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Brisantes Buch zum Wirecard-Skandal: Die Geschichte einer Milliarden-Lüge


Insolventer Dax-Konzern
Wirecard – die Geschichte einer Milliarden-Lüge

Von Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg

Aktualisiert am 04.11.2020Lesedauer: 4 Min.
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Die Wirecard-Firmenzentrale in München-Aschheim (Symbolbild): Der Zahlungsdienstleister ging als erster Dax-Konzern insolvent.Vergrößern des Bildes
Die Wirecard-Firmenzentrale in München-Aschheim (Symbolbild): Der Zahlungsdienstleister ging als erster Dax-Konzern insolvent. (Quelle: Sven Simon/imago-images-bilder)

Betrugsvorwürfe und Milliarden Euro, die es nie gab: Vor vier Monaten ging der Zahlungsdienstleister Wirecard insolvent. Die Reporter Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg haben darüber ein Buch geschrieben.

Der 19. Juni 2020 ist der letzte Tag von Markus Braun bei der Wirecard AG. Fast 20 Jahre war er hier der Chef, hat die Firma aus dem Nichts zum Milliardenkonzern aufgebaut. Doch an diesem Freitag ist es vorbei.

Was am späten Vormittag in der Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München passiert, schildern mehrere Mitarbeiter so: Der Compliance-Chef des Konzerns betritt das Büro von Braun im vierten Stock. "Ich bin geschickt worden, um dich nach draußen zu begleiten", sagt der Mann, der bei Wirecard für die Einhaltung von Recht und Gesetz zuständig ist. Braun wirkt irritiert. Jetzt schon?

Am Vormittag hat ihm der Aufsichtsrat das Vertrauen entzogen und ihn vor die Wahl gestellt: Entweder er tritt zurück oder er wird entlassen. Braun hat sich für den Rücktritt entschieden, er will eigenmächtig gehen.

"Mach Dir keine Sorgen, es wird sich alles aufklären"

Nun aber wirkt er überrascht von der Geschwindigkeit, mit der ihn seine Firma – seine Schöpfung – loswerden will. Braun wird darüber informiert, dass er keine Gegenstände mitnehmen darf, die der Firma gehören. Er wird hinaus auf den Flur in Richtung Aufzug geführt. Eine langjährige Mitarbeiterin kommt ihm entgegen. "Mach dir keine Sorgen, es wird sich alles aufklären", soll er sinngemäß gesagt haben und dabei Tränen in den Augen gehabt haben.

Der Aufzug gleitet nach unten. In der Tiefgarage, auf einem abgeschotteten Parkplatz, steht der Dienst-Maybach des Noch-Vorstandsvorsitzenden bereit. Braun muss seinen Hausausweis abgeben. Er steigt ein. Der Compliance-Chef wartet noch, bis der Chauffeur den Wagen aus der Tiefgarage gelenkt hat. Dann lässt er alle Zugangsdaten von Markus Braun in den Systemen der Wirecard sperren.

Aus. Vorbei.

Wirecard, das war eine Firma, die aus einem öden Gewerbegebiet des Münchner Vororts Aschheim heraus die Welt eroberte, ein Milliardenkonzern, zwischenzeitlich wertvoller als die Deutsche Bank. Aschheim war plötzlich das deutsche Silicon Valley und Wirecard eine Art Tesla in der Finanzwelt. Und Markus Braun – ein Nerd, Guru, Heiland.

Als erster Dax-Konzern in die Insolvenz

Wirecard, das war auch das Versprechen, dass die Bundesrepublik nicht nur Achtzylinder und Maschinenbau kann, sondern auch digitale Technologie.

Seit dem Juni 2020 aber steht fest: Es war alles eine große Illusion. Auf Konten zu Gunsten von Wirecard fehlen 1,9 Milliarden Euro. Der Unternehmensgewinn von mehr als fünf Jahren – er ist nicht da.

Wirecard meldet Insolvenz an, als erstes Dax-Unternehmen überhaupt.

