Stalins makabres Spiel mit den Toten des Zweiten Weltkriegs
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Am 9. Mai 1945 feierte die Rote Armee ihren Sieg ΓΌber die Wehrmacht. Immer wieder wird der "Tag des Sieges" seitdem instrumentalisiert β erst von Stalin, nun von Wladimir Putin.
Der 9. Mai ist ein ganz besonderer Tag in Russland, an ihm wird an den Sieg der Roten Armee ΓΌber den NS-Staat im Jahr 1945 erinnert. Emotional aufgeladen wurde und wird dieser Tag auch von der politischen FΓΌhrung genutzt. Experte Andreas Hilger erkΓ€rt, auf welche Weise.
Josef Stalin gab sich in diplomatischen Verhandlungen mitunter ΓΌberraschend ehrlich. Er sei es nicht gewohnt, sich zu beklagen, lieΓ er beispielsweise den US-PrΓ€sidenten Harry S. Truman und den britischen Premier Winston Churchill wΓ€hrend der Konferenz von Potsdam 1945 wissen, aber die Situation in der UdSSR sei unvergleichlich schlecht. "Wir haben einige Millionen Gefallene, wir haben nicht genug Menschen. WΓΌrde ich mich beklagen", so der sowjetische Diktator weiter, "wΓΌrden Sie in TrΓ€nen ausbrechen, so schwer ist die Lage in Russland."
Hinter der vermeintlichen Offenheit verbarg sich Berechnung. Stalin wollte vor den ungeliebten Alliierten keine SchwΓ€che zeigen und nannte viel zu geringe Zahlen. Von "einigen Millionen" gefallenen, ermordeten oder verhungerten sowjetischen Opfern des deutschen Vernichtungskriegs gegen die UdSSR konnte keine Rede sein. WΓ€hrend Stalin rund sieben Millionen festschrieb, erhΓΆhte sein Nachfolger Nikita Chruschtschow die offizielle Angabe auf 20 Millionen. Doch auch dies war noch viel zu wenig.

Andreas Hilger, Jahrgang 1967, ist stellvertretender Leiter des Deutschen Historischen Instituts Moskau. Der habilitierte Historiker ist Experte fΓΌr die Geschichte Russlands und der Sowjetunion sowie fΓΌr Internationale Geschichte. 2000 promovierte er ΓΌber deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, die Habilitation widmete sich den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Indien von 1941 bis 1966.
Ab Michail Gorbatschow korrespondieren die sowjetischen und russischen SchΓ€tzungen mit Kalkulationen der allgemeinen internationalen Forschung. Diese gehen von rund 27 Millionen Toten aus. Mehr als die HΓ€lfte von ihnen waren Zivilisten, darunter circa 2,8 Millionen sowjetische Juden, rund 800.000 Einwohner des jahrelang belagerten Leningrad und rund zwei Millionen Menschen, die der deutschen RΓΌckzugstaktik der "Verbrannten Erde" oder dem unerbittlichen deutschen Kampf gegen tatsΓ€chliche und vermeintliche Partisanen zum Opfer fielen. Von den gut elf Millionen Soldaten der Roten Armee kamen allein drei Millionen in deutscher Gefangenschaft ums Leben.
Die Zahlentricksereien und Stalins Tonlage in Potsdam waren fΓΌr den sowjetischen Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs charakteristisch. Die sowjetische Erinnerungspolitik richtete sich an zwei Adressaten. Die Deutung der Vergangenheit durch den Kreml zielte nicht nur auf die eigene BevΓΆlkerung, sondern auch auf das auslΓ€ndische Publikum. GegenΓΌber der AuΓenwelt wurden erlittene Verluste sowie die hohe Bedeutung der sowjetischen Kriegsanstrengungen fΓΌr den Sieg herausgestellt.
Diese Kombination sollte die prominente Rolle der UdSSR in der globalen Nachkriegspolitik rechtfertigen und internationale sowjetische AnsprΓΌche legitimieren. Dies galt beispielsweise fΓΌr territoriale Zugewinne im Osten und insbesondere im Westen der Sowjetunion sowie hinsichtlich des Sicherheitskordons, den Moskau um sich zog. Die Mechanismen griffen ebenso in weiteren Fragen der Deutschlandpolitik. Bereits in Jalta im Februar 1945 insistierte Stalin, unter den Siegern deutsche Reparationen nach "Verdiensten" zu verteilen.
