Krebskranker Louis van Gaal: Der Ungebrochene

Louis van Gaal leidet an Prostatakrebs. Die eigene Krankheit ist nicht der erste Schicksalsschlag für den früheren Bayern-Coach – denn dessen Leben verläuft alles andere als schnurgerade.

Fußball ist ein Ergebnissport. Und nach Titeln wurde auch Louis van Gaal sein gesamtes Berufsleben lang bewertet. Der Champions-League-Sieg 1995 mit Ajax Amsterdam, die zwei spanischen Meisterschaften mit dem FC Barcelona und WM-Bronze mit den Niederlanden 2014 zementierten über die Jahre seinen Status als Trainerlegende.

Seine Misserfolge – seine verunglückte zweite Amtszeit beim FC Barcelona, seine Niederlage im Machtkampf mit Johan Cruyff bei Ajax Amsterdam, sein Scheitern als Reformer beim FC Bayern – ließen Teile der Öffentlichkeit aber das Bild eines machtbesessenen, autoritären Egomanen zeichnen. Um die Person Louis van Gaal, um den Menschen und darum, woher die eiserne Charakterstärke und Treue zu eigenen Prinzipien rührt, ging es dabei so gut wie nie.

Mit van Gaals Erklärung, er leide an einer aggressiven Form von Prostatakrebs (mehr dazu lesen Sie hier), hat sich der Blick auf den 70-Jährigen, der seit seiner Münchner Zeit in Deutschland den Spotttitel "Tulpengeneral" trägt, schlagartig verändert. Sein Charakter, seine ausgeprägt selbstbewusste Art, die ihm nicht selten als Arroganz ausgelegt wurde? Wird plötzlich gelobt. Seine Entscheidung, trotz bereits weit über 20 Bestrahlungsterminen an seinem Job als Bondscoach der niederländischen Nationalmannschaft festzuhalten und diesen weiterhin mit Feuereifer auszuüben? Wird bejubelt.

Van Gaals wahre Größe wird nur selten herausgestellt

Was die Kommentatoren, die seinen öffentlichen Umgang mit der Erkrankung als motivierend und inspirierend herausstellen, bei alledem allerdings – möglicherweise auch aus Unwissenheit – ausklammern: Louis van Gaal ist bereits sein Leben lang vom Schicksal gebeutelt worden. Seine wahre Größe ist aus einer anderen Charaktereigenschaft entstanden: Er hat sich nie brechen lassen.

Aloysius Paulus Maria, kurz Louis, van Gaal wird am 8. August 1951 als jüngstes von neun Geschwistern in Amsterdam geboren. Sein Vater, ein strenger, konservativer Mann, erleidet sechs Jahre nach Louis' Geburt einen Herzinfarkt, in dessen Folge er bettlägerig wird. Eine innige Beziehung entwickelt der spätere Erfolgscoach nie zu ihm. "Er unternahm viel mit meinen Geschwistern, mit mir nicht", erinnerte sich van Gaal bei der Vorstellung seiner Autobiografie 2010. Vier Jahre später, da ist er zehn Jahre alt, stirbt der Vater.

Trotz – oder vielleicht gerade wegen – des Traumas in frühester Kindheit wird van Gaal selbst zum Familienmenschen. Mit bereits 21 Jahren heiratet er, bekommt mit seiner Frau Fernanda zwei Töchter: Brenda und Renata. Seine Kinder siezen ihn bis heute – eine niederländische Etikette, die er sich bei seiner Mutter abgeschaut und die nichts mit fehlender Zuneigung zu tun habe, erklärte van Gaal einst im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung": "Ich bin der Freund meiner Kinder und sie lieben mich. Aber ich bin eine andere Generation, das müssen sie wissen."

Van Gaals pädagogisches Gespür fällt früh auf

Die andere große Liebe des Louis van Gaal ist früh der Fußball. Über die Hinterhöfe und Stadtteilklubs Amsterdams landet er in der Akademie des AFC Ajax. Doch im Vergleich zum vier Jahre älteren Johan Cruyff reicht es für den Mittelfeldlenker van Gaal nie für die Profimannschaft, die in den 1970er-Jahren den europäischen Fußball mitbestimmt.

Van Gaal tingelt in Folge durch Fahrstuhlklubs in Belgien und den Niederlanden, studiert nebenbei auf Lehramt, und beendet seine aktive Karriere 1987 mit 36 Jahren nach ansehnlichen 291 Einsätzen in der höchsten niederländischen Liga, der Eredivisie. Sein pädagogisches Gespür, das er sich in über einem Jahrzehnt als Sportlehrer an Oberschulen angeeignet hat, entgeht auch den Verantwortlichen seines letzten Klubs, der AZ aus Alkmaar, nicht. Sie binden van Gaal als Co-Trainer weiter in den Verein ein, ein gutes Jahr später folgt er dem Lockruf seines Herzensklubs Ajax, kehrt nach Amsterdam zurück.

An der Seite von Chefcoach "Don" Leo Beenhakker, nach erfolgreichen Jahren bei Real Madrid zurück in den Niederlanden, reift van Gaal zum Taktikfuchs. Nur wenige Persönlichkeiten sehen das Fußballspiel so fragmentiert und doch ganzheitlich wie der studierte Pädagoge. Folgerichtig übernimmt er nach Beenhakkers Abschied 1991 die Übungsleitung bei Ajax und führt den Klub mit dem gleichnamigen griechischen Helden im Wappen in seine erfolgreichste Zeit seit den goldenen 1970er-Jahren. Edwin van der Sar, Edgar Davids, Marc Overmars, Clarence Seedorf, Patrick Kluivert und viele mehr werden unter van Gaal zu Stars, später zu Weltstars.