Seit jeher führte Wirecard dubiose Geschäfte

Vier Männer kamen in Untersuchungshaft, darunter Braun. Sein langjähriger Kollege und Vertrauter ist auf der Flucht. Fotos des ehemaligen Wirecard-Vorstands sind an Litfaßsäulen im ganzen Land zu sehen. Interpol hat ihn weltweit zur Fahndung ausgeschrieben: Jan Marsalek, geboren am 15. März 1980 in Wien, 1,80 Meter groß.

Die Staatsanwaltschaft verdächtigt die Männer des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, der Untreue und der Marktmanipulation. Sie sollen Umsätze erfunden und die Bilanz von Wirecard damit aufgebläht haben. Braun weist über seine Anwältin "sämtliche gegen ihn erhobenen Vorwürfe entschieden zurück".

Die Geschichte von Wirecard beginnt 1998, in einem Vorort von München. Ihr erstes Geld verdient die Firma mit Kunden aus der Pornoindustrie. Später kommen Glücksspielanbieter hinzu. Ziemlich schnell gerät die Firma ins Zwielicht. Erst geht es um Kundenabzocke. Es folgen dubiose Deals und Zahlungen an Firmen, die in diskreten Steuerparadiesen sitzen und ihre Eigentümer nicht preisgeben.

Ein System, in dem Millionen verschwinden

Es entsteht ein System, das sich über viele Länder mit vielen unübersichtlichen Abzweigungen, dunklen Seitenstraßen und Notausgängen erstreckt, in denen Millionen verschwinden.

Im Kern aber wirkt die Erfolgsgeschichte plausibel, so lange bis der Online-Glücksspielmarkt in den USA per Gesetz quasi dicht gemacht wird. Die ganze Branche ist in Aufruhr, nur Wirecard tangiert das angeblich nicht.

Wie sollte das möglich sein?

Selbst langjährige Mitarbeiter durchschauen Wirecard nicht

Genau in dieser Zeit baut Wirecard in Ländern wie Dubai, fernab der Heimat, ein lukratives Partnergeschäft auf. Angeblich bezieht der Dax-Konzern Provisionen von anderen Firmen, die Zahlungen für Wirecard-Kunden abwickeln. Zuletzt standen diese Geschäfte für mehr als die Hälfte des Umsatzes.

Die angeblichen Gewinne parkt Wirecard auf Treuhandkonten, die sich ihre Wirtschaftsprüfer nicht genau genug ansehen und so erst im Frühsommer 2020 feststellen, dass das Geld gar nicht da ist.

All das war möglich, weil aus dem einst deutsch geprägten Unternehmen über die Jahre ein weitverzweigter internationaler Konzern wurde, den selbst langjährige Mitarbeiter nicht mehr durchschauten. In der Konzernzentrale glaubten viele, dass die Kollegen in Dubai schon wüssten, was es für Geschäfte sind, die ihrem Unternehmen traumhafte Wachstumsraten bescheren. In Dubai war es umgekehrt. Letztlich wusste es keiner so genau.

Eine Geschichte zu schön, um wahr zu sein

Zweifel werden durchaus immer wieder laut. Doch Braun bügelt die Kritiker immer wieder erfolgreich ab, rückt sie in die Nähe von Börsenspekulanten, die Wirecard nur schlecht reden wollten, um selbst an einem Kurssturz zu verdienen. Jahrelang kommt er damit durch, auch weil Braun die Sehnsucht nach einem digitalen Weltkonzern "made in Germany" bedient. Er ist der Liebling der Börsenanalysten und Investoren, weil er irrwitzige Wachstumsziele setzt – und sie Jahr für Jahr erreicht und übertrifft. Wie er das macht? So genau wollte das keiner wissen.

20 Milliarden Euro Börsenwert sind weg, Existenzen wurden vernichtet. Weil Wirtschaftsprüfer die Bilanzen von Wirecard jahrelang nicht genau genug prüften, weil die Aufsichtsräte ihre Kontrollfunktion nicht ausreichend wahrnahmen, weil die deutschen Behörden nicht hinsahen und sich nun gegenseitig die Verantwortung zuweisen, weil Investoren und Analysten an ein deutsches Fintech-Märchen glauben wollten.

Dabei war Wirecards Geschichte zu schön, um wahr zu sein. Von Anfang an.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten spiegeln die Meinung der Autoren wider und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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