UnΓΌberwindbare StΓ€rke?
Die oben zitierte Potsdamer Klage wurde gleichfalls im Kontext der Debatten ΓΌber deutsche Wiedergutmachungsleistungen vorgebracht. Daneben wurden etwa sowjetische Repressionen gegen deutsche Nichtkommunisten in Ostdeutschland immer auch mit der Notwendigkeit begrΓΌndet, den sowjetischen Staat vor Γberbleibseln oder neuen Trieben des "Hitlerismus" zu schΓΌtzen, der gerade erst unter so groΓen Opfern besiegt worden war.
SchlieΓlich kΓΌndete der Sieg sowjetischer Interpretation zufolge von der unΓΌberwindbaren StΓ€rke der sozialistischen Union schlechthin. Auf diese Weise hoffte Stalin kapitalistische Gegner nach 1945 von neuen Abenteuern gegen Moskau abschrecken zu kΓΆnnen. Allerdings wΓΌrden in dieser Hinsicht zu hohe Verlustzahlen nur kontraproduktiv wirken, sodass der Kreml auf unsinnig niedrigen Angaben beharrte. Aus denselben Γberlegungen heraus schien es Moskau im Γbrigen auch nicht angebracht, die westalliierte UnterstΓΌtzung fΓΌr die UdSSR ab 1942/1943 zu thematisieren.
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Hinsichtlich der sowjetischen Einwohnerschaft hatte die Erinnerung an Krieg und Sieg disziplinierende Aufgaben. Das offizielle Geschichtsbild trug dazu bei, das stalinistische System und seinen SchΓΆpfer noch weiter zu ΓΌberhΓΆhen und noch unangreifbarer zu machen. Eine WΓΌrdigung aller sowjetischen Opfer war in diesem Kontext ebenfalls nicht angebracht. Die besondere Anerkennung des jΓΌdischen Schicksals wΓΌrde nur von sozialistischen Lesarten des Kriegs ablenken.
Kriegsheld wurde abgeschoben
WahrheitsgemΓ€Γe Daten hinsichtlich aller Opfer lieΓen sich mit der angeblich so erfolgreichen und ΓΌberlegenen KriegfΓΌhrung kaum vereinbaren und wΓΌrden Fragen hinsichtlich der politischen Verantwortung fΓΌr militΓ€rische Desaster aufwerfen. Stalins vermeintliches Genie durfte in keiner Weise geschmΓ€lert dargestellt werden. Daher war es nur konsequent, dass Stalin Marschall Georgi Schukow, der 1945 die groΓe Siegesparade in Moskau und die alliierte Parade in Berlin abgenommen hatte, bald zuerst nach Odessa und dann in den Ural abschob. Die ΓΌbrigen Millionen "Schrauben" im Land β so nannte der Kremlchef 1945 seine Untertanen β wurden ab 1947 auch am Tag des Sieges, dem 9. Mai, zur Arbeit geschickt.
Die Orientierung der offiziellen Erinnerung an auΓen- und innenpolitischen Zielen hielt nach Stalins Tod an. Der osteuropΓ€ische Zusammenhalt lieΓ sich in den 1950er- und 1960er-Jahren weiterhin festigen, indem immer wieder neu die Angst vor westdeutschem "Revanchismus" und "Faschismus" beschworen wurde. Zugleich wurde westdeutscher und westlicher Politik mit einem neuen Stalingrad gedroht, um angebliche Kriegstreiber einzuschΓΌchtern. Mit Blick auf die Innenpolitik enthΓΌllte Chruschtschow, der im Krieg einen Sohn verloren hatte, in seiner Geheimrede auch Stalins militΓ€rische VersΓ€umnisse.
Auf diese Weise schob Chruschtschow frΓΌhere Fehler allein Stalin und dessen engstem Zirkel in die Schuhe und entledigte sich ganz nebenbei einiger aktueller Konkurrenten. Die WerktΓ€tigen der Sowjetunion hatten am 9. Mai derweil nach wie vor fΓΌr den Fortschritt des Sozialismus daheim und in der Welt zu arbeiten.
