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Experte: Ohne Impfpflicht reißen wir diese Mauern nicht mehr ein


Corona-Politik
Auch die Geimpften könnten bald rebellieren


29.11.2021Lesedauer: 5 Min.
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Hubertus Heil, Olaf Scholz, Angela Merkel, Jens Spahn und Helge Braun: Die Kritik an der alten Bundesregierung und der Ampelkoalition nimmt zu.Vergrößern des Bildes
Hubertus Heil, Olaf Scholz, Angela Merkel, Jens Spahn und Helge Braun: Die Kritik an der alten Bundesregierung und der Ampelkoalition nimmt zu. (Quelle: IPON/imago-images-bilder)

Die Impfquote ist zu niedrig, die Intensivstationen füllen sich. Die Kritik am zögerlichen Handeln der Politik wird lauter. Zu Recht, sagt ein Gesellschaftsforscher.

2G, 3G, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren, Lockdown – im zweiten Corona-Herbst ist die Lage hochdramatisch. Schuld daran: die Delta-Variante, die unzureichende Impfquote und eine zu zögerliche Politik. Was braucht es jetzt für den Umschwung? t-online fragte den Sozialpsychologen Ulrich Wagner.

t-online: Herr Wagner, wer sind die Impfgegner oder -skeptiker? Das scheint keine homogene Gruppe zu sein?

Ulrich Wagner: Es gibt tatsächlich sehr verschiedene Gruppen: Da sind zunächst die Ängstlichen, die sich vor der Impfung und vor Kurz- und Langzeitfolgen fürchten. Dann gibt es solche, die das Virus und seine Auswirkungen völlig bagatellisieren. Bei Letzteren spielt auch diese Erfahrung rein: Bis jetzt ist mir nichts passiert, das wird schon weiter so gut gehen.

Eine solche Haltung ist oft auch kombiniert mit der Erwartung, wenn sich genügend andere impfen lassen, erreichen wir auch so die notwendige Impfquote. Und dann gibt es natürlich eine politische Richtung, die auf diese Bewegung aufspringt, wie die AfD, die versucht aus der Anti-Impfkampagne Kapital zu schlagen, indem sie entsprechende Demos besucht und versucht, diese zu übernehmen.

Und auch aus der liberalen Richtung gibt es natürlich Vorbehalte, etwa bezüglich der Einschränkung bestimmter Freiheitsrechte. Vor dem Hintergrund der dramatisch steigenden Infektionszahlen scheint dieses Argument allerdings aktuell in den Hintergrund zu treten.

Ein zusätzliches Problem scheint es mit der Impfbereitschaft im Osten zu geben.

Ja, das sehen wir im gesamten ehemaligen Einflussgebiet der alten Sowjetunion, einschließlich der Gebiete der früheren DDR. Hier macht sich vermutlich eine tiefe Skepsis gegenüber der staatlichen Autorität bemerkbar, auch weil die Menschen in der Vergangenheit öfter die Erfahrung machen mussten, dass der Staat nicht unbedingt immer nur gut mit seinen Bürgern umgegangen ist.

Dr. Ulrich Wagner
Dr. Ulrich Wagner (Quelle: Universität Marburg)

Dr. Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Marburg.

Nun zeigen Untersuchungen, dass es anscheinend bestimmte Blasen gibt, in denen sich Geimpfte und Impfgegner bewegen. Besonders auf dem Land wird das deutlich. Das RKI monierte, dass die Impfquote besonders in sehr kleinen Städten unter 20.000 Einwohnern ein Problem ist. Dort scheinen Geimpfte ja dann schnell als Exoten zu gelten …

Ja, und die Gründe dafür sind vielfältig. Die Erreichbarkeit von Impfzentren oder die mangelnde Hausarztdichte zum Beispiel. Viele Menschen haben es einfach noch nicht geschafft, sich einen Impftermin zu organisieren. Aber sicher, das soziale Umfeld spielt da auch mit rein. Und natürlich die Kommunikationskanäle, derer sich die Menschen bedienen.

Was meinen Sie damit?

Impfbefürworter und bereits Geimpfte sind eher konventionelle Mediennutzer. Sie lesen Zeitung und nutzen auch öffentlich-rechtliche Medien oder generell Portale, die professionelle Einordnungen der Nachrichten bieten. Impfgegner bewegen sich häufig auf alternativen Kanälen im offenen Netz. Dort findet eine professionelle redaktionelle Einordnung oft nicht statt.

Also stimmt der Satz: "Hätten wir zu Beginn der Pandemie das Internet abgeschaltet, wären jetzt alle geimpft"?

Ja, bestimmt. Aber auch: Hätte die politische Kommunikation einfach besser funktioniert, wären jetzt viel mehr Menschen geimpft. Politisch verantwortliche Bundes- und Landespolitiker haben im Zusammenhang mit der Information über Corona und den Möglichkeiten, die Pandemie einzudämmen, viele Fehler gemacht. Es gab diffuse oder sich widersprechende Einordnungen.

