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Freiheit und Repression in Russland: Der Erfahrungsbericht eines Studenten


Freiheit und Repression
Wie mich Russland aus dem Land geworfen hat

MeinungEin Erfahrungsbericht von Lukas Latz

Aktualisiert am 04.08.2019Lesedauer: 14 Min.
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Lukas Latz am finnischen Bahnhof in St. Petersburg: Er verließ Russland mit dem Zug nach Helsinki.Vergrößern des Bildes
Lukas Latz am Finnischen Bahnhof in St. Petersburg: Er verließ Russland mit dem Zug nach Helsinki. (Quelle: Julia Schalgalijewa)

Verhört, unter Druck gesetzt – ausgewiesen: Ich lebte als Austauschstudent in Russland. Dort bekam ich es mit den Sicherheitsbehörden zu tun. Aber auch unerwartete Unterstützung.

Die offene Gesellschaft ist an ihren Trampelpfaden zu erkennen. Vom Gleis des Bahnhofs in Helsinki laufe ich über einen schmalen Pfad durch Wiese und Gestrüpp zum Bahnhofsvorplatz. Vor drei Stunden war ich noch in Russland. Dort sind Bahnhöfe abgeriegelt, es gibt Gepäckkontrollen fast wie an Flughäfen. Fernreisen sind nur mit Angabe der Reisepassdaten möglich. An einem russischen Bahnhof gibt es keinen Trampelpfad.

Dieser Pfad also zeigt an, dass ich wieder in der EU bin, und damit in Sicherheit. Russland liegt hinter mir. Das Land, in dem ich zehn Monate als Austauschstudent verbracht habe, an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg (SPbU). Das Land, in dem ich so viele mutige, kluge, solidarische Menschen kennen gelernt habe. Das Land, aus dem mich ohne Unterlass Nachrichten, Zuspruch und Dank erreichen. Das Land, das mich ausgewiesen hat.

Nicht, weil ich ein Verbrechen begangen oder einen Umsturz geplant hätte. Sondern weil ich mit Menschen gesprochen habe, die sich gegen einen mächtigen Lokalfürsten auflehnen. Weil ich für Zeitungen geschrieben habe, obwohl ich als Student im Land war, was riskant ist, das wusste ich. Weil ich mehrfach hereingelegt wurde. Weil mir unverhohlen gedroht wurde. Weil meine russische Gastuniversität tat, was den Sicherheitsbehörden passte. Obwohl sich in ganz Russland viele Menschen für mich eingesetzt haben, viel mehr, als ich für möglich gehalten hätte.

Ich wurde aus dem Land geworfen, deshalb und trotzdem – und das kam so.

Russische Gesetze als Fallstrick

Ich komme im August 2018 in St. Petersburg an und lebe ein normales Studentenleben. Die meiste Zeit verbringe ich in Sprachkursen und vor Russischbüchern, in Museen, Cafés und auf dem Fußballplatz. Zwischendurch besuche ich Demonstrationen, etwa gegen eine Rentenreform, die viele Russen auf die Straßen treibt, aber ich demonstriere nicht aktiv, ich rufe keine Parolen, ich trage keine Transparente, ich beobachte nur. Ich schreibe auf Facebook über meine Erfahrungen und dreimal auch Artikel für deutsche Zeitungen, etwa über das Gefängnissystem in Russland. Das ist heikel, mir ist das bewusst.

Welches Risiko ich eingehe, kann ich nicht genau wissen. Russland ist kein Rechtsstaat. Viele Gesetze funktionieren wie Fallen, die meistens nicht zuschnappen, manchmal aber schon. Wenn ein Bürger auffällt und jemand beschließt, dass er damit eine Grenze überschritten hat, suchen die Sicherheitsbehörden nach einem Gesetz, gegen das er verstoßen haben könnte. Meistens finden sie eins.

Ich arbeite schon länger als Journalist, und ich will es auch in Russland nicht lassen. Aber das Schreiben von Facebook-Posts und Artikeln ist nicht der Grund, warum ich im Land bin. Der Grund ist mein Studium, ist meine Abschlussarbeit über Umweltbewegungen in Russland.

