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Tag der Befreiung: Deutschland, Russland und der 8. Mai 1945


Historiker über Kriegsende 1945
"Den Nazis waren die eigenen Leute völlig egal"

InterviewVon Marc von Lüpke

07.05.2025 - 09:30 UhrLesedauer: 8 Min.
Adolf Hitler: Der deutsche Diktator hatte den Zweiten Weltkrieg entfesselt.Vergrößern des Bildes
Adolf Hitler: Der deutsche Diktator hatte den Zweiten Weltkrieg entfesselt. (Quelle: ullstein-bild)
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Vor 80 Jahren befreiten die Alliierten die Welt vom Nationalsozialismus. Doch die Erinnerung an die Befreiung wird von der AfD angegriffen. Historiker Stefan Creuzberger erklärt, warum der 8. Mai 1945 ohne Zweifel ein Tag der Befreiung war.

Tausend Jahre sollte das Reich der Nazis Bestand haben nach dem Willen des Diktators Adolf Hitler, doch am 8. Mai 1945 endete der Nationalsozialismus bereits nach zwölf Jahren. Abermillionen von Menschen hatte der rassistische Größenwahn das Leben gekostet. Als "Tag der Befreiung" gilt der 8. Mai 1945 heute aus gutem Grund. Doch aus Richtung der AfD gibt es Versuche, die Erinnerung zu verfälschen.

Warum war der 8. Mai 1945 zweifelsohne ein Tag der Befreiung? Was bezwecken Politiker der AfD mit ihrem Geschichtsrevisionismus? Welche Auswirkungen haben der 8. Mai 1945 und die folgenden Entwicklungen auf West- und Ostdeutschland bis in die Gegenwart? Diese Fragen beantwortet der Historiker Stefan Creuzberger im Gespräch.

t-online: Professor Creuzberger, am 8. Mai 1945 befreiten die Alliierten die Welt und Deutschland vom Nationalsozialismus, Alice Weidel und andere AfD-Politiker wollen dieses historische Datum zum "Tag der Niederlage" umdeuten. Was soll das?

Stefan Creuzberger: Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Um diese historische Tatsache kommt auch die AfD nicht herum. Dieser Tag war eine tiefe Zäsur in der deutschen Geschichte: Davor befand sich die nationalsozialistische Diktatur mit ihren unzähligen Verbrechen, wir dagegen leben heute dank der westlichen Alliierten in einer liberalen Demokratie. Ein "Tag der Niederlage" war der 8. Mai 1945 hingegen zweifelsohne für eingefleischte Anhänger der NS-Diktatur, die nach der deutschen Kapitulation keine Zukunft mehr für sich sahen. Das wiederum sagt doch eine Menge über die AfD aus.

Was ist Ihr Ratschlag für den Umgang mit dem Geschichtsrevisionismus seitens der AfD?

Dagegen müssen wir entschieden vorgehen. Diese pseudohistorischen Erklärungsmodelle, die Leute wie Alice Weidel, Alexander Gauland, Björn Höcke und andere Akteure von rechter Seite in die Welt setzen, sollen die bundesdeutsche Erinnerungskultur verändern und die Verantwortung des verbrecherischen NS-Regimes mindern. Selbstverständlich müssen wir differenziert mit dem 8. Mai 1945 umgehen, erklärend und analysierend, aber keineswegs verfälschend und verharmlosend, so wie es die AfD betreibt.

Zur Person

Stefan Creuzberger, Jahrgang 1961, lehrt Zeitgeschichte an der Universität Rostock und leitet zugleich die Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland. Der Historiker ist Experte für die Geschichte Russlands und Mitherausgeber der "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland". 2022 erschien Creuzbergers Buch "Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung", das für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert war. Derzeit ist Stefan Creuzberger Gastwissenschaftler an der University of Pennsylvania (Penn) in Philadelphia (USA).

Walter Scheel hat 1975 als erster Bundespräsident den 8. Mai 1945 als Befreiung bezeichnet, weit größeres Aufsehen erregte dann sein Nachfolger Richard von Weizsäcker mit seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985.

