Wiederholungswahl in Berlin Umstrittene Strategie
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die CDU siegt bei der Berlin-Wahl – und dürfte es trotzdem schwierig haben bei der Regierungsbildung. Eine erste Analyse in fünf Thesen.
Die Hauptstadt hat gewählt, schon wieder. Und das Ergebnis ist spektakulär: Laut ersten Prognosen ist nach der Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus erstmals seit mehr als 20 Jahren wieder die CDU stärkste Kraft – und das mit Abstand. Ob es ihrem Spitzenkandidaten Kai Wegner aber gelingt, ins Rote Rathaus einzuziehen, ist noch offen. Alle Entwicklungen zur Berlin-Wahl können Sie hier live im Newsblog verfolgen.
Was bedeutet dieses Ergebnis für Berlin, welche Signale sendet es an die Parteien im Bund? Fünf Thesen zur ersten Landes-Wahl des Jahres.
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1. Die CDU kann Großstadt
Seit 1999 hat die CDU nicht mehr geschafft, was ihr nun mit dieser Wahl gelingt: Sie ist stärkste Kraft im dauer-rot-regierten Berlin geworden. Entgegen allen Unkenrufen können die Konservativen in Großstädten also durchaus Wahlen gewinnen und eine echte Wechselstimmung erzeugen, was manchem fast unglaublich erscheinen mag.
Ihr Sieg lässt sich dabei einerseits auf die große Unzufriedenheit der Berliner mit ihrer aktuellen Regierung erklären – laut einer Umfrage von Infratest Dimap fühlen Menschen sich in keinem anderen Bundesland so schlecht regiert. Andererseits aber ist das Ergebnis auch auf den Wahlkampf von Spitzenkandidat Kai Wegner zurückführen. Er und seine Mitstreiter besetzten die wichtigsten Themen früh und unverwechselbar – und nutzten dabei Leerstellen der linken Parteien sowie die Schwäche der AfD aus.
Nach den Silvesterkrawallen etwa zog Wegner unbeirrbar mit dem Slogan "Man muss Probleme klar benennen" durch die Medien-Manege, im Abgeordnetenhaus war es seine Partei, die nach den Vornamen der Krawallmacher fragte, auf Wahlplakaten drohten die Christdemokraten Kriminellen mit Haftbefehlen. Eine umstrittene Strategie, die sich offenbar gelohnt hat.
Wegner zeigt es so nicht nur der Konkurrenz in Berlin, sondern auch Friedrich Merz und der CDU-Spitze im Bund. Im Oktober nämlich soll Letzterer noch ausgelotet haben, ob man nicht statt Wegner mit Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn ein Schwergewicht in Berlin ins Rennen schicken sollte. Wegner aber weigerte sich, Platz zu machen. Diese Beharrlichkeit zahlt sich nun aus – auch wenn es trotz Spitzenwerten fraglich ist, ob der Mann, der noch nie regiert hat, nun den Chefsessel im Roten Rathaus schwarz besetzen wird.
Am Sonntagabend bedankte Wegner sich jedenfalls für den "klaren Regierungsauftrag" und kündigte Gespräche mit SPD wie Grünen an. Bleibt allerdings die Frage: Wer will mit Wegner regieren? Grünen-Spitzenkandidatin Jarasch sprach sich bereits am Abend für eine Fortsetzung der linken Koalition von Grünen, SPD und Linkspartei aus – dann allerdings vielleicht unter ihrer Leitung.
2. Eine historische Klatsche – auch für den Kanzler
Für die SPD und ihre amtierende Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey ist das Wahlergebnis ein Debakel. Nachdem die Sozialdemokraten schon 2021 das bis dahin schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren hatten, läuft die CDU ihnen nun nach 14 Jahren erstmals wieder den Rang ab – obwohl Berlin seit jeher als typische Großstadt gilt, die strukturell links eingestellt ist und auch so wählt. Auch für die Bundespartei und Kanzler Olaf Scholz ist das eine empfindliche Klatsche – mit dem schlechtesten SPD-Ergebnis seit dem Fall der Mauer verliert er jetzt eine eigentlich verlässliche SPD-Hochburg an die Union.
Das Ergebnis zeigt außerdem deutlich: Der vermeintliche Promibonus aus der Zeit als Bundesfamilienministerin hat Amtsinhaberin Giffey nicht geholfen. Auf Landesebene zählen dann andere Faktoren eben doch stärker – und die Chaos-Wahl, die unter einem SPD-Innensenator organisiert wurde, sowie die Silvesterkrawalle dürften bei ihr negativ zu Buche geschlagen haben. Während Wegner ab Januar in den Umfragen stetig zulegte, baute Giffey deutlich ab. Für Giffeys Genossin Nancy Faeser, die gerade aus dem Amt der Bundesinnenministerin als Spitzenkandidatin der SPD in Hessen antritt, dürfte das eine deutliche Warnung sein.
Einziger Hoffnungsschimmer für die Sozialdemokraten: Mit ihrem schlechten Ergebnis ist noch lange nicht ausgeschlossen, dass die SPD weiter regiert. Denn rein rechnerisch sind jetzt mehrere Koalitionen denkbar, bei denen auch die SPD mitmischt – zum Beispiel die Weiterführung des Bündnisses aus SPD, Grünen und Linken sowie eine Große Koalition unter Führung der CDU.
