese bald an sich gezogen hatte, wurden Ende 1982 eingestellt.

Gab es eine zweite Bombe?

Doch die Einschätzung von Experten bei Justiz und Polizei, in Medien und in der Politik ist längst eine andere: Die frühe These der Ermittler von einer Alleintäterschaft hat zu kurz gegriffen.

Nicht nur Beobachtungen wie die von Hans Roauer widerlegen sie. Auch ein anderer Augenzeuge, Frank Lauterjung, der nach eigenen Angaben am Oktoberfest-Eingang auf der Suche nach Partnern für gleichgeschlechtlichen Sex war, berichtete in mindestens fünf Befragungen, er habe Köhler mit weißer Tüte und einem kleinen Koffer in der Hand eine halbe Stunde vor der Tat in Begleitung zweier Männer in grünen Parkas gesehen.

Und eine "Ingolstädter Gruppe", drei Frauen und zwei Männer, die das Oktoberfest besuchten, ist sicher: Am Rand des Bavariarings gab es eine zweite Stichflamme aus einem Gully. Der Münchner Jurist Werner Dietrich, der Opferangehörige als Anwalt vertritt, hat davon berichtet. Seine Information könnte bedeuten: Es gab eine zweite Bombe. Eine, die nicht richtig zündete.

Doch mehr als alle Beobachtungen führen die Person des mutmaßlichen Bombenlegers Gundolf Köhler und seine Kontakte zu Fragen nach dem Hintergrund des Anschlags. Der Student war schon mit 14 Jahren bei NPD-Veranstaltungen gewesen, hatte frühzeitig Bomben im eigenen Keller gebastelt, war später in der rechtsextremen Szene aktiv unterwegs und Mitglied der militanten "Wiking-Jugend". Über seinem Bett hing das Bild Adolf Hitlers. Waren die Autoinsassen, die Roauer in Erinnerung und die Lauterjung beschrieben hat, Köhlers Neonazi-Komplizen?

Anfrage an den Generalbundesanwalt

Seit nun bald vier Jahren wird im Fall des Oktoberfestattentats erneut ermittelt. Im Dezember 2014, 34 Jahre nach der Tat, ordnete Generalbundesanwalt Harald Range die Wiederaufnahme des Verfahrens an. Neue Zeugen hatten sich gemeldet. Hinweise auf Mitwisser und Mittäter hätten sich verstärkt. Range ist mittlerweile verstorben. Sein Nachfolger Peter Frank führt das Verfahren.

Inzwischen musste das Bundesamt für Verfassungsschutz auf eine Klage der Bundestags-Grünen hin geheimgehaltene Akten an die Bundesanwälte herausgeben. Das Verfassungsgericht ist dem Grünen-Antrag 2017 gefolgt und hat speziell Auskünfte über V-Leute in der Szene zugestanden. Hat das weiter geholfen?

t-online.de hat in Karlsruhe nach dem Stand und auch nach mehreren Details gefragt. Die Antwort von Frauke Köhler, der Sprecherin der obersten Anklagebehörde: "Die Ermittlungen dauern nach wie vor an. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich Ihnen vor diesem Hintergrund derzeit zu Einzelheiten keine Auskünfte erteilen kann." Allerdings hat die ZDF-Sendung "XY Ungelöst" im letzten Jahr Hinweise gegeben, in welche Richtung die Recherchen laufen: Die Fahnder wollen vor allem die Spur des Sprengsatzes verfolgen.

Menschen flohen in Panik

Die besondere Zurückhaltung der Ermittler ist so alt wie der Fall selbst. Das liegt nicht nur daran, dass viele Fragen nicht beantwortet sind. Der Wies'n-Anschlag war zwei Wochen vor der Bundestagswahl 1980, bei der CSU-Chef Franz-Josef Strauß kandidierte und die Kanzlerschaft von Helmut Schmidt (SPD) auf dem Spiel stand, politisch hochbrisant – und ist es noch immer.

Was ist passiert am Abend des 26. September 1980 und an den Tagen danach?

Es ist 22.19 Uhr. Noch dröhnt bayerische Blasmusik aus den Zelten auf dem größten Volksfest der Welt, wo jeden Herbst 16 Tage lang zwischen vier und sechs Millionen Menschen Spaß haben wollen. Der Ausschank wird in wenigen Minuten schließen, auch das Riesenrad macht dann ein paar Nachtstunden Pause. Tausende drängen zum Ausgang nahe der Brausebadinsel, wo der Taxifahrer Bernd Kellner vier Gäste in sein Fahrzeug einsteigen lässt.