Aus Sicht der deutschen Demokratie, die im Westteil des Landes 1949 mit Gründung der Bundesrepublik erneut entstand, ist Weizsäckers Bezeichnung vom Tag der Befreiung in höchstem Maße gerechtfertigt. Ebenso mit Blick auf die NS-Diktatur, die gewaltsam gestürzt werden musste. Da lag von Weizsäcker mit seiner legendären Rede genau richtig, das hat er nicht ohne Grund so ausgedrückt. Damals bekam Weizsäcker allerdings reichlich Kritik, von Angehörigen älterer Generationen etwa, aber auch von den Vertriebenen, die damals noch eine ganz andere Rolle spielten als heute.

Wie stellte sich die Lage am 8. Mai 1945 dar?

Die Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager konnten sich nun endlich sicher sein, dass der Rassenwahn dieser Diktatur ein Ende gefunden hatte. Ebenso konnten die Gegner dieses Regimes aufatmen. Zugleich war ein Großteil der Deutschen erleichtert, die Kriegshandlungen überlebt zu haben. Allerdings gab es nun die bohrende Ungewissheit, was die Zukunft bringen sollte. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Gewalt mit dem 8. Mai keineswegs auf diesem Kontinent beendet war.

Spielen Sie auf Vertreibungen und die sogenannten Bevölkerungsverschiebungen von Millionen Menschen nach dem Kriegsende an?

Tatsächlich ging die Gewalt auch nach dem 8. Mai 1945 weiter. Bis Anfang Juni 1945 gab es zum Beispiel in Jugoslawien noch Kämpfe zwischen Tito-Partisanen und Einheiten der Wehrmacht. Dann fanden auch die erwähnten Gewaltmaßnahmen im Zuge von Bevölkerungsvertreibungen und Grenzverschiebungen statt. Das betraf besonders deutsche Bevölkerungsgruppen, aber auch etwa im Zuge der sogenannten Westverschiebung Polens verloren zahlreiche Menschen – in diesem Fall mehr als 1,5 Millionen Polen und Ukrainer – ihre Heimat. Wir dürfen auch nicht die Konflikte und militärischen Auseinandersetzungen im Europa der unmittelbaren und frühen Nachkriegszeit vergessen. In der Ukraine und im Baltikum kämpften Partisanen weiterhin gegen die Rote Armee, in Griechenland ging seit 1946 der Bürgerkrieg in eine neue Runde.

Stichwort Gewalt: Aus Kreisen der AfD werden die massenhaften Kriegsverbrechen, die Soldaten der Roten Armee bei ihrem Vormarsch in Deutschland begangen haben, als Argument verwendet, um den 8. Mai 1945 als "Tag der Niederlage" zu bezeichnen.

Es ist absolut perfide, wie sehr die AfD diese historischen Ereignisse politisch instrumentalisiert. Ja, es kam zu massiven und zahlreichen Kriegsverbrechen von Soldaten der Roten Armee an deutschen Zivilisten, vor allem an Frauen. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Aber insbesondere an dieser Stelle braucht es eine objektive Einordnung. Zunächst müssen wir diesen Punkt einmal klarstellen: Das nationalsozialistische Deutschland hatte seit 1941 einen rassistisch motivierten Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geführt. Die Deutschen kamen, um zu erobern, zu rauben und zu töten. Es war Deutschland, das diese unfassbare Gewalt entfesselt hatte. Als nun im Oktober 1944 die ersten sowjetischen Verbände in Ostpreußen auf deutsches Reichsgebiet vorstießen, erlitten die Soldaten einen Zivilisationsschock.

Inwiefern?

Die sowjetischen Soldaten hatten riesige Landstriche ihrer Heimat durchquert, die die Deutschen systematisch verheert hatten. Es gab kaum eine Familie in der Sowjetunion, die keine Verluste durch Deutschland zu beklagen hatte. Diese Männer standen meist ununterbrochen im Kriegseinsatz. Sie kamen nun nach Deutschland, wo ihnen zumindest im ostpreußischen Landesteil alles intakt und unfassbar wohlhabend vorkam. Sie trafen auf unzerstörte Güter mit prall gefüllten Lebensmittelspeichern. Die Straßen waren befestigt, Häuser verfügten über Kanalisationsanschlüsse, aristokratische Landsitze waren oft reich mit Kunst- und Kulturgütern sowie mancherlei technischer Finesse ausgestattet. Das entfachte eine gewaltige Wut und steigerte den Drang nach Vergeltung ins geradezu Unermessliche. Morde, Plünderungen und Massenvergewaltigungen waren die Folge.