Die Schmach macht das kleiner. Offen bleibt aber die Frage: Wie wird es weitergehen mit Franziska Giffey?
3. In den Grünen steckt zu wenig Habeck und Baerbock
Bei den Grünen dürften sich abermals viele an Michael Endes Kinderbuch "Jim Knopf" und die Geschichte vom Scheinriesen Tur Tur erinnert fühlen. Zuverlässig lag die Ökopartei auch in diesem Wahlkampf noch bis vor wenigen Wochen in den Umfragen vorn – je näher der Wahltermin aber rückte, desto mehr schrumpfte die Zustimmung der Bürger.
Hinter den eigenen Zielen bleibt die Partei damit weit zurück. Das dürfte nicht zuletzt damit zu tun haben, dass sie sich in der Hauptstadt bewusst vom pragmatischen Realo-Kurs, wie ihn Annalena Baerbock und Robert Habeck auf Bundesebene verkörpern, entfernt hat und versucht, eine linke Wählerklientel anzusprechen. Stellenweise wirkte es zuletzt, als führte Spitzenkandidatin Bettina Jarasch gezielt einen Wahlkampf nach innen, einen, der die Parteiseele streichelte – aber die Interessen der übrigen Berliner außer Acht ließ.
Denn Schlagzeilen machte sie vor allem mit ihrem Kampf gegen das Auto, die Sperrung der Friedrichstraße, einer Nord-Süd-Verkehrsader mitten in der Stadt, sowie der Ankündigung, ein Viertel aller Parkplätze in der Stadt zu streichen. Das mag der inneren Parteilogik nach Sinn ergeben haben. Allerdings nutzten CDU und FDP solche Ideen dankbar als Steilvorlage, um Jarasch eine weitere Spaltung der Stadt vorzuwerfen.
Die Berliner haben auch die Grünen abgestraft – wenn auch nicht so stark wie die SPD. Im Koalitionspoker könnte den Grünen so nun trotzdem die Rolle des Königsmachers zufallen oder am Ende sogar die Führungsrolle in einer grün-rot-roten Koalition.
4. Die FDP steht mit dem Rücken zur Wand
Noch größer als bei der SPD ist die Enttäuschung nur bei der FDP. Die Liberalen fliegen in Berlin nach ersten Hochrechnungen aus dem Abgeordnetenhaus.
Das Schlimme für die Partei: Seit sie auf Bundesebene in der Ampelkoalition mitregiert, sind solche Ergebnisse bereits fast zur Gewohnheit geworden. Erst schaffte sie im März 2022 nicht den Sprung in den Landtag im Saarland, dann verpasste sie im Oktober 2022 auch den Einzug in das Parlament in Niedersachsen.
In Berlin wird das schlechte Ergebnis der Liberalen nicht zuletzt damit zu tun haben, dass viele einst geneigte Wähler ihr Kreuzchen lieber bei der CDU setzten. Die tickt bei den Themen Verkehr und innere Sicherheit ähnlich wie die FDP – hatte aber von Anfang an eine wesentlich größere Chance darauf, zu regieren.
In der Ampelregierung im Bund dürfte das Ergebnis für maximale Unruhe und neue Verstimmungen führen. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai jedenfalls kündigte schon am Sonntagabend an: "Die Stimme der FDP innerhalb der Ampel muss deutlicher sein als vorher."
5. Wagenknecht kann der Linken in Berlin kaum schaden
Die Linke ist auf Bundesebene in einem denkbar desolaten Zustand: Zerstritten in der Russlandfrage, entzweit im Umgang mit ihrem prominentesten Parteimitglied Sahra Wagenknecht dümpelt sie bei fünf Prozent Zustimmung dahin.
Doch der Berliner Linken hat das erstaunlich wenig geschadet. In der Hauptstadt geht sie voraussichtlich mit mehr als doppelt so viel Stimmen nach Hause, als sie nach aktuellen Umfragen auf Bundesebene erzielen würde. Und: Angesichts des Abschneidens von Grünen und SPD hat die Partei Chancen darauf, weiter mitzuregieren.
Das hat verschiedene Gründe: Von Wagenknechts Russlandnähe und Anti-Establishment-Kurs haben sich die Spitzen des Landesverbands von Anfang an stark distanziert. Statt vergangenen Tagen nachzuhängen, forderten sie recht geschlossen eine progressive Linke und den Eintritt für die angegriffene Ukraine. Wahlkampf machten sie ausschließlich mit gemäßigter Parteiprominenz wie Bodo Ramelow oder Gregor Gysi.
Nicht zuletzt genießen linke Regierungsmitglieder wie Kultursenator Klaus Lederer und Sozialsenatorin Katja Kipping bei den Lobbyvertretern in ihrem Bereich ein gutes Renommee. Pragmatismus vor Ideologie – woran es den Grünen manchmal fehlte, das gelingt den Linken in Berlin durchaus.
- Eigene Recherchen
- morgenpost.de: "Wie Jens Spahn Regierender Bürgermeister werden sollte"
- tagesspiegel.de: "Liveblog zur Berlin-Wahl"