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Dann nimmt er in zwölf Meter Entfernung die Stichflamme wahr. Nach Schätzungen von Zeugen schießt sie acht Meter hoch in den dunklen Himmel über München. Unten sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld. Menschen liegen tot oder sterbend auf dem Pflaster. Andere laufen schreiend weg. Auch Kellners Fahrgäste reißen die Türen auf und fliehen in Panik. Kellner springt aus dem Auto. Quer über seinem Kofferraum liegt eine zerfetzte Leiche.

Rechte Truppe in Pseudouniformen

Kellner ist es wohl, der als erster Alarm schlägt. Er informiert die Funkzentrale, es sei etwas Schreckliches passiert. Als Polizei und Rettungsdienste eintreffen, ist ihnen klar: Eine Großlage. Bayerns Landeskriminalamt bildet mit 50 Beamten die SoKo Theresienwiese. Polizisten sperren den Tatort und stellen erste Beweismittel sicher. Nahe der Explosionsstelle und an einer stark verstümmelten Leiche finden sie einen Personal- und einen Studentenausweis – beide ausgestellt auf einen Gundolf Köhler aus Baden-Württemberg.

Im engeren Umfeld bergen sie die Reste einer menschlichen Hand. Abdrücke dieser Hand werden später in der Wohnung des Studenten erfasst. Ein zahnärztliches Gutachten der sterblichen Überreste bringt Klarheit: Sie glauben, mit Köhler den Urheber des Attentats identifiziert zu haben. Er habe die Nägel und die Schrauben in den Feuerlöscher gefüllt und dann die Bombe zu früh gezündet. Tödlich für ihn – und für zwölf unschuldige Wies'n-Besucher.

Doch zeitnah ermittelt die SoKo auch, dass es zu Köhler einen brisanten Eintrag im Nachrichtendienstlichen Informationssystem NADIS gibt. Der Student ist Anhänger der Wehrsportgruppe Hoffmann, einer 400 Köpfe starken Truppe in Pseudouniformen, die in Feldern und Wäldern mit scharfer Munition übt und alten Bundeswehr-Autos herumfährt, die nationalsozialistisches Gedankengut pflegt und die sich in Palästinenserlagern im Libanon militärisch fit macht.

Wehrsportführer Karl-Heinz Hoffmann hält die Demokratie für "impotent" und will sie durch eine rechte Diktatur ersetzen. Notfalls mit Gewalt. Die sozialliberale Bundesregierung hat Hoffmanns Gründung gegen den Willen der bayerischen Staatsregierung, die das Auftreten nur für ein "Kasperltheater" hält, Anfang 1980 verboten.

"Alkoholbedingte Aufschneiderei"

Der mutmaßliche Oktoberfest-Attentäter Gundolf Köhler hat an zwei Übungen der Möchtegern-Militärs teilgenommen. Auch das geht aus der Datei NADIS hervor. Was zudem besagt: Köhler war kein Unbekannter. Die beobachtenden Verfassungsschützer müssen ihn lange vor der Tat im Visier gehabt haben.

Tatsächlich macht sich die Bundesanwaltschaft am 27. September auf die Suche nach möglichen Kumpanen. Doch die bayerischen Kollegen setzen sich mit der Alleintäter-These überraschend schnell durch. Hans Langemann ist ihr entschiedener Verfechter, der mächtige Staatsschutz-Chef im Freistaat. So fallen zwei wichtige Aussagen unter den Tisch, die Hintermänner belasten könnten.

Die eine kommt von Ulrich Behle. Er war einer der vielen V-Leute des Verfassungsschutzes in der Wehrsportgruppe Hoffmann. Ein Teil der Mitglieder hatte sich nach dem Verbot nach Nahost abgesetzt. Monate nach dem Attentat sitzt Behle in der Bar des Hotels "Byblos" im syrischen Damaskus mit einem Kellner beim Bier. Sie sprechen über die Münchner Ereignisse. Behle sagt, so steht es in den Akten: "Wir waren es." Die Aussage wird nicht angezweifelt. Aber sie verschwindet in den Archiven der Sicherheitsbehörden als "alkoholbedingte Aufschneiderei". Abgehakt.

Die andere hat ein Stefan Wagner gemacht, auch Mitglied in der Wehrsportgruppe und beim rechtsextremen "Sturm 7". Tobias von Heymann hat 2008 auf den Mann verwiesen. Von Heymann gehört wie der Fernsehreporter Ulrich Chaussy zu den Journalisten, die seit Jahrzehnten immer wieder versucht haben, die Hintergründe des Oktoberfestattentats zu beleuchten. Von Heymann über den hessischen Neonazi Wagner: "Am 2. August 1982 lieferte er sich nach einer Schießerei mit Geiselnahme eine stundenlange Verfolgungsjagd mit der Polizei. Dabei legte er gegenüber Geiseln eine Art Geständnis ab und bezichtigte sich selbst der Teilnahme an dem Münchner Attentat. Dann erschoss er sich."

