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Grokßbritannien: Abkommen vom Tisch? Boris Johnson zündet die Brexit-Bombe


Eklat in EU-Verhandlungen
Johnson zündet die Brexit-Bombe

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 07.09.2020Lesedauer: 7 Min.
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Boris Johnson leitet eine Kabinettssitzung: Der britische Premierminister hat mit seinen Drohungen die Brexit-Krise verschärft.Vergrößern des Bildes
Boris Johnson leitet eine Kabinettssitzung: Der britische Premierminister hat mit seinen Drohungen die Brexit-Krise verschärft. (Quelle: dpa-bilder)

Boris Johnson stellt der EU im Brexit-Streit ein Ultimatum. Die Drohung, Teile des Austrittsabkommens für nichtig zu erklären, könnte zum Kollaps der Gespräche führen. Das ist gefährlich – vor allem für Großbritannien.

Verhandlungen sind oft ein großes Muskelspiel, alle Parteien versuchen stets, Stärke zu demonstrieren. Dieses Taktieren ist jedoch manchmal nur Fassade – je lauter die Töne, desto größer ist oft auch die Schwäche der jeweiligen Verhandlungsposition.

Ein passendes Beispiel dafür ist Premierminister Boris Johnson. Seine lauten Töne sorgten am Montag in den Verhandlungen um das Handelsabkommen mit der Europäischen Union für einen Eklat. Es war für die EU ein Affront, als der britische Premierminister mit dem Scheitern der Verhandlungen drohte und der EU ein Ultimatum setzte. Aber damit nicht genug: Weiteren Unmut lieferte ein Bericht der "Financial Times". Demnach will Johnson die mit dem Brexit eingegangenen Zusagen zum Status von Nordirland unterlaufen. Die EU ist empört, das Vertrauen beschädigt. Es ist die große politische Bombe aus London, die am Ende zum völligen Kollaps der Verhandlungen führen könnte.

Mit seinem Vorstoß hat Johnson die Spannungen im Brexit-Poker weiter verschärft. Ein No-Deal-Brexit wäre katastrophal, besonders für die britische Wirtschaft, die wegen der Corona-Krise ohnehin schwer gebeutelt ist. Nun drängt die Zeit, die Situation ist ernst. Johnson steht massiv unter Druck und hat das gemacht, was so mancher Staatenlenker in einer solchen Situation schon gemacht hat: einen schweren Fehler. Wahrscheinlich wollte er vor der achten Verhandlungsrunde mit der EU, die am Dienstag beginnt, seinerseits den Druck erhöhen. Doch selbst wenn es bei einer Drohung bliebe, wäre der Schaden für das Vertrauen seitens der EU immens.

Mit seinem Ultimatum an die EU holt der Premier das Thema Brexit immerhin wieder auf die politische Tagesordnung. Die Verhandlungen waren im Zuge der Corona-Krise in den Hintergrund gerückt. Dabei ist eine Einigung bislang nicht in Sicht und den Verhandlungspartnern läuft die Zeit davon: Die Übergangszeit nach dem EU-Austritt der Briten läuft am 1. Februar 2021 ab. Wenn bis dahin kein Abkommen steht, würden bei Exporten und Importen zwischen Großbritannien und der EU Zölle auf Basis der Bestimmungen der Welthandelsorganisation (WTO) gelten.

Großbritannien droht Doppel-Krise

Das wäre vor allem für viele Unternehmen eine Katastrophe, besonders für britische, die laut Beobachtern nicht darauf vorbereitet sind. Eigentlich wollen die EU und die britische Regierung dieses Szenario verhindern. Beide Seiten fordern deshalb Bewegung – von der Gegenseite.

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Doch während die EU abwartet, steht Premierminister Boris Johnson vor einer fast unlösbaren Aufgabe: Er muss auf der einen Seite die Brexit-Hardliner zufrieden stellen, die ihn zum Parteivorsitzenden der Tories und dann zum Premierminister machten. Andererseits muss er den wirtschaftlichen Schaden für sein Land begrenzen, denn durch einen No-Deal-Brexit und die Corona-Pandemie droht der britischen Wirtschaft im Jahr 2021 eine Doppel-Krise.