Bruch mit Stalin geglΓ€ttet
Dies Γ€nderte sich erst unter Leonid Breschnew. Die internationalen Interpretationen der Jahre 1941 bis 1945 blieben bei den multiplen Aussagen. Im Innern diente der erinnerte Krieg als neues Mittel der positiven Integration. Nun hieΓ es, dass 1945 alle einen Sieg fΓΌr alle errungen hatten. FΓΌr diese positive RΓΌckschau wurden vergangene Ungerechtigkeiten weniger bereinigt als beschwiegen, der radikale Bruch mit Stalin geglΓ€ttet. Nur so konnte der siegreiche Krieg Regime und Gesellschaft in StabilitΓ€t und Ruhe vereinen.
Die gesteuerte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sollte richten, was Ideologie und Performance des Sozialismus nicht leisten konnten. Der 9. Mai war weiterhin Ausdruck und Instrument der neuen erinnerungspolitischen Aufgaben. Breschnew erhob den Tag 1965 zum arbeitsfreien Feiertag. Im selben Jahr wurde er erstmals mit einer feierlichen Siegesparade begangen. Der Feiertag blieb bis zum Ende der UdSSR bestehen, allerdings fanden GroΓparaden nur an wenigen runden JubilΓ€en statt. In der Gorbatschow-Γra zeigte sich in Diskussionen ΓΌber Opferzahlen, das bisherige Siegesnarrativ und die historische Gesamtbewertung Stalins, dass die Erinnerung an Krieg und Sieg ihre integrative Kraft fΓΌr die UdSSR verloren hatte.
Die hier skizzierten Ziele offizieller Erinnerungspolitik in der UdSSR dΓΌrfen nicht darΓΌber hinwegtΓ€uschen, dass unabhΓ€ngig hiervon der Krieg fΓΌr die Menschen in der UdSSR immer eine besondere Bedeutung hatte. Der FrΓΌhling 1945 sah eben auch Menschen, die auf der StraΓe spontan den sowjetischen Sieg feierten, und er sah privates, leidvolles Gedenken.
Kaum eine Familie hatte keinen Toten zu beklagen, kaum eine litt nicht unter bedrΓΌckenden wirtschaftlichen und sozialen Kriegslasten und Kriegsfolgen. Diese individuellen, familiΓ€ren und gesellschaftlichen Traumata und Erfahrungen boten spΓ€teren positiven Deutungsangeboten der Politik einen gewissen Resonanzboden. Ungeachtet dessen stellen Erfahrungen immensen Leids und unerhΓΆrter Anstrengungen, die Freude und das GlΓΌck, ΓΌberlebt zu haben, sowie der Stolz auf den Sieg ΓΌber eine tΓΆdliche Gefahr und einen erbarmungslosen Gegner wichtige Bestandteile des gesellschaftlichen Erinnerungshaushalts, des gesellschaftlichen Gedenkens und der gesellschaftlichen Geschichtsbilder dar.
Von Putin instrumentalisiert
Diese Erfahrungen prΓ€gen bis heute. So erfanden im Jahr 2012 liberale Journalisten in Tomsk das "Unsterbliche Regiment". Seitdem marschieren insbesondere in Russland, aber auch in anderen Teilen der Welt jΓ€hrlich am 9. Mai Menschen mit Portraits von FamilienangehΓΆrigen, die im Krieg waren, durch die StΓ€dte. Putin vereinnahmte die Initiative fΓΌr eigene Zwecke, als er 2015 mit einem Bild seines Vaters an dem Gedenkmarsch teilnahm. Das Γ€ndert nichts daran, dass die Veranstaltungen den originΓ€ren Wunsch der Menschen widerspiegeln, adΓ€quat und individuell des Kriegs zu gedenken.
Putins Zugriff setzte letztlich die lange Geschichte der politischen Instrumentalisierung des 9. Mai fort. Das postsowjetische Russland unter Jelzin wollte gleichfalls die integrative Kraft des Feiertags und, ab 1995, mit einer jΓ€hrlichen Siegesparade die Welt daran erinnern, dass Russland eine international bedeutsame Macht darstellte. Die Erinnerung an vergangene Leistungen schien zunΓ€chst einer kritischen Gesamtaufarbeitung der Γ€uΓerst schwierigen sowjetischen Vergangenheit nicht zu widersprechen.
