Tagesanbruch Erdoğan kommt mit harten Bandagen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
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die Welt hat ihre Ordnung, wenigstens auf der Karte. Wir alle wissen, was wohin gehört. Schon in der Grundschule hat sich uns eingeprägt, wie die Erde im Atlas aussieht: unten der ausgebeulte Umriss von Afrika. Links der auseinandergezogene Klumpen, den wir Amerika nennen. Zum rechten Rand hin erstreckt sich die gewaltige Fläche Sibiriens, irgendwo dahinter sind China und Indien drangepappt; Australien und Neuseeland rutschen fast schon von der Karte. Oben in der Mitte aber, da wandert das Auge hin: Europa steht im Zentrum. So war es immer, so muss es sein.
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Es dürfte niemanden überraschen, dass diese Ordnung ein Europäer erfunden hat. Herr Mercator aus Flandern hat schon im 16. Jahrhundert dafür gesorgt, dass die Karten der Welt, die sich später rund um den Globus verbreiteten, uns Bleichgesichter immer schön im Mittelpunkt platzieren. Vom Schulatlas bis zur Wandkarte: So selbstverständlich ist die Anordnung geworden, dass man ein anderes Arrangement kaum für möglich hält. Das vorgefasste Bild kann einem hierzulande schnell zu Kopfe steigen. Europa wähnt sich an einem Platz, den es schon längst nicht mehr hat. Sobald man die Karte nämlich auf eine andere Weltgegend zentriert, sehen wir uns schlagartig an den Rand verfrachtet.
Anderswo, bei Arabern und Türken zum Beispiel, pflegt man sich nicht als Randerscheinung Europas zu betrachten. Auf der realpolitischen Landkarte sind die Staaten der Region immer weiter in die Mitte gerutscht. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, der Iran und die Türkei sind zu unabhängigen Machtzentren aufgestiegen, die nicht nur in ihrer Umgebung, sondern in einem beträchtlichen Teil der Welt den Ton angeben und die Strippen ziehen. Ihr Geld und ihre Waffen fließen ans Horn von Afrika, bestimmen die Geschicke entlang der südlichen Mittelmeerküste, entscheiden Konflikte im Kaukasus, beeinflussen den Frontverlauf in Osteuropa. Drohnen und Know-how aus Teheran helfen Putin aus der Patsche, während der ukrainische Präsident Selenskyj Kriegsmaterial von Ankara bekommt.
Mächtig, unabhängig und selbstbewusst: So treten die Machthaber der regionalen Schwergewichte auf. Bittere Dauerkriege wie den in Syrien könnten sie ganz unter sich beenden, wenn sie denn wollten – freundliche Mitwirkung aus dem Westen nicht erforderlich, vielen Dank. Gemeinsam könnten sie im Gazastreifen auch die Hamas an die Leine legen. Es ist eine Menge Macht, die sich von Europa und den USA emanzipiert hat. Wenn einer der Potentaten in Deutschland vorbeischaut, tritt er deshalb nicht schüchtern durch die Tür. Er fragt sich eher, was wir ihm überhaupt zu bieten haben. Die Egos sind groß, manchmal sehr. Apropos: guten Tag, Herr Erdoğan.
Der türkische Präsident trifft heute in Berlin den Bundespräsidenten, zum Abendessen geht es dann weiter zum Kanzler. Für Europa besonders wichtig, aber auch besonders problematisch: So kennen wir den Herrn, seit er mit harten Bandagen um die Zahl der Flüchtlinge gepokert hat, die es aus der Türkei nach Europa schaffen oder eben nicht. Diplomatie verwechselt er gern mit einem Haudrauf-Wettbewerb. Angela Merkel hat er Nazi-Methoden vorgeworfen, Macron war auch schon ein "Faschist", und auf die Niederlande drosch er ein, bis die dortige Regierung ein Jahr lang die diplomatischen Beziehungen abbrach. Kein einfacher Zeitgenosse also. Für den Besuch in Berlin strebt der Pascha immerhin eine "warme Atmosphäre" an.
Es könnte allerdings auch ganz schön hitzig werden. Seit Tagen überschlagen sich Forderungen und Beteuerungen, wie sehr, wie doll, wie überdeutlich Olaf Scholz beim heutigen Treffen Klartext reden soll und muss und wird. Denn Herr Erdoğan hat die Schlächter von der Hamas, die mehr als tausend Israelis niedergemetzelt haben, zu einer "Gruppe von Befreiern" umetikettiert und das Ganze mit antisemitischer Hetze garniert.
Er folgt damit seinem populistischen Instinkt, will ein paar billige Punkte machen. Angesichts der schlimmen Lage in Gaza, Tausender Toter und blanker Not in den Krankenhäusern hat sich ein erheblicher Teil der türkischen Öffentlichkeit hinter die Palästinenser gestellt – vor allem die Wähler von Erdoğans Partei AKP. Folglich stellt der Chef sich mit markigen Sprüchen an die Spitze. Dort ist sein Platz, findet er jedenfalls, deshalb ist ihm jedes Mittel recht. Öl ins Feuer? Den Hass anfachen? Aber immer! In vier Monaten stehen in der Türkei übrigens Kommunalwahlen an.