Dazu trägt unter anderem auch der Föderalismus in Deutschland bei. Wenn jedes Bundesland andere Maßnahmen und Einschränkungen verhängt, sorgt das für Verwirrung und dafür, dass die Menschen die Maßnahmen nicht mehr verstehen. Wir sprechen von der Diffusion von Verantwortung. Zentralstaatlich organisierte Länder haben es hier einfacher.

Menschen, die die Politik nicht mehr verstehen, steigen dann auch aus der Corona-Berichterstattung aus?

Sie ziehen sich immer mehr in ihre eigenen Kommunikationsblasen zurück. Die aktuelle Situation in der Pandemie sorgt für große Verunsicherung. In solchen Situationen suchen Menschen nach Beistand, nach Gruppen, die sie in ihrer Einschätzung und Reaktion bestätigen. Sie wollen sich bestätigen, dass sie es richtig gemacht haben. Das verfestigt die Lagerbildung.

Und die Politik hat auch viel zu spät reagiert?

Ja, seit dem Sommer gab es im Grunde keinerlei politische Entscheidungen und Initiativen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens. Das ist Vogel-Strauß-Politik oder man könnte es auch Arbeitsverweigerung nennen. Die dramatische Problemlage, die wir jetzt haben, ist das Resultat.

Hinzu kommt jetzt ein, wie ich finde, empörendes Weiterschieben der Verantwortung auf die Wissenschaft, Virologen und Epidemiologie mit der falschen Behauptung, diese Entwicklung habe niemand vorhergesehen. Das stimmt aber einfach nicht, aus der Wissenschaft gab es diverse Mahnungen. Eine solche Unehrlichkeit beschädigt die Politik und das Politikvertrauen, aber auch die Wissenschaft.

Und: Es kamen völlig falsche Signale. Erst schloss man die Impfzentren, dann wurde die epidemische Notlage beendet. Und auch das aktuelle Handeln ist oft fatal: Wenn sich jemand nun endlich zur Impfung durchringt, stundenlang in einer Schlange steht und es dann heißt: "Der Impfstoff ist alle", ist das alles andere als motivierend.

Nun werden die Rufe nach einer Impfpflicht lauter …

Ohne eine Impfpflicht können wir die Mauern zwischen Geimpften und Impfgegnern nicht mehr einreißen. Die Fronten sind zu verhärtet, alle Argumente sind ausgetauscht und scheinbar entkräftet. Jetzt ist inhaltliche Kommunikation kaum mehr möglich.

2G erhöht aber ja auch bereits den Druck auf Impfgegner.

Ja. Genauso wie eine Impfplicht gibt 2G Impfgegnern auch neue Argumente an die Hand, aus ihrer eigenen verfahrenen Situation einen Ausweg zu finden. Menschen, die sich klar festgelegt hatten, "Mit mir nicht", können nun sagen: "Aber jetzt muss ich ja. Bleibt mir ja nichts anderes übrig." Das entschuldigt die neue Impfakzeptanz für die Betroffenen selbst und ihr Umfeld. Es hilft, das Gesicht zu wahren.

Denn eins muss man sagen: Festgefahrene Impfgegner sind im Grunde in derselben Situation wie Politiker, die zu Beginn ohne hinreichende Informationen über die Entwicklung der Pandemie die Impfpflicht ausgeschlossen hatten. Sie müssen irgendwie zurückrudern und Gründe dafür finden.

Aber reicht der Druck durch 2G, um wirklich breite Massen zur Impfung zu bewegen?

Ich befürchte, nein. Den harten Kern der Impfgegner erreichen Sie vermutlich nur über eine Impfpflicht, die auch klarer zu kommunizieren ist als 2G.

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Erwarten Sie da keine Protestflut?

Doch, natürlich, ich rechne vor allem bei der Einführung von weiteren Verschärfungen mit Demos und Protesten. Aber das wird sich relativ schnell wieder beruhigen, wie wir das gerade in Frankreich beobachten können. Und man darf die Lautstärke von Protestbewegungen nicht mit ihrer Größe verwechseln. Sie sind laut, aber der harte Kern der Impfgegner stellt eine kleine Minderheit dar und die wird mit der Einführung einer Impfpflicht noch kleiner werden.

Sie rechnen damit, dass sich auch Protest der Impfbefürworter formieren könnte?

Ja, das denke ich schon. Wenn es nicht gelingt, die gegenwärtige Situation zu entschärfen, werden auch die Menschen, die bisher all das umgesetzt haben, was von ihnen gefordert wurde, auf die Barrikaden gehen. Sie werden sich nicht auf Dauer Maßnahmen unterwerfen wollen, die vor allem deshalb notwendig sind, weil eine Minderheit nicht mitmacht.

Herr Wagner, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Interview mit Ulrich Wagner
  • Eigene Recherche
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