Carlo Ancelotti formt den FC Bayern um - ganz gelassen

Ellbogenschläge, Fausthiebe, Tritte: Im Terence-Hill-Film "Keiner haut wie Don Camillo" von 1983 teilt Carlo Ancelotti als fieser Fußballer ordentlich aus. Dabei zeichnet er sich im echten Leben durch ganz andere Qualitäten aus - mit seiner liebenswerten Art soll er den FC Bayern zurück auf Europas Thron führen.

Der Start verlief optimal. In seinem ersten Champions-League-Spiel mit den Münchnern gelangen dem 57-jährigen Trainer ein sattes 5:0 gegen den FK Rostow und direkt drei Rekorde.

Doch es ist nur ein erster winziger Schritt, denn Ancelotti soll bewerkstelligen, was seinem Vorgänger Pep Guardiola verwehrt blieb: der Triumph in der Königsklasse.

Müller und Co. hoffen auf Ancelottis "besonderes Gespür"

Dem spanischen Ex-Coach ist angesichts zweier Titel mit dem FC Barcelona die Befähigung für die Champions League nicht abzusprechen. Doch in München fehlte ihm das letzte Quäntchen. Dreimal war in der Vorschlussrunde Schluss, 2014 gar demütigend durch ein 4:0 im Halbfinal-Rückspiel gegen Real Madrid - trainiert von Ancelotti.

Guardiola machte den Triple-Sieger von 2013 zwar auf taktischer Ebene noch variabler, noch besser. Dennoch reichte es in Europas Eliteliga nicht zum ganz großen Wurf. So sprach Thomas Müller vor dem Saisonauftakt die Hoffnung aus, "dass Ancelotti ein besonderes Gespür in der Champions League" habe. Nicht nur wegen dessen dreier Triumphe - zweimal mit dem AC Mailand, einmal mit Real - ist diese Hoffnung begründet.

Guardiolas Basis und Ancelottis Gelassenheit

Mit Ancelotti leitet nun ein gänzlich anderer Charakter die Übungseinheiten an der Säbener Straße. In Sachen Spielstruktur und -kultur kann er auf Guardiolas Basis aufbauen, muss gegebenenfalls nur Feinheiten anpassen. Hiermit sollen nicht die taktischen Fähigkeiten des Schülers von Italiens Trainerlegende Arrigo Sacchi kleingeredet werden. Doch seine Hauptaufgabe beim deutschen Rekordmeister scheint in einem anderen Bereich zu liegen.

Sven Ulreich lobte zuletzt die ruhige Art des neuen Coaches. "Er greift nicht so häufig ein, um Dinge in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das zeichnet sich in seiner Marschroute immer wieder ab", sagte der Ersatztorhüter bei "spox.com" und gab zu, Ancelottis Ansprachen im Vergleich zu Guardiola "ein Stück weit gelassener" auf die Mannschaft wirken: "Er bringt viel Ruhe mit und lässt die Mannschaft in einigen Situationen auch einfach mal machen."

"Die Spieler sind bereit, für ihn zu leiden"

Immer wieder loben auch ehemalige Schützlinge diese Eigenschaften Ancelottis. So sagte Toni Kroos im Dezember der "Zeit": "Er konnte die Erfolgsbedingungen am besten mixen: die taktische Idee, das Menschliche, was gerade bei Real Madrid nicht so einfach ist. Als er ging, waren alle traurig - auch die, die nicht gespielt haben."

Selbst Superstars wie Cristiano Ronaldo oder Zlatan Ibrahimovic, gemeinhin als schwierige Egozentriker verschrien, sind voll des Lobes für ihren ehemaligen Trainer. "Die Spieler mögen ihn und sind bereit, für ihn zu leiden", ließ Ronaldo in Ancelottis Buch "Quiet Leadership" schreiben.

"Respekt und Vertrauen" als Basis der Zusammenarbeit

Der Untertitel von "Quiet Leadership" (dt. ruhiger Führungsstil) lautet "Wie man Menschen und Spiele gewinnt" und offenbart die wichtigste Komponente in Ancelottis "ruhigem Führungsstil": die zwischenmenschlichen Beziehungen. "Es sollte sonnenklar sein, wer das Sagen hat - aber diese Einsicht muss das Ergebnis von Respekt und Vertrauen sein und nicht von Angst", schreibt er in seinem Vorwort.

"Ich respektiere die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite", führt er weiter aus und beschreibt den Lohn seiner Herangehensweise: "Die Leute trauen mir zu, dass ich das Richtige tue, so wie ich darauf vertraue, dass sie ihre Rolle in der Organisation richtig wahrnehmen."

Stimmungs-Management bei Superstars

In der Zeit beim AC Mailand, mit dessen Stars er zweimal Europas Thron erklomm, sei seine Herausforderung gewesen, "sie alle bei guter Stimmung zu halten und mir gleichzeitig über die Weiterentwicklung der Mannschaft Gedanken zu machen", erzählt er in seinem Buch. Genau diese Aufgabe geht er nun mit Bayerns Luxuskader an.

"Die Frage, wer spielt und wer nicht, ist doch eh das wichtigste und schwierigste Thema zwischen Spieler und Trainer", sagte Ancelotti im "Stern": "Bisher habe ich das auch immer so hinbekommen, weil ich mit allen rede und versuche, ihnen die Hoffnung zu geben, dass sie schon noch zu ihren Einsätzen kommen werden."

Wohlfühloase für Weltklasse

Dabei setzt der Italiener durchaus auf eine kumpelhafte Beziehung zu seinen Spielern. "Mit ihnen auch einmal abends essen zu gehen, ein paar Gläser Wein zu trinken, das alles führt dazu, dass Barrieren abgebaut werden und die Spieler dann entspannter sind", sagte er. Kein Wunder also, dass Ulreich ihn "gelassener" empfindet. Oder dass Philipp Lahm mit ihm "nun täglich Kontakt, sei es auf dem Platz oder in der Kabine", hat, wie der Bayern-Kapitän der "Sport Bild" verriet.

Ancelotti arbeitet in München an einer Wohlfühloase für die extrem belasteten Stars, ohne die höchsten Ansprüche des "Mia san mia"-Klubs zu vernachlässigen. Nuanciert formt er mit seiner ruhigen Art ein Weltklasse-Team zu einem gelassenerem Weltklasse-Team - und fügt dem Münchner Erfolgsrezept die vielleicht entscheidende Zutat hinzu.