Klare Worte muss man vom Kanzler also zwingend erwarten – die Leviten lesen kann er seinem Gast aber nicht. Denn der hat nicht nur ein notorisch empfindliches Ego, sondern gebietet über eine Nation, die im Nahen Osten mehr zu melden hat als die unsrige. Obendrein kann er seinen europäischen "Partnern" empfindlich auf die Füße treten und macht davon reichlich Gebrauch. Zum Beispiel hatte Erdoğan seinen Widerstand gegen den Nato-Beitritt Schwedens aufgegeben – ist schon ein Weilchen her, Sie erinnern sich? Schweden ist allerdings immer noch nicht in der Nato. Die entsprechende Beschlussvorlage gelangte zwar kürzlich zur Debatte ins türkische Parlament. Nur gibt es da noch so einen Ausschuss, der erst zustimmen muss, worauf dann endlich die eigentliche Abstimmung folgen kann, bevor es nur noch eine klitzekleine Unterschrift braucht, für die hoffentlich ein funktionierender Kugelschreiber zur Hand ist. Andernfalls geht aber sofort jemand los und holt einen neuen. Wenn nichts dazwischenkommt.
Tricks, Drohungen, Machtgehabe: Der hohe Besuch in Berlin kann anscheinend vor Kraft kaum laufen. Schaut man jedoch ein bisschen genauer hin, humpelt er dabei. Denn Stolpersteine liegen überall. Die Inflation in der Türkei: horrend hoch. Die Wirtschaft: schlingert. Erdoğans Kumpel Putin: hat neue Freunde in Nordkorea und im Iran. Die syrischen Flüchtlinge: längst nicht mehr willkommen, Ressentiments und Hass greifen in der Türkei um sich. Die umgebende Region: kokelt hier, brennt lichterloh dort. Es ist schon wahr: Herr Erdoğan, seine Kollegen auf der arabischen Halbinsel und die Turbanträger in Teheran könnten Kriege und Krisen gemeinsam entschärfen. Entscheidend ist aber der Konjunktiv. Denn die Gräben sind tief.
Der starke, schwache Mann vom Bosporus trifft heute also auf den mächtigen, gebeutelten Kanzler. Der hat auch seine Sorgen: Koalitionsmisere, schwächelndes Wachstum, Flüchtlingsdauerkrise, seit vorgestern sind auch noch 60 Milliarden futsch. Kooperation könnte da helfen, beiderseits übrigens. Nach Erdoğans antisemitischen Tiraden wären scharfe Vorwürfe angebracht, nur wird er sich die nicht anhören. Die Notwendigkeit bringt ihn mit Scholz zusammen. Hoffentlich öffnet sie sein Ohr wenigstens für ein paar Worte der Vernunft.
Die Ampel flackert
Ursprünglich sollten die Beratungen über den Bundeshaushalt 2024 heute früh zum Abschluss kommen. Doch nach dem Paukenschlag-Urteil aus Karlsruhe, wonach die Umwidmung von Corona-Krediten für den Klimaschutz gegen die Schuldenbremse verstößt und verfassungswidrig ist, fehlen der Ampelregierung plötzlich 60 Milliarden Euro. Ein Batzen Kohle, der unter anderem für die Wärmepumpen-Förderung im umstrittenen Heizungsgesetz und für die Ansiedlung der Halbleiterkonzerne Intel und TSMC eingeplant war – und der sich nicht durch ein paar schnelle Sparmaßnahmen kompensieren lässt. Kein Wunder also, dass die abgestraften Finanzjongleure um Schuldenbremsenwächter Christian Lindner sich zumindest zeitlich etwas Luft verschaffen wollen: Den finalen Beschluss des Etats haben sie auf Donnerstag nächster Woche verschoben, für kommenden Dienstag wurde eine von CDU und CSU geforderte Sachverständigenanhörung anberaumt.
Das allerdings geht den Unionsleuten nicht weit genug: Sie wollen bei dem "unseriösen Verfahren" nicht mitmachen und keine eigenen Änderungsanträge einbringen. Stattdessen will Fraktionschef Friedrich Merz nun auch noch eine Klage gegen den Wirtschafts-Stabilisierungsfonds prüfen.
Es wird tatsächlich immer enger für die Koalition. "Mag sein, dass die Ampel von nun an noch zwei Jahre vor sich hinflackert", schreibt unser Politikchef Christoph Schwennicke in seinem Kommentar. "Aber alle Teilnehmer am politischen Straßenverkehr haben inzwischen erkannt: Eine Ordnungsfunktion, die eine Ampel im Straßenverkehr eigentlich hat, ist von dieser Lichtorgel nicht mehr zu erwarten."
Auf zum letzten Gefecht
Ebenfalls nicht rosig sieht es bei der Linken aus: Nach miesen Wahlergebnissen und dem Bruch mit Sahra Wagenknecht versucht die Partei ab heute in Augsburg, neues Profil zu gewinnen. Geplant sind eine Generaldebatte über das Programm zur Europawahl 2024 und die Aufstellung der Bundesliste. Spitzenkandidatin soll neben Parteichef Martin Schirdewan die Flüchtlingsaktivistin Carola Rackete werden. Deren Nominierung hat allerdings im Vorfeld auch schon wieder für Streit gesorgt. So zanken sie sich, bis auch noch der letzte Wähler abgewandert ist.
Lesen bildet
"Vorlesen verbindet!", lautet das Motto des bundesweiten Vorlesetags. Er soll die Begeisterung für das Lesen wecken. Tolle Aktion! Ich lese derzeit wieder mal den großen Ian McEwan. Falls Sie mehr vom kleinen Harms lesen möchten, schauen Sie mal hier.
Ohrenschmaus
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Zum Schluss
Herr Scholz hat für alles eine Lösung.
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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