"Sehe nicht, dass es ein Freihandelsabkommen geben wird"

Nun versucht die britische Regierung den Druck auf die EU zu erhöhen, um ein Entgegenkommen zu erzwingen. Wenn es bis Mitte Oktober keine Einigung gebe, "dann sehe ich nicht, dass es ein Freihandelsabkommen zwischen uns geben wird", schrieb Johnson am Montag in einer Erklärung.

Noch schärfer im Ton war am Sonntag der britische Chef-Unterhändler David Frost: Er sei sich völlig einig mit Johnson, dass Großbritannien von einem No-Deal-Brexit nichts zu befürchten habe, sagte er der "Mail on Sunday". Das ist zunächst einmal nur eine Botschaft an die eigene Bevölkerung: Keine Angst, ein No-Deal-Brexit wäre sogar gut für Großbritannien. Dass das nicht stimmt, dürfte auch der britischen Regierung bewusst sein.

Drohungen und Ultimaten sind nicht neu im Brexit-Poker. Doch dabei blieb es nicht: Die britische Regierung erwägt offenbar, das EU-Austrittsabkommen in für sie kritischen Fragen zu umgehen. Vor allem die Klauseln, die eine harte Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Staat Irland vermeiden sollen, sind Johnson ein Dorn im Auge.

Laut "Financial Times" würde sich das von der britischen Regierung geplante Binnenmarktgesetz über diese vertraglichen Zusagen hinwegsetzen und sie teilweise aushebeln. Das Blatt gilt in Brexit-Fragen als vertrauenswürdige Quelle und beruft sich auf Personen, die die Pläne schon kennen. Beschlossen werden sollen diese aber erst im Herbst.

"Alles, was unterschrieben wurde, muss respektiert werden"

Allein die Drohung der Nichteinhaltung internationaler Verträge ist für die Brexit-Verhandlungen eine Katastrophe. Das gegenseitige Vertrauen schwindet, die Fronten verhärten sich weiter. Deshalb versuchte ein britischer Regierungssprecher am Montag zurückzurudern. "Das ist nur eine Option", hieß es am Montag aus der Londoner Downing Street. Das sei alles nicht so gemeint gewesen. Die EU reagierte allerdings verschnupft auf diese "Option".

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"Alles, was unterschrieben wurde, muss respektiert werden", sagte EU-Chefunterhändler Michel Barnier dem Radiosender France Inter in Paris. Der Vorsitzende des Handelsausschusses im Europaparlament, Bernd Lange (SPD), äußerte sich auf Twitter "schockiert". Die EU werde "sich nicht erpressen lassen", betonte er.

Wirtschaft leidet unter Johnsons Fehlern

Die EU will sich nicht erpressen lassen und gleichzeitig ein Zeichen an andere Staaten senden, die vielleicht künftig die Gemeinschaft verlassen wollen. Das Brexit-Chaos zeigt schon jetzt: Leicht ist dieser Weg nicht – und die wirtschaftlichen Konsequenzen für Großbritannien sind nicht absehbar. Somit gibt sich auch Brüssel hart in den Verhandlungen, Chefunterhändler Barnier warnte schon im August vor dem Scheitern der Gespräche.

Doch im Gegensatz zu Johnson kann sich die EU Muskelspiele erlauben. Großbritannien steht alleine da, die Wirtschaft der Insel ist schwer angeschlagen, das Land ist schon in eine Rezession gerutscht. Dem Statistikamt OMS zufolge haben im Zuge der Corona-Pandemie von März bis Ende Juli etwa 730.000 Menschen ihre Jobs verloren. Die britische Wirtschaftsleistung ist im zweiten Quartal um 20,4 Prozent eingebrochen – stärker als in Italien oder Spanien, die in Europa am schwersten vom Coronavirus betroffen waren.

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In Großbritannien ist die Wirtschaftskrise in Teilen hausgemacht, Johnson reagierte spät auf die Pandemie und man verfolgte zunächst die Strategie einer Durchseuchung – also zu Gunsten der Wirtschaft gab es keinen Lockdown und zunächst keine Kontaktbeschränkungen. Auch dieser Schuss ging nach hinten los, schließlich gab es auch auf der Insel einen Lockdown. Viel zu spät, meinen Johnsons Kritiker. Noch immer gibt es auf der Insel mehr als 300.000 akute Corona-Infektionen, die zweitmeisten in Europa.

Allein deshalb wäre ein Handelsabkommen für die britische Wirtschaft enorm wichtig, aber Johnson hat Probleme, die dafür nötigen Zugeständnisse politisch zu verkaufen. Doch mit seiner Politik des Drucks ohne Druckmittel manövriert er sein Land immer weiter in eine Sackgasse.