Welche Rolle spielte die sowjetische Propaganda, die die Rotarmisten zur Rache aufrief?

"Tötet, tötet, tötet", hatte zum Beispiel der sowjetische Schriftsteller und Journalist Ilja Ehrenburg die Soldaten der Roten Armee auf ihrem Weg nach Deutschland aufgefordert. Für sie war es die Höhle der faschistischen Bestie, wie es die Propaganda ausdrückte. Nun kommen wir aber zur anderen Seite: Die Nazis hatten den Zivilschutz im deutschen Osten völlig vernachlässigt, sie waren unfassbar verblendet.

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Entsprang dies Hitlers Weigerung, die katastrophale militärische Lage zu akzeptieren?

Letzten Endes, ja. Es gab keine Pläne zur Evakuierung und Versorgung der Flüchtlinge, den Nazis waren die eigenen Leute völlig egal. Es gab etwa himmelschreiende Szenen, als Panzer der Wehrmacht gen Osten durch Flüchtlingstrecks rasten, die sich auf überfüllten Straßen nach Westen quälten. Zusätzlich wandte die Wehrmacht die Taktik der verbrannten Erde auch im Osten Deutschlands an, die Rote Armee sollte nichts Brauchbares vorfinden. Der Zorn bei den Rotarmisten wuchs und wuchs, die Gewalt brach sich dann bei viel zu vielen Bahn. Die Erinnerung an derartige Kriegsverbrechen gehört selbstverständlich ebenfalls zum 8. Mai.

In der DDR war dieses Thema allerdings tabu.

Richtig. Damit kommen wir zu einem anderen Aspekt: Im Juni 1945 erklärten die vier alliierten Siegermächte nach der erfolgten restlosen Besatzung des Landes, dass der deutsche Staat als Rechtssubjekt nicht mehr existierte. Während sich der 8. Mai 1945 für die drei westlichen Besatzungszonen langfristig als Tag der Neuentstehung der liberalen Demokratie herausstellen sollte, wurde der 8. Mai 1945 im Osten Deutschlands zum Beginn einer neuen Diktatur. Es handelte sich um eine andere Form der Diktatur als die auf Rassismus und Massenmord basierende der Nationalsozialisten, aber die DDR war ohne jeden Zweifel eine stalinistische Gründung.

Die DDR verstand sich als "erster sozialistischer Staat auf deutschem Boden", im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, die sich als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs definierte. Welche Auswirkungen hatte das auf Ostdeutschland?

Der entscheidende Unterschied bestand darin, dass die Westdeutschen unter dem Schutz der westlichen Alliierten eine lebendige Demokratie aufbauten – und sich entsprechend kritisch im Laufe der Jahrzehnte der nationalsozialistischen Vergangenheit stellen konnten. Die DDR hat sich hingegen als antifaschistischer Staat definiert, eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus erfolgte nur äußerst rudimentär und ideologisch verbrämt. Die Prägung der frühen DDR durch den Stalinismus darf nicht vergessen werden, erinnern wir uns nur daran, wie der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 mit äußerster Brutalität niedergeschlagen worden ist, um das Regime von Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck zu erhalten.

Welche Auswirkungen hatte die Existenz der DDR bis 1989 auf die heutige politische Kultur in den ostdeutschen Bundesländern?

Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung erleben wir gerade eine erhebliche Polarisierung, im Osten ist die AfD sehr stark geworden. Aber auch eine in Teilen immer noch linkspopulistische Partei wie Die Linke feiert Erfolge. Die Herausforderungen sind einfach gewaltig, die zwei Teile Deutschlands auch innerlich zu vereinigen. Es ist schwer, aber nicht unmöglich. Der Transformationsprozess geht weiter, und das wird auch noch lange Zeit andauern.

Welche Rolle spielt dabei der früher und gegenwärtig erneut umkämpfte 8. Mai 1945?

