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Ex-Umweltminister Jürgen Trittin: "Die Volkspartei ist ein Auslaufmodell"


Ex-Umweltminister Jürgen Trittin
Klimainitiativen von Union und SPD sind "Armutszeugnis"

  • Theresa Crysmann
InterviewVon Theresa Crysmann

Aktualisiert am 06.05.2021Lesedauer: 7 Min.
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Jürgen Trittin im Parlament (Archivbild): Der Abgeordnete der Grünen war als Umweltminister von 1998 bis 2005 selbst in der Bundesregierung.Vergrößern des Bildes
Jürgen Trittin im Parlament (Archivbild): Der Abgeordnete der Grünen war als Umweltminister von 1998 bis 2005 selbst in der Bundesregierung. (Quelle: Political-Moments/imago-images-bilder)

Der Wahlkampf bringt den Grünen gerade nie gekannte Höhenflüge in den Umfragen. Die Zeichen stehen gut für den ehemaligen Bundesumweltminister Jürgen Trittin und seine Partei. Wäre da nicht die zunehmende Klimakonkurrenz von Union und SPD.

Bündnis 90/ Die Grünen sind als erste Partei ins Superwahljahr gestartet. Ihr Wahlprogramm stand schon Mitte März, das Gesicht dazu steht inzwischen auch fest: Annalena Baerbock verspricht den Wählerinnen und Wählern, mit ihr an der Spitze sei in Deutschland "alles drin".

Was das neben der grünen Kernkompetenz beim Klimaschutz noch so alles abdeckt, scheint aber gerade weniger relevant. Seitdem das Bundesverfassungsgericht das Klimaschutzgesetz von Union und SPD vergangene Woche angesägt hat, gibt es kaum Raum für andere Themen.

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t-online hat darüber mit Jürgen Trittin gesprochen; er sitzt für die Grünen im Bundestag und war von 1998 bis 2005 Umweltminister im Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder. Die wachsende Konkurrenz beim Klimaschutz im Wahlkampf sieht er gelassen.

t-online: Herr Trittin, in vielen Wählerumfragen liegen die Grünen deutlich vorn. Bisher folgten auf gute Umfragen aber oft maue Wahlergebnisse. Ist das gerade nur ein kurzfristiger "Baerbock-Effekt"?

Jürgen Trittin: Das sind ja alles keine Naturgesetze, es gibt genug andere Beispiele: In Baden-Württemberg lagen wir ein halbes Jahr vor der Wahl noch hinter der CDU und sind dann stärkste Partei geworden. Wir wissen, dass man sich auf nichts verlassen darf – weder im Guten noch im Schlechten. Zum ersten Mal haben wir eine Wahl, bei der die Amtsinhaberin nicht wieder antritt. Das heißt: Es gibt keinen Kanzlerbonus, das Rennen ist offen. Und zum ersten Mal heißt es Grün oder Schwarz. Das ist das Einzige, was ich aus diesen Umfragen ernst nehme.

Dennoch werden sie jetzt in einem Prozentbereich gehandelt, den bisher nur CDU und SPD erreichen konnten. Was fehlt den Grünen noch, um sich wirklich als Volkspartei zu etablieren?

Die Volkspartei ist ein Auslaufmodell. Bei Volksparteien reden wir davon, dass eine Partei die ganze gesellschaftliche Wirklichkeit abbildet und den Anspruch hat, rund 50 Prozent der Stimmen zu haben. Das kann die SPD schon lange nicht mehr, die Union aber auch nicht. Nicht mal in Bayern.

Und die Grünen versuchen es gar nicht erst?

Auch für uns Grüne ist das ja neu: Wir binden mittlerweile sehr unterschiedliche Kräfte. Klar gibt und gab es eine massive Konkurrenz links der Mitte und überschneidende Wählerschaften mit der SPD. Aber wir erreichen inzwischen auch Menschen, die beispielsweise verzweifelt darüber sind, dass die christlich-konservative Soziallehre in der Union keinen Platz mehr hat. Die kommen jetzt auch zu den Grünen! Unser Konzept lautet also nicht Volkspartei, sondern eine Bündnispartei zu sein für solche Menschen. Wir bilden uns aber nicht ein, dass wir damit die ganze Gesellschaft abbilden.

