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Corona – Flüchtlingslager Moria: Europa stirbt, wenn uns das Leid egal wird


Moria in Corona-Krise
Erst hinter den Kinderaugen zeigt sich, wer wir sind

MeinungEin Gastbeitrag von Erik Marquardt

Aktualisiert am 18.04.2020Lesedauer: 4 Min.
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Kinder im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos: 20.000 Menschen leben in dem Camp, das nur für 3.000 Personen ausgerichtet ist.Vergrößern des Bildes
Kinder im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos: 20.000 Menschen leben in dem Camp, das nur für 3.000 Personen ausgerichtet ist. (Quelle: ANE Edition/imago-images-bilder)

In der Corona-Krise wird für das Flüchtlingslager auf Lesbos das Schlimmste befürchtet. Dabei sind die Zustände schon jetzt katastrophal. Was Deutschland und Europa tun, ist erbärmlich.

Wohl ein jeder Berufspolitiker hat sich eines Tages überlegt, warum er sich zur Wahl stellt. Entgegen der Vorurteile haben Mandatsträger selten wenig zu tun, arbeiten am Wochenende und gehen oft an ihre Leistungsgrenzen. Doch was ist der Grund, warum sich jemand zur Wahl stellt? Für wen machen Regierungen in Europa denn Politik?, frage ich mich in den letzten Tagen und Wochen auf Lesbos immer mehr.

Seit sieben Wochen bin ich auf Lesbos und blicke nach Deutschland, sehe Kontaktverbote, Social Distancing, Anleitungen zum Händewaschen und andere Kraftanstrengungen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Ich gehe nach Moria und sehe ein überfülltes Lager, in dem es an Medikamenten, Ärztinnen und Platz fehlt, um dem herannahenden Virus irgendetwas entgegenzustellen. 20.000 Menschen in einem Camp für 3.000 Personen. Und nicht einmal fließendes Wasser gibt es jeden Tag.

Um zu verstehen, dass das keine gute Idee ist, muss man nicht an Menschenrechten oder Humanität interessiert sein. Man braucht einfach etwas Verstand. Das Virus interessiert sich nicht dafür, welchen Pass wir haben. Es betrifft uns alle. Dass wir uns auch nach wochenlanger Diskussion noch Orte in Europa erlauben, an denen Menschen dicht gedrängt in Zelten leben müssen, könnte man als Masochismus bezeichnen.

Und Deutschland nimmt 58 Kinder.

Bundesinnenministerium: Statements wie ein rechtspopulistisches Wahlprogramm

In der Bundestagswahl 2017 gab es Streit über eine Obergrenze. "200.000 Geflüchtete im Jahr, mehr nicht", rief die CSU in die Mikrofone auf den Bühnen der Bierzelte im Wahlkampf. Damit war der rechte Rand der demokratischen Parteien markiert.

Und was ist jetzt?

Selbst wenn wir 30.000 Menschen von den griechischen Inseln aufgenommen hätten, wären wir im letzten Jahr noch unter dieser Obergrenze geblieben. In diesem Jahr bleiben wir voraussichtlich 60.000 Plätze unter Seehofers Obergrenze, wenn man die Zahlen der Asyl-Erstanträge hochrechnet.

Doch jeder zusätzliche Asylsuchende wird inzwischen zu einem zusätzlichen Problemfall stilisiert. Nicht wegen seiner Geschichte, sondern wegen seiner Existenz. Hauptsache, die Zahl der Ankünfte sinkt, die Zahl der Abschiebungen steigt. Dann ist alles gut. Dass die realen Statements aus dem Bundesinnenministerium wie das Wahlprogramm einer rechtspopulistischen Partei klingen, fällt kaum noch auf.

"Unsere Möglichkeiten sind endlich", sagte der damalige Bundespräsident 2015. Das stimmt, doch es stimmt auch, dass wir unsere Möglichkeiten schon lange nicht mehr zu nutzen bereit sind, um Notleidenden zu helfen. Hotels stehen leer, Kreuzfahrtschiffe stehen bereit. Erstaufnahmelager in Deutschland sind menschenleer. Städte, Kommunen und ganze Bundesländer wollen helfen.