Der 8. Mai 1945 ist gerade wegen der doppelten Diktaturerfahrung der Ostdeutschen Referenzpunkt und Anlass zugleich, sich kritisch mit dem Phänomen von Diktaturen – vom Nationalsozialismus über den Stalinismus bis hin zur SED-Diktatur – auseinanderzusetzen. Auf diese Weise lassen sich Mittel und Wege finden, den Herausforderungen von rechts und links zu begegnen. Wie die DDR heute beispielsweise verklärt wird, das macht schon ziemlich sprachlos. Für mich ist das ein Beleg, dass es weiterhin intensiver politisch-historischer Bildungsarbeit und zusätzlicher Grundlagenforschung bedarf. Insofern teile ich die Auffassung der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die am 26. Mai 2024 in einer speziellen Erklärung von den ostdeutschen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten "mehr DDR-Vergangenheit vermitteln, mehr Diktaturgeschichte erklären" eingefordert haben.

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Zeugt die DDR-Verklärung auch davon, dass es nach dem 9. November 1989 keine sprichwörtliche "Stunde Null" gegeben hat?

Die "Stunde Null" ist eine eigenartige theoretische Konstruktion. Machen wir uns doch nichts vor, das funktioniert hinten und vorne nicht. Eine "Stunde Null" gab es weder am 8. Mai 1945 noch beim Fall der Berliner Mauer 1989. Bleiben wir beim 8. Mai 1945: In der jungen demokratischen Bundesrepublik Deutschland hat zunächst vieles aus dem Nationalsozialismus überdauert, insbesondere personell. Es ist überzeugten und tatkräftigen Demokraten wie dem Bundeskanzler Konrad Adenauer von der CDU oder dem Sozialdemokraten Kurt Schumacher zu verdanken, dass die Bundesrepublik sich zur stabilen Demokratie entwickelte. Wir müssen immer bedenken, dass die Menschen in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR diese Möglichkeiten nicht hatten.

Vertreter Russlands sind beim Gedenken zum 80. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus nun im Deutschen Bundestag nicht willkommen. Sowohl in Russland aber teils auch in Deutschland stößt dies auf Kritik. Zu Recht?

Das wäre ein gewaltiger Fehler, so etwas zahlt auf Putins Konto ein. Russlands Regime begeht seit dem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine systematisch Kriegsverbrechen. An einem 80. Jahrestag zum 8. Mai 1945 können wir dann doch keine offiziellen Repräsentanten Russlands zu gemeinsamen Erinnerungsveranstaltungen bitten. Damit würden wir Putins Staatspropaganda einen großen Dienst erweisen, diese instrumentalisiert in neoimperialistischer Manier die Geschichte. Der Kreml beansprucht es in dieser Logik obendrein für sich, den 1991 untergegangenen Vielvölkerstaat UdSSR allein zu repräsentieren. Das ist aber völlig falsch. Die Rote Armee zahlte im Zweiten Weltkrieg den größten Blutzoll, ja, aber es war eine multiethnische Militärmacht.

Besonders die Ukraine und Belarus wurden von den Deutschen heimgesucht.

So ist es. Eigentlich müsste man sämtliche diplomatischen Vertreter der seinerzeit aus der UdSSR hervorgegangenen Nachfolgestaaten zu den bevorstehenden offiziellen Gedenkfeierlichkeiten einladen. Belarus steht aber natürlich besonders unter Moskaus Kontrolle. Das Ganze ist zweifellos besonders tragisch für die wenigen noch lebenden sowjetischen Kriegs-Veteraninnen und -Veteranen.

Den "Tag des Sieges" am 9. Mai hat das Kreml-Regime ganz in den Dienst der staatlichen Propaganda gestellt. Haben Sie Hoffnung, dass das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg Deutschland und Russland einander wieder näherbringen wird?

Das wäre mehr als wünschenswert. Aber ich kann im Moment keine Anhaltspunkte dafür sehen, dass sich wieder ein aufrichtig verbessertes Verhältnis zwischen Russland und dem Westen und Deutschland im Besonderen abzeichnet. Putins Regime hat doch keinerlei Interesse daran. Sollte US-Präsident Donald Trump der Ukraine in der näheren Zukunft einen für Russland günstigen Diktatfrieden aufzwingen, kann Putin auf solche symbolischen geschichtspolitischen Gesten doch locker verzichten. Dann hätte sich sein neoimperiales Gebaren auf ganzer Linie ausgezahlt.

Professor Creuzberger, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Stefan Creuzberger via Videokonferenz
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