Jürgen Trittin wurde 1954 in Bremerhaven geboren und ist seit 1980 bei den Grünen. Seine heutige Frau motivierte ihn damals beizutreten. Nach einigen Jahren als niedersächsischer Europaminister leitete Trittin ab 1998 knapp sieben Jahre das Bundesumweltministerium. Den Parteivorsitz bei den Grünen hatte Trittin von 2009 bis 2013 – für die miese Stimmausbeute bei der Bundestagswahl 2013 musste er den Kopf hinhalten. Seit 1998 ist er Mitglied im Bundestag und engagiert sich vor allem in der Außen- und Europapolitik.

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass das Klimaschutzgesetz der Großen Koalition unzureichend und unfair ist. Haben Sie da den Sekt aufgemacht?

Das Urteil buchstabiert die bisherige Diskussion um Klimaschutz in der Gesellschaft auf jeden Fall völlig neu. Bisher war das Motto da eher: Müssen wir unsere Freiheit einschränken oder sollen wir Klimaschutz machen? Jetzt gilt: Unterlassener Klimaschutz von heute bedeutet die Einschränkung der Freiheit der Generation von morgen. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht das unter das Staatsziel des Artikels 20 gepackt. Das ist ein Paradigmenwechsel und dem gilt es nun gerecht zu werden. Anders als bisher. Die große Koalition hat Klimaschutz immer auf die lange Bank geschoben.

Seit der Gerichtsentscheidung überschlagen sich Unions-Politiker regelrecht mit neuen Klimaversprechen. Die SPD will sogar schon nächste Woche ein komplett neues Klimaschutzgesetz vorlegen. Rücken die Ihren Wahlversprechen nicht gefährlich nah?

Da bin ich entspannt. Es ist doch eher ein Armutszeugnis. Jetzt versprechen plötzlich die größten Bremser Sachen, die sie vor einem halben Jahr noch bekämpft haben. Wirklichen Klimaschutz gibt es nur mit dem Original. Herr Scholz und auch Frau Merkel kündigen gerade mit großer Geste etwas an, was mit den neuen Klimazielen der EU sowieso hätte passieren müssen. Entscheidend ist nicht, welche Prozentzahl oder welche Jahreszahl ich irgendwo reinschreibe, sondern ob man die Grundlagen dafür schafft, um diese Ziele tatsächlich zu erreichen.

Was braucht es dafür?

Wir müssen nicht nur die Stromerzeugung auf erneuerbare Basis stellen, sondern künftig auch den Verkehr und die Industrie. Und wir müssen den faktischen Ausbau-Stopp für erneuerbare Energien in Deutschland beenden: Solange beispielsweise nicht verbindlich ist, dass in jedem Landkreis in Deutschland zwei Prozent der Fläche für Windenergie bereitgestellt werden, funktioniert das nicht. Es muss darum gehen, diese Dinge tatsächlich festzuschreiben, statt symbolisch um Jahreszahlen zu streiten.

Wirtschaftsminister Altmaier versuchte sich 2020 an einer „Klimacharta“ und die „Klimaunion“ will Forderungen aus dem grünen Wahlprogramm ins Unionsprogramm kopieren. Ist das ein Versuch, mit langjährigen grünen Ideen im bürgerlichen Lager zu punkten?

Das ist der verzweifelte Versuch, sich von jahrelanger Realitätsverweigerung zu verabschieden. Wenn sie die Klimabilanz von 16 Jahren Angela Merkel nehmen, stellen Sie fest: Die einzigen Bereiche, in denen Klimaschutz stattgefunden hat, in denen die Emissionen nicht nach oben gegangen sind, waren die Bereiche, für die wir als Grüne in der vorherigen Regierung die Grundlage gelegt hatten. Da bin ich gar nicht bange um diese Konkurrenz. Sollen sie sich doch selber widerlegen.

Den Vorwurf “viel reden, wenig tun” machen einige aber auch den Grünen. Müssen Ihre Wähler im Herbst massive Zugeständnisse an mögliche Koalitionspartner fürchten?

Ich habe als Bundesumweltminister für die Grünen 2001 nicht nur den Atomausstieg, sondern auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht. Wir haben 2003 den Emissionshandel vorangetrieben. Beides geschah gegen den wütenden Widerstand von CDU und FDP. Und unter ständiger Behinderung durch die SPD. Und deswegen sehe ich solche Vorwürfe sehr, sehr gelassen.

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Immerhin, beim höheren CO2-Preis sind Sie sich mit der Union mehr oder weniger einig. Fakt ist, Heizöl und Sprit werden dadurch teurer. Wie verhindern Sie, dass Klimaschutz zum Elitenprojekt wird?