Und Deutschland nimmt 58 Kinder.

Nicht mal Kinder werden überall gerettet

Die humanitäre Krise auf den griechischen Inseln ist kein Unfall. Sie basiert auf der Idee, dass die Lage an den Außengrenzen abschreckend sein muss. So abschreckend, dass niemand mehr auf die blöde Idee kommt. Das ist eine Strategie, bei der man an den Außengrenzen ein Haus anzündet, um am Ende in einer heroischen Aktion noch stolz ein paar Kinder vor dem Feuer zu retten, statt den Brand zu löschen. Doch nicht mal Kinder werden überall gerettet.

(Quelle: privat)


Erik Marquardt, Jahrgang 1987, sitzt seit 2019 für die Grünen im Europaparlament. Er befasst sich vor allem mit den Themen Migration und EU-Außengrenzen und ist Mitinitiator der Kampagne #LeaveNoOneBehind.

Am Osterwochenende lagen überfüllte Schlauchboote im maltesischen Seenotrettungsgebiet. Die Koordinaten waren bekannt, die Menschen in Lebensgefahr. Doch ein Rettungsschiff wurde nicht geschickt. Corona dient auch als Ausrede zum Ertrinkenlassen.

"Angesichts der schwierigen Lage appellieren wir deshalb an sie, derzeit keine Fahrten aufzunehmen und bereits in See gegangene Schiffe zurückzurufen", steht in einem Brief des Bundesinnenministeriums. Heiko Maas findet diese Empfehlung richtig, sagte er in einem Interview mit Tilo Jung. Man würde sich wünschen, dass Maas oder Horst Seehofer mal die junge Mutter anrufen, die schreiend beim Notruf flehte, dass doch wenigstens noch ihr siebenjähriges Kind gerettet werden solle. Sie sollten ihr dann erklären, dass sie mitsamt Kind nun leider sterben muss, weil ihr sonst schwierige Situationen drohen.

Seit Jahren laufen europäische Regierungen den Rechtspopulisten hinterher. "Das Boot ist voll", gilt in der Realität jedoch eher beim Blick auf Schlauchboote im Mittelmeer als auf das europäische Asylsystem.

Europa stirbt, wenn uns das Leid der Menschen egal wird

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Der Artikel 1 unseres Grundgesetzes ist keine hypermoralische Idee, die sich drei Hippies beim Kiffen im Wald ausgedacht haben. Die Menschenwürde jedes einzelnen Menschen zu achten, ist die zentrale Antwort auf eine schreckliche erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der der Faschismus Europa in den Abgrund geführt hat. Ich brauche keine Regierungserklärungen mehr über Menschenrechte, keine Antwortbriefe mit Beteuerungen, wie wichtig die Menschenwürde sei. Ich will nicht mehr hören, wer wir sein wollen. Ich stehe an den europäischen Außengrenzen und sehe, wer wir sind.

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Europa stirbt nicht, wenn Menschen in Not wie Menschen behandelt werden. Europa stirbt, wenn uns das Leid egal wird. Es ist Zeit aufzustehen angesichts dieser leidenschaftslosen Lethargie, in der Regierungen mit dem Finger aufeinander zeigen und dann zum Buffet schlendern.

Die europäische Idee ist zu wichtig, als sie von ein paar Männern in teuren Anzügen vor Excel-Tabellen zerstören zu lassen. Es ist wunderbar für ein paar Dutzend Kinder, wenn sie nach Deutschland kommen können und in Sicherheit sind. Aber es ist erbärmlich, wenn eine starke Demokratie ihre Möglichkeiten zum Schutz der Menschenrechte hinter ein paar Kinderaugen versteckt.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten spiegeln die Meinung des Autors wider und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online.de-Redaktion.

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