Ebenfalls 1995 ordnete PrΓ€sident Jelzin die vollstΓ€ndige Rehabilitierung der ehemaligen Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen an, die sich im Krieg in deutscher Hand befunden hatten. DafΓΌr waren sie ab 1945 als VerrΓ€ter beschimpft sowie ΓΌber Jahrzehnte hinweg benachteiligt worden. Seit dem Machtwechsel zu Putin entfallen in offiziellen Deutungen jedoch weitgehend kritische Blicke auf das Vergangene. Nun muss eine ausschlieΓlich stolze Vergangenheit dafΓΌr herhalten, Putins eigene Herrschaft zu legitimieren und zu bekrΓ€ftigen.
Daneben wurden auΓenpolitische Aussagen der Geschichtsdeutung auf Dauer offensiver. 2008 wurde auf der Parade am 9. Mai erstmals wieder schweres MilitΓ€rgerΓ€t gezeigt. Diese Machtdemonstration reflektierte anhaltende russisch-westliche Zwistigkeiten ΓΌber den russischen Einfluss im postsowjetischen Raum und in der Welt. Nachdem die AuΓenminister Hillary Clinton und Sergei Lawrow 2009 einen Neustart in den russisch-westlichen Beziehungen ausgerufen hatten, nahmen 2010 sogar Kontingente der ehemaligen Kriegsalliierten an der Moskauer Parade teil.
Die JubilΓ€umsfeierlichkeiten 2015 dokumentierten den neuen Tiefpunkt im russisch-westlichen VerhΓ€ltnis. Ein Jahr nach der Annexion der Krim fanden sich kaum noch westliche Regierungschefs bereit, zu den Feierlichkeiten zu erscheinen. Russland dagegen nutzte den Festtag, um mit parallelen Paraden auf der Krim die Angliederung historisch zu rechtfertigen und zu forcieren. FΓΌnf Jahre spΓ€ter, 2020, schlug Putin vor, den 75. Jahrestag des Siegs ΓΌber Deutschland mit einer Neuauflage der Konferenz von Jalta zu begehen.
Stalins Opfer erhalten wenig Raum
Damit hΓ€tte er quasi durch die HintertΓΌr internationale Anerkennung fΓΌr die russische Krimpolitik und fΓΌr russische AnsprΓΌche auf globale Einflusszonen insgesamt erreicht. Die Konferenzidee fand im Westen keinen Widerhall. Die groΓen Feierlichkeiten zum 9. Mai hat bekanntermaΓen die Corona-Krise verhindert, zum Leidwesen der Regierung.
Im komplexen VerhΓ€ltnis Russlands zum Zweiten Weltkrieg fΓ€llt auf, dass Opfer stalinistischer Politik und KriegfΓΌhrung gerade heutzutage in der russischen Erinnerungspolitik wenig Raum erhalten. Um die Bewertung des Hitler-Stalin-Pakts, um sowjetische Okkupations- und Repressionspolitik im Baltikum und in Osteuropa oder um KriegerdenkmΓ€ler und -helden in der Ukraine und in Estland werden auf internationaler BΓΌhne bittere Erinnerungskriege gefΓΌhrt.
Dabei ist gar nicht mehr auszumachen, welche Seite die Erinnerungsschlacht erΓΆffnet hat, ob mit einseitigen Schuldzuschreibungen, nationalistischen Geschichtsklitterungen oder geschichtsvergessener Empathielosigkeit. Die Vehemenz dieser Geschichtskriege zeugt davon, dass die Deutung des Zweiten Weltkriegs nicht nur, aber auch in Russland an den Kern von IdentitΓ€t und Herrschaft rΓΌhrt. Eine angemessene WΓΌrdigung der hellen und dunklen Seiten der Vergangenheit erscheint daher umso dringlicher und bleibt eine Aufgabe fΓΌr zukΓΌnftige Tage des Sieges.
Die im Gastbeitrag geΓ€uΓerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wider und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online.de-Redaktion.
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Korrektur: In einer frΓΌheren Version hieΓ es, Franklin D. Roosevelt hΓ€tte die USA auf der Potsdamer Konferenz 1945 vertreten. NatΓΌrlich war es sein Nachfolger Harry S. Truman. Wir haben den Fehler korrigiert und bitten, ihn zu entschuldigen.