Das Geld aus dem CO2-Preis geht als Energiegeld zurück an die Menschen. Damit werden Menschen überproportional profitieren, die weniger Einkommen haben. Und es wird teurer für diejenigen, die viel verdienen und einen großen CO2-Fußabdruck haben. Allerdings können diese durch anderes Verhalten gegensteuern – zum Beispiel, mit einem E-Auto statt eines neuen Diesels. Klimaschutz ist kein Klamauk-Thema. Das hat nur die FDP noch nicht verstanden. Die wollte immer, dass es einen CO2-Preis gibt, sonst nichts. Und nun setzt sich Herr Lindner mit dem Taschenrechner bei der "Bild-Zeitung" hin und sagt, das sei aber jetzt ganz doof. Das zeigt, die FDP will keinen Klimaschutz, das interessiert die einen Dreck. Genauso wenig, wie sie die Nöte der Menschen mit kleinem Einkommen interessiert. Sie ist die Anti-Klima-Partei geblieben, die sie immer war.

Welches Parteienbündnis wäre für Sie das geringere Übel?

Ich habe elf Jahre in Koalitionen mit der SPD regiert, da mache ich mir keinerlei Illusionen darüber, wie klimafreundlich diese Partei im Konfliktfall ist. Bisher hat die SPD jeden konkreten Schritt erst einmal blockiert. Und ich habe nach den Wahlen 2013 und 2017 an den Sondierungsgesprächen teilgenommen – da war es genauso mit Union und FDP. In vielen Fragen sind wir der SPD näher als der CDU. Klar, soziale Gerechtigkeit, auch in wirtschaftspolitischen Fragen. Aber im Bereich des Klimaschutzes haben wir nur Konkurrenten, die eigentlich nicht springen wollen und versuchen, das zu vertuschen.

Wen könnten Sie noch am ehesten dazu bringen, einen kleinen Hüpfer zu machen?

Je stärker die Grünen bei der Bundestagswahl werden, umso besser sind die Chancen, unsere Ziele mit zögerlicheren Parteien umzusetzen. Das konnte man gerade in Baden-Württemberg sehen. Da gab es nach dem Wahltag einen neuen Realismus: Im Ergebnis hat die CDU dort das Klimapapier aus dem grünen Parteiprogramm unterschrieben.

Heute startet in Deutschland das Warm-Up für den diesjährigen UN-Klimagipfel im November. Falls Sie an so einem Treffen nochmal als Bundesumweltminister teilnehmen könnten, was wäre für Sie am wichtigsten?

Meine Botschaft für Glasgow wäre: Wir brauchen angesichts der fortschreitenden Klimakrise nicht nur ambitioniertere Reduktionsziele! Sondern wir müssen noch mehr darauf schauen, wer die Hauptverursacher des menschengemachten Treibhauseffekts sind. Das sind wir Europäer, die US-Amerikaner und die Chinesen. Und deshalb müssen wir die Leidtragenden der Klimakrise besser unterstützen – das sind die Länder des globalen Südens.

Was sagen Sie denen, die Länder wie Brasilien oder Indien beim Klimaschutz viel eher im Zugzwang sehen?

Es gibt seit über 30 Jahren einen ganz einfachen Grundsatz: Es gibt eine gemeinsame geteilte Verantwortung. Gemeinsam heißt, alle müssen etwas tun. Geteilt heißt, alle nach ihrer jeweiligen Verantwortung. Und dann ist es zwar richtig, dass wir die Entwaldung in Brasilien stoppen müssen – denn das macht fast ein Fünftel der Treibhausgasemissionen weltweit aus.

Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die Brasilianer pro Kopf deutlich niedrigere Emissionen haben als die Europäer. Und dass der Kahlschlag im Amazonas etwas mit den Europäern und den Chinesen und den Amerikanern zu tun hat. Wir kaufen doch das Soja und das Fleisch von dort. Das sind Emissionen, die unser Lebensstil hier erzeugt.

Wenn es bei den Wahlen für die Grünen gut laufen sollte, hätten Sie Lust als Bundesumweltminister nach Glasgow zu fliegen?

Ich hoffe, dass wir vor der Klimakonferenz in Glasgow eine handlungsfähige neue Regierung haben, vielleicht sogar unter Federführung einer grünen Kanzlerin. Aber bis dahin gilt auch für Veganer: „Man darf das Fell des Bären nicht verteilen, bevor er erlegt ist!“

Verwendete Quellen
  • Telefongespräch mit Jürgen Trittin
  • Eigene Recherche
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