Darüber Streiten EU und Großbritannien

Seine Strategie hat er längst angepasst, er versucht der Bevölkerung die Angst vor dem No-Deal-Szenario zu nehmen. So spricht die britische Regierung nicht mehr vom "No-Deal-Brexit", sondern nur noch vom "australischen Modell". Doch das Problem: Nur Formulierungen helfen nicht durch die Rezession, das würde spätestens im nächsten Jahr deutlich werden.

Dabei ist eine Einigung zwar sehr schwierig, aber nicht unmöglich. Ein Überblick:

  • Die größte Hürde für einen Handelsvertrag betrifft das sogenannte "Level Playing Field", also die Forderung der EU, dass die strengen EU-Regeln für Sozial- oder Umweltstandards und staatliche Subventionen eingehalten werden. Großbritannien will sich dabei aber nichts diktieren lassen. So will Boris Johnson zum Beispiel, dass Großbritannien als souveräne Nation selbst entscheiden kann, welchen Wirtschaftsbereich es wie stark staatlich fördert. Die EU dagegen will ein Steuerparadies vor der eigenen Küste als Konkurrent zur eigenen Ökonomie verhindern.
  • Streit gibt es auch über ein mögliches Fischerei-Abkommen und um Fangquoten. Die Flotten der EU-Staaten sollen weiter Zugang zu den britischen Gewässern haben, das ist für Brüssel Voraussetzung für eine Einigung. Das ist wichtig, weil zum Beispiel deutsche Hochseefischer ihren kompletten Nordsee-Heringsfang aus britischem Seegebiet entnehmen. Johnson will dagegen den britischen Fischern zeigen, dass der Brexit sich für sie lohnt. Großbritannien will jährliche Fangquoten, die EU strebt eine langfristige Lösung an.
  • Außerdem geht es um die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Ein Kernziel der Brexit-Bewegung ist es, die Rechtssprechung wieder unter britische Kontrolle zu bekommen. Brüssel fordert, dass der EuGH immer das letzte Wort habe, wenn es um EU-Recht gehe. Eine Einigung ist in Sicht: Am Ende könnte es einen Schlichtungsmechanismus mit Vertretern beider Länder geben.
  • London ist der wichtigste Finanzplatz Europas. Brüssel will den Marktzugang für britische Banken aber nicht über das Handelsabkommen regeln, sondern ihnen, ähnlich wie US-Banken, Zugang zum Markt ermöglichen. Das deckt aber nicht alle Finanzprodukte ab, britische Banken wären deutlich schlechter gestellt als bislang.

Was nun, Herr Johnson?

Der Stillstand in den Verhandlungen zeigt, dass die Hürden für eine Einigung hoch sind. Aber sind sie wirklich unüberwindbar? Letztlich haben EU und Großbritannien auch beim Austrittsabkommen zusammengefunden – trotz massiven Zeitdrucks und großer Differenzen.

Doch viele Probleme der damaligen Verhandlungen wurden mit in die Gespräche über das Handelsabkommen geschleppt. Noch immer stehen sich der EU-Wunsch nach Regulierung und das Streben der Briten nach absoluter Autonomie gegenüber.

Die größte Gefahr für einen harten Brexit ist aber Johnson selbst. In den Verhandlungen ist auf britischer Seite ein Premierminister gefragt, der Schaden von seinem Land abwenden will. Zwangsläufig müsste Johnson dafür den Wahlkämpfer hinter sich lassen, der beim Referendum 2016 für einen Brexit warb und dafür die Emotionen vieler Briten nutzte. Aktuell orientiert der Premier seine Politik an den Vorstellungen der Brexit-Hardliner. Das schadet den Verhandlungen mit der EU und vertieft die Gräben in der ohnehin gespaltenen britischen Gesellschaft.

Für einen großen Poker ist das Blatt der Briten momentan zu schlecht, das weiß auch Brüssel. Wenn der Premier dann noch Drohungen ausspricht und Abkommen nicht einhalten will, sind das politische Bomben, die irreparable Schäden anrichten können. Noch nie standen die Verhandlungen so kurz vor dem Scheitern, noch nie war der Vertrauensverlust so groß. Die Zeit der Muskelspiele ist vorbei.

Verwendete Quellen
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