Das Jahr des braunen Terrors

Kann es also sein, dass Köhler nur ein Vehikel war, eine "Randfigur", wie es Reporter Chaussy sagt und wie es Opferanwalt Dietrich nicht auszuschließen will? Dass die Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG) oder ein noch größeres mörderisches Netzwerk das Münchner Massaker angerichtet haben?

Die Zeitumstände waren danach. Nicht nur die linke Rote Armee Fraktion (RAF) mordete in jenen Jahren. Zwischen 1976 und 1982 kam es zu mindestens 14 gezielten größeren Gewalttaten der rechten Szene mit Toten und Verletzten. Die Autorin Andrea Röpke schreibt in ihrer Untersuchung "Blut und Ehre? Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland": "1980 war das braune Terrorjahr. Durch rechtsterroristische Anschläge starben alleine in diesen zwölf Monaten nach offiziellen Angaben 18 Menschen."

Vieles liegt im Dunkeln, was Spuren hin zu weiteren Oktoberfest-Mördern liefern könnte.

Ungeklärt: Warum Hoffmanns Truppe noch kurz vor der Tat und am Tattag unter einer besonderen Beobachtung von Fahndern und Verfassungsschützern stand. Die Wehrsportler wollten mit vier Geländefahrzeugen gebrauchtes militärisches Material in den Nahen Osten überführen. Ihr Konvoi wurde gestoppt. Die Besatzungen wurden zur Vernehmung gebracht – und wieder laufen gelassen.

Ungeklärt: Ob WSG-Boss Hoffmann zwei Monate vor dem Attentat in Italien war, um sich dort mit Neofaschisten abzusprechen, wie es aus nach dem Mauerfall aufgefundenen Akten der DDR-Staatssicherheit hervorgeht. Die italienische "Ordine Nuovo" – deutsch: die "Neue Ordnung" - war in den 1970er und 1980er Jahren für Bombenanschläge verantwortlich, so den am 2. August 1980 auf den Bahnhof von Bologna mit 80 Toten.

Ungeklärt: Dass ein Polizist nahe dem Tatort auf "etwas schwammiges, weiches" trat und eine weitere Hand fand, die zu keinem der identifizierten Todesopfer des Anschlags gehörte, und dass sich zeitnah in der Oststadt-Klinik in Hannover ein "Unfallopfer" mit einem rechten Armstumpf behandeln ließ, der nur von einer Explosion stammen konnte. Der junge Mann verschwand, als man ihn näher befragte.

Ungeklärt schließlich: Die Rolle des rechtsextremen Waffenexperten Karl-Heinz Lembke, Herr über 20 geheime Waffendepots und teilweise schwere Kaliber. 1981 wurde er verhaftet, kündigte an, er wolle über den rechten Untergrund auspacken. Am Tag der Vernehmung aber fand man ihn tot in seiner Zelle, wo er sich mit einem Kabel das Leben genommen haben soll. Er hinterließ einen rätselhaften Satz: "Es ist Wolfszeit."

Beweismittel wurden vernichtet

Dass der schwerwiegendste Terroranschlag in der deutschen Nachkriegsgeschichte immer noch nicht aufgeklärt wurde, ist nicht zuletzt auf eine massive Regelverletzung durch die Ermittlungsbehörden zurückzuführen. 1997 wurden die Asservate der Tat vernichtet – angefangen von den Resten des TNT-Sprengsatzes bis hin zu an der Wies'n aufgefundenen und nicht konkret identifizierbaren Körperteilen. Mit den heutigen Methoden der DNA-Untersuchung wären 2018 Zuordnungen zu Namen und Menschen möglich gewesen – und rechtens. Mord verjährt nicht.

Im Durchgang des Münchner Rathauses hängt seit Anfang diesen Monats eine Erinnerungstafel. Oberbürgermeister Dieter Reiter hat sie eingeweiht. Sie ist den Oktoberfest-Opfern des 26. September 1980 gewidmet. Sie enthält zwei Botschaften. Die erste zeigt in die Richtung der möglichen Täter: "Rechtsextreme Taten fordern unsere Wachsamkeit". Ein zweiter Satz heißt: Das unbeachtetete Leid der Opfer erfordere unsere Aufmerksamkeit.

Hans Roauer, dem Zeugen mit den Splittern im Körper, wurden 127 Euro Entschädigung monatlich zugestanden.

Verwendete Quellen
  • Der Spiegel, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung
  • Urteil Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/15
  • Bundestagsdrucksache 16/13527
  • Eigene Recherchen
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