Schon in den ersten Monaten habe ich den flüchtigen Eindruck, beobachtet und gegängelt zu werden. Um in die Gebäude der SPbU zu kommen, muss man seinen Studentenausweis an den Kartenleser eines Drehkreuzes halten. Im November 2018 funktioniert mein Ausweis plötzlich nicht mehr. Das Wachpersonal bekommt angezeigt, ich sei exmatrikuliert. Ich werde von Büro zu Büro geschickt, niemand kann oder will das Problem lösen. Von da an muss ich mit den Wärtern diskutieren, ob sie mich in die Universität lassen. Technische Panne oder Absicht? Ich weiß es nicht. Es bleibt ein Verdacht – und er bleibt unbeweisbar. So etwas ist üblich in Russland.

Im März 2019, als mein Russisch arbeitsfähig ist, mache ich mich dafür aus St. Petersburg auf in die 1,2-Millionen-Einwohnerstadt Tscheljabinsk im Südural. Mehr als 40 Stunden fährt man von St. Petersburg aus nach Südosten. Auf dem Weg liegt Jekaterinburg. Dort mache ich ein paar Tage Pause, quartiere mich in einem Hostel ein, schaue mir die Stadt an. Und ich bereite meine Arbeit in Tscheljabinsk vor.

Feldforschung bei schlechter Luft

Tscheljabinsk ist eine Industriestadt. Große Fabriken, schlechte Luft, belastetes Wasser. Knapp hinter der Stadtgrenze soll ein neues Kupferbergwerk gebaut werden, betrieben vom Unternehmen RMK, das dem Oligarchen Igor Altuschkin gehört. Er ist ein mächtiger Mann in der Gegend. Die Förderanlagen seines Kupferbergwerks würden viel Wasser verbrauchen und den Fluss anzapfen, der die Wasserversorgung von Tscheljabinsk garantiert.

Seit sechs Jahren kämpft eine soziale Bewegung gegen den Bau dieses Bergwerks. Viele Aktivisten bezahlen einen hohen Preis dafür. Nachdem das Unternehmen des Oligarchen Altuschkin Anzeige erstattet hatte, wurde ein Umweltschutzverein zum ausländischen Agenten erklärt und zur Auflösung gezwungen. Gegen einige Aktivisten laufen Strafprozesse. Anderen Aktivisten drohte der Arbeitgeber mit Kündigung. Mit diesen Aktivisten will ich für meine Forschungsarbeit sprechen.

Meine Recherche verläuft ohne größere Probleme. Ich führe Interviews, mache mir Notizen, schaue mich um. Zwölf Tage lang. Meine Erfahrungen schreibe ich auch für die deutsche Wochenzeitung "Jungle World" auf. Der Text erscheint am 18. April 2019.

Ausländische Beobachter sind für Oligarchen gefährlich

Mir geht es um Forschung. Aber als ausländischer Beobachter politischer Konflikte bleibe ich in Zentralrussland nicht ohne Bedeutung. Für die lokalen Umweltaktivisten sind Pressestimmen aus dem Ausland politisches Kapital. Wenn im Ausland Justizwillkür und politische Repressionen dokumentiert werden, nehmen das die regionalen Machthaber zur Kenntnis. Für sie ist das eine Warnung, dass sie sich mit Repressionen zurückhalten müssen.

Außerdem stelle ich in Tscheljabinsk nicht nur viele Fragen, die Aktivisten begegnen mir auch mit großer Neugier. Immer wieder soll ich erklären, wie ähnliche Konflikte in Deutschland ausgetragen werden. Natürlich erzähle ich und liefere ihnen damit den Beleg, dass das Handeln ihrer lokalen Machthaber nicht alternativlos ist und dass es in funktionierenden Rechtsstaaten anders zugeht.

Mehr als zwei Monate später, am 28. Mai gegen 21.30 Uhr, stehen plötzlich zwei Polizisten in unserer Wohnung in einem Petersburger Studentenwohnheim. Ohne Ankündigung, ohne Warnung. Wie so oft steht unsere Tür offen, da es am Haupteingang eigentlich Kontrollen gibt. Ob sie einmal in meinem Zimmer mit mir sprechen könnten, fragen sie. Ich habe nicht das Gefühl, eine Wahl zu haben.