Die Erkrankung seiner Frau verändert alles

Van Gaals Leben gleicht beruflich einem Märchen, als das Schicksal erneut zuschlägt. 1994 wird bei seiner Frau Fernanda Leber- und Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. Nach nur zwei Monaten, in denen sie wie ein Tier gelitten habe, wie es van Gaal einmal beschrieb, stirbt Fernanda. "Ich verlor in dieser Zeit meinen Glauben", erinnerte sich van Gaal in seiner Biografie, "ich spürte stark: Mit einem Gott, der das zulässt, will ich nichts mehr zu tun haben."

Van Gaal denkt ans Karriereende, will für seine Töchter da sein, glaubt, dass er zurück in der Rolle des Lehrers und Pädagogen mehr Zeit für sie habe. Doch seine Kinder halten davon nichts. "Ich ließ sie entscheiden: Soll Vater mit der Arbeit aufhören? Brenda und Renate gingen ja noch zur Schule, es musste ja für sie gesorgt werden. Sie sagten: 'Sie müssen weitermachen. Mama hätte es so gewollt.'"

Also bleibt er am Ball – es werden ereignisreiche Jahre: Van Gaal geht nach 1997 nach Barcelona, übernimmt danach im Jahr 2000 die niederländische Elftal, kehrt jeweils ein Mal noch nach Katalonien und zu "Oranje" zurück, führt dann 2009 seinen Ex-Klub AZ sensationell zur zweiten Meisterschaft der Vereinsgeschichte. Und auch privat blüht er auf: Er verliebt sich neu, mit seiner zweiten Frau Truus ist er seit 2009 verheiratet. "Die Beziehung zu ihr ist tiefer als zu meiner verstorbenen Frau, denn ich bin reifer geworden", reflektierte van Gaal.

Van Gaal schiebt sein Karriereende immer weiter auf

Als Ergebnis seines Reifeprozesses gibt er Truus noch vor der Hochzeit das Versprechen, er werde mit 55 Jahren seine Laufbahn beenden. Doch der Spieltrieb in ihm ist zu groß. Aus 55 wird 65, aus einem zunächst im engen Kreis angekündigten Karriereende nur ein Sabbatical im Familiendomizil an der portugiesischen Algarveküste.

2017 zieht van Gaal erstmals öffentlich den Schlussstrich – denn erneut schlägt das Schicksal zu. Sein Schwiegersohn verstirbt überraschend. "So viel ist in meiner Familie passiert. Da wird man wieder zu einem ganz normalen Menschen, der einfach nur mit dem Leben fertig werden muss", erklärte ein betroffener van Gaal dazu einmal.

Daraufhin wird es tatsächlich still um den Mann, der sich nie vor einem Konflikt gescheut hatte – sei es mit Zlatan Ibrahimovic, Johan Cruyff oder Uli Hoeneß. 2019 wiederholt er sein Gelübde: "Ich bin nun Rentner. Ich habe keine Ambitionen, in welcher Rolle auch immer, in den aktiven Fußball zurückzukehren."

"Ein Geschenk für mich in meinem Alter"

Doch der Mensch kann nicht aus seiner Haut – erst recht nicht van Gaal. Während seiner öffentlichen Abwesenheit wird seine Expertise gefragter denn je. Seine Ex-Klubs Manchester United, FC Barcelona, Ajax Amsterdam – sie alle sollen wohl eine Standleitung an die Algarveküste gelegt haben, fragen vor strategischen Entscheidungen vertraulich nach seiner Einschätzung.

So auch der niederländische Fußballverband KNBV. Die Bevölkerung hat sich unter dem pragmatischen Bondscoach Frank de Boer von ihrer Elftal entfremdet, das blamable Achtelfinal-Aus bei der EM 2021 gibt der angeknacksten Beziehung den Rest. Aus dem frommen Wunsch nach einem Nachfolger für de Boer, der die Mannschaft prinzipientreu im Geiste des "Totaal Voetbal" reformiert, wird schnell spektakuläre Realität: Im Sommer 2021, nur wenige Tage nach de Boers Demission, kehrt van Gaal auf die Trainerbank von "Oranje" zurück – es ist bereits seine dritte Amtszeit. Bei seiner Vorstellung fragt er folgerichtig in die Runde: "Wer soll es denn sonst machen?"

Seitdem musste van Gaal mit den Niederlanden noch keine Niederlage einstecken. Und schaut man sich seinen TV-Auftritt vom Wochenende an, in dem er seine Krebserkrankung öffentlich gemacht hat, hat er auch nicht vor, jetzt damit zu beginnen.

"Sehen Sie, an Prostatakrebs stirbt man nicht. Sie sterben in der Regel an zugrundeliegenden Krankheiten (...) Ich habe eine große Disziplin und Willenskraft. Ich kann den Job machen, weil ich ihn liebe. Ich liebe es, mit dem Team zu arbeiten. Das ist ein Geschenk für mich in diesem Alter. So sehe ich das." Diese eiserne Charakterstärke, sie dürfte van Gaals größtes Faustpfand im Kampf gegen den Krebs sein. Denn: Er hat sich nie brechen lassen.