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Die beiden setzen sich auf die einzigen Stühle in meinem 14-Quadratmeter-Zimmer, ich setze mich aufs Bett. Einer der beiden trägt Uniform. Er stellt sich als Aleksandr Pawlowitsch Petrenko vor, Polizist der Migrationsbehörde. Der zweite trägt Zivil und nennt nur seinen Vornamen, an den ich mich aber nicht erinnere. Einen Dienstausweis zeigt er nicht. Er sei Praktikant, sagt er. Er ist mindestens Mitte dreißig und wirkt nicht wie ein Anfänger. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass er im Zentrum für Extremismusbekämpfung oder beim Geheimdienst FSB arbeitet.

Vorwurf: Visums-Missbrauch

Petrenko, der Mann in Uniform, will mein Visum sehen. Er erklärt, dass ich den Zweck meines Visums nicht missbrauchen dürfe. Auf meinem Visum steht: "Ausbildung". Er fragt, ob ich tatsächlich zu Ausbildungszwecken nach Russland gekommen sei. Natürlich, sage ich. Er weiß, dass ich Osteuropastudien studiere, aber ich sei in Sankt Petersburg an der philologischen Fakultät eingeschrieben und hätte doch in Tscheljabinsk Interviews geführt. Philologen führen keine Interviews, heißt das wohl.

Das würde ausreichen, um mir Missbrauch des Visums anzulasten. Petrenko hat eine ausgedruckte DIN-A4-Seite von Paragraf 18.8 des russischen Verwaltungsgesetzbuches mitgebracht. Er liest mir Ausschnitte vor. Demzufolge können solche Vergehen mit einer Geldstrafe von bis zu 4.000 Rubel und mit Abschiebung bestraft werden.

"Nenn wenigstens einen Namen"

Damit ist aber noch nicht Schluss. Petrenko fragt mehrmals, was ich drei Tage in Jekaterinburg gemacht habe. Irgendwann sage ich, dass ich dort zum Teil Interviews vorbereitet hätte. Schon das gilt ihm als unerlaubte journalistische Tätigkeit. Die Polizisten fragen auch nach Gesprächspartnern. "Nenn wenigstens einen", sagt der Mann, der angeblich Praktikant ist. Ich überlege, wem ich am wenigsten schade. Schließlich nenne ich den Namen der Chefredakteurin einer lokalen Nachrichtenseite.

Während er am Schreibtisch sitzt, lässt Petrenko seine Zigarettenpackung auf den Boden fallen. Ich gebe sie ihm zurück. Das erinnert mich daran, dass die russische Polizei immer wieder Unschuldigen Drogen unterschiebt. Wegen Drogenbesitzes kann man sie dann jahrelang in Strafkolonien stecken. Im Januar 2018 ist das dem tschetschenischen Menschenrechtsaktivisten Ojub Titjew passiert, der zu vier Jahren in der Strafkolonie verurteilt wurde, nach anderthalb Jahren aber auf Bewährung freigelassen wurde. Anfang Juni 2019 ist das dem Investigativjournalisten Iwan Golunow passiert, der aufgrund des hohen öffentlichen Drucks aber wieder freigelassen wurde.

Schließlich stellt mir Petrenko zwei Bußgeldbescheide über je 2.000 Rubel aus, jeweils rund 28 Euro: einmal für das Führen von Interviews in Tscheljabinsk – und einmal für das Vorbereiten von Interviews in Jekaterinburg. Wer innerhalb eines Jahres zwei visumbezogene Ordnungswidrigkeiten begeht, gegen den kann man eine fünfjährige Einreisesperre verhängen. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich das nicht. Ich will nur keinen weiteren Ärger, akzeptiere die Geldstrafen, schreibe unter die Protokolle, dass ich meine Schuld eingestehe und keinen Übersetzer brauche. Ich werde zum ersten Mal hereingelegt.

Um 23.30 Uhr verlassen die beiden Männer meine Wohnung. Petrenko sagte, ich solle am nächsten Tag um 12 Uhr zur Migrationsbehörde kommen, um die Strafe zu bezahlen. Aber er lädt mich nicht offiziell vor. Als er aufsteht, lässt er seine Zigarettenpackung auf meinem Schreibtisch liegen. Ich gebe sie ihm wieder zurück.

Auch die Universität beobachtet mich

Am nächsten Morgen ruft mich aus der SPbU Ksenia Kulemitschewa an. Sie ist an meiner Fakultät für die Betreuung von Austauschstudenten zuständig. Freundlich, aber ohne Erklärung bittet sie mich, so schnell wie möglich in ihr Büro zu kommen. Ich nehme ein Taxi und entscheide, nicht zur Migrationsbehörde zu gehen. Unterwegs ruft mich der Polizist Petrenko an. Er wird laut: "Was hältst Du für wichtiger? Die Untersuchungsorgane der russischen Föderation oder irgendeine Koordinatorin?" Er droht erneut mit Abschiebung.

In der Universität erzählt Kulemitschewa, dass vor ungefähr einem Monat "eine bestimmte Abteilung der Universität" nach Dokumenten zu meiner Immatrikulation gefragt hätte. Offenbar eine Abteilung, die sich mit politischen Fragen beschäftige: "Ich habe dann auch mal mithilfe von Google Translate gelesen, was Sie so auf Facebook geschrieben haben. Aber eigentlich fand ich es nicht schlimm. Sie kommen aus einem anderen Land und haben deshalb andere Ansichten."

Sie bittet mich, ein Papier zu unterschreiben: "Verhaltensregeln für ausländische Studenten", darin steht, dass exmatrikuliert werden kann, wer russisches Recht verletzt. Ich soll es zurückdatieren auf den 31. August 2018, an den Beginn meiner Zeit in Russland. Ich will nicht, dass sie Probleme bekommt, und unterschreibe. Ich werde zum zweiten Mal hereingelegt. Letztlich wird dieses zurückdatierte Dokument eine der Grundlagen für meine Ausweisung.

An diesem Tag versuche ich insgesamt sieben Mal, im deutschen Konsulat in Sankt Petersburg anzurufen. Niemand hebt ab. Auch in den Tagen darauf nicht.

Extremismus-Vorwurf

Nach dem Treffen steige ich in ein Taxi, das mich zur Migrationsbehörde bringt. Die ist zu diesem Zeitpunkt offiziell geschlossen. Außer Petrenko sehe ich nur ein paar Putzkräfte.

Auf Petrenkos Schreibtisch liegt ein drei- oder vierseitiger Bericht über mich, dessen letzte Seite ich kurz überfliegen kann. Darin wird behauptet, dass ich im Oktober 2018 an "Demonstrationen gegen den FSB" teilgenommen habe. Tatsächliche habe ich eine Demonstration, bei der Kritik am FSB geäußert wurde, beobachtet und über Verhaftungen von Demonstranten etwas in meinem Blog geschrieben. In dem Bericht wird auch behauptet, dass ich in Jekaterinburg Zeit mit Umweltaktivisten verbracht hätte. Das ist falsch. Als Schlussfolgerung steht da, dass ich womöglich in Russland sei, um "tendenziöse Materialien zu verbreiten", was absurd ist. Wer das Dokument geschrieben hat, kann ich nicht erkennen. Unterschrieben ist es von einem "Natchalnik", irgendeinem Leiter oder Chef.

Auf seinem Smartphone zeigt mir Petrenko einen Artikel auf der Internetseite der deutschen Wochenzeitung "Jungle World" – meine Reportage über das Kupferbergwerk in Tscheljabinsk. Er hat sogar eine Übersetzung, die nicht von Google Translate stammt. Wer sie gemacht hat, sagt er nicht. Anhand der Übersetzung beginnt er, mit mir über einzelne Passagen zu diskutieren. Davon besitze ich eine Tonaufnahme.

Er wirft mir unter anderem vor, extremistische Inhalte zu rechtfertigen, was ein schwerwiegender Vorwurf in Russland ist. Wer in sozialen Netzwerken in Russland Inhalte teilt, die russische Sicherheitsbehörden als extremistisch einstufen, dem drohen hohe Geldstrafen oder gar mehrwöchige Haftstrafen.

"Warum hast du geschrieben, dass Stop GOK extremistisch ist?", sagte Petrenko. Stop GOK heißt die Kampagne gegen das Kupferbergwerk am Stadtrand von Tscheljabinsk.

"Ich habe das nicht geschrieben."

Er zeigt auf einen Satz aus der Übersetzung meiner Reportage: "In den lokalen Medien wird Stop GOK als Bewegung von Extremisten und Straftätern dargestellt."

"Da steht nicht, dass Stop GOK extremistisch ist", sage ich. Minutenlang drehte sich das Gespräch um diesen einen Satz.

Leben unter Beobachtung

Dreimal bitte ich ihn, mich gehen zu lassen. "Warte noch kurz", antwortet Petrenko dann, oder er stellt eine weitere Frage. Irgendwann stehe ich auf. Zusammen gehen wir zum Ausgang. Er kontrolliert erneut meine Papiere. "Sehen wir uns noch mal?", fragt er zum Abschied.

Nach diesem Tag muss ich davon ausgehen, dass entweder das Zentrum für Extremismusbekämpfung oder der Geheimdienst FSB ein Auge auf mich geworfen haben.

Vor den Verhören hatte ich geplant, eine russischsprachige Übersetzung meiner Tscheljabinsk-Reportage zu veröffentlichen. Jetzt zögere ich. Zwei Tage später stelle ich sie doch in meinen Blog. Ich mache das in erster Linie, um im Gespräch mit meinen Quellen in Tscheljabinsk zu bleiben: Aus Gründen der Transparenz. Damit sie wissen, was ich über sie geschrieben habe. Damit sie mich eventuell auf Fehler hinweisen können. Ich mache es auch, weil Russen es stets interessiert, wie Ausländer auf ihr Land blicken.

Über die Verhöre und über die Geldstrafe schreibe ich zudem einen Bericht für die russische Internetseite ovdinfo.org. Dort werden Informationen zu politischen Repressionen gesammelt. Der Blick auf andere Fälle zeigt mir, dass es klüger ist, sich mit allen Mitteln zu wehren, als schweigend zu hoffen, dass einen der Staat einfach in Ruhe lässt. Außerdem will ich mein Handeln nicht von Angst leiten lassen, als deutscher Staatsbürger droht mir sowieso weniger Gefahr. Aber dadurch wird die Angst erst einmal größer.

Im Rückblick würde ich sagen, die Entscheidung war richtig. Ohne die Veröffentlichungen hätte es wahrscheinlich keinen Skandal um meine Ausweisung gegeben. Sie wäre geräuschloser über die Bühne gegangen.

Fotos meines Zimmers

Anfang Juni plane ich für meine Masterarbeit eine weitere Recherchereise in ein Moorgebiet im russischen Norden, im Archangelsker Oblast. Im Sommer 2018 hatten der Gouverneur der Region Archangelsk und der Moskauer Bürgermeister vereinbart, in einem Moorgebiet im Südosten der Region eine 3.000 Hektar große Müllhalde für Moskauer Abfälle zu bauen. Von den Plänen hatte die lokale Bevölkerung nur zufällig erfahren, als dort Wald gerodet wurde. Die Archangelsker halten das Projekt für sehr gefährlich. Auf der Baustelle errichteten sie ein Protestcamp. Monatelang blockierten sie die Benzinzufuhr für die Baustelle.

Vor der Abreise mache ich Fotos von der Ordnung in meinem Zimmer, um nach meiner Rückkehr feststellen zu können, ob es durchsucht wurde. Ich vermeide es, Aktivisten aus Archangelsk zu kontaktieren, um nicht meine Reisepläne zu verraten.

Am intensivsten wird die Angst immer dann, wenn ich nichts zu tun habe. Zum Beispiel beim Warten auf den Zug. Am Ladogaer Bahnhof in Sankt Petersburg macht mich die hohe Polizeipräsenz nervös – eigentlich normal an russischen Bahnhöfen. Vor der Abfahrt des Zuges schalte ich mein Handy aus. Dann verkrieche ich mich in die dunkelste Ecke eines Cafés. Da ich beim Kauf des Tickets meine Reisepassdaten angegeben habe, dürfte die Polizei wissen, wohin ich fahre. Ich habe keine genaue Vorstellung, was mir passieren könnte. Ich stelle mir also erst recht alles Mögliche vor.

Mit Stalinisten im Moor

In dem Camp zelten 50 bis 60 Menschen. Die Protestbewegung besteht aus Liberalen, eher unpolitischen Menschen, Stalin-Verehrern, antisemitischen Nationalisten und Gläubigen, die gemeinsam ihre Heimat verteidigen. Während sie an Wachtposten Schichten schieben, streiten sie über die Bedeutung Stalins für die russische Geschichte, über Kapitalismus und über die Frage, ob es menschliche Rassen gibt. Trotzdem gehen sie respektvoll miteinander um.

Täglich gibt es Festnahmen, Aktivsten werden zu Geldstrafen verurteilt. Die Polizisten, deren Gesichter zumeist von Sturmmasken verhüllt sind, laufen mehrmals täglich Patrouille durch das Zeltlager. Die Aktivisten begleiten sie höhnisch mit Akkordeonliedern.

Eine Woche nach meiner Rückkehr nach Sankt Petersburg erreicht mich eine E-Mail meiner Universität. Betreff: "Dismissal from SPbU". Darin steht auf Englisch: "Mit diesem Schreiben informieren wir Sie, dass Sie durch den offiziellen Befehl Nr. 7192/3 von der Staatlichen Universität Sankt Petersburg exmatrikuliert sind. … In Anbetracht dessen … sind Sie verpflichtet, RUSSLAND INNERHALB VON SIEBEN TAGEN nach dem Erlass des Befehls ZU VERLASSEN."

Meine Ausweisung schlägt hohe Wellen

Ich beschließe, das Land zu verlassen, bevor ich es noch einmal mit der Polizei zu tun bekomme. Aber ich telefoniere noch mit einem Redakteur des Radiosenders Echo Moskau. Schnell geht die Nachricht von meiner Exmatrikulation und der Ausweisung durch die russischsprachige Welt.

Mein Fall wird innerhalb von Stunden zum Stadtgespräch in Sankt Petersburg. In Deutschland stellt man sich Russland oft als Land vor, in dem es keine Opposition gibt. Das ist falsch. Bekannte fragen, wie sie helfen können, Medien wollen Interviews. Am nächsten Morgen bitte ich auf meiner Facebook-Seite, an die verantwortlichen Stellen der SPbU zu schreiben, nach den Gründen meiner Exmatrikulation zu fragen und Sorge um den Zustand der Wissenschaftsfreiheit an der Universität zu bekunden. Der Aufruf wird fast 450 Mal geteilt.

Am Tag vor meiner Abreise erkennt mich in meinem Viertel jemand auf der Straße. Er heiße Artjom, wir hätten mal zusammen Fußball gespielt. Er habe von meiner Ausweisung gehört, erzählt er. Ich erzähle ihm, dass ich am nächsten Morgen das Land verlasse. "Dann hast du wohl keine Zeit, heute Abend zum Fußballplatz zu kommen, oder?", fragt Artjom. Aber warum eigentlich nicht?

Ich gehe hin. Auf dem Bolzplatz in dem Stadtteil Wassiljewski-Insel spielen circa 25 Jungen, die meisten im Teenageralter. Als ich zum Platz gehe, hören sie auf zu spielen. Fast alle applaudieren.

Die Alltäglichkeit des Präzedenzlosen

Am nächsten Morgen, dem Tag meiner Abreise, bin ich noch zu Gast in einer Live-Radiosendung der Petersburger Station von Echo Moskau. Ich rede mich in Rage über die mangelnde Rechtsstaatlichkeit im Land, über die arbiträre Macht von Polizei und Geheimdiensten, über den politischen Stillstand im Land. Trotz aller Angst macht das jetzt, ehrlich gesagt, auch großen Spaß. Als mich der Moderator Sergej Karermasow fragt, ob ich nach Russland zurückkommen will, muss ich an die Unterstützung und Empathie denken, die ich in den letzten Tagen erfahren habe. Ich breche kurz in Tränen aus. "Meine Mama hat mir gerade eine SMS geschrieben", sagt er kurz darauf: "Sie sendet dir Unterstützung."

Im Russischen gibt es ein prägnantes Wort – беспредел (gesprochen: bespredel) –, das sich nur umständlich mit "skandalöser, präzedenzloser Vorgang" übersetzen lässt. Ich weiß, dass meine Verhaftung беспредел wäre, dass ich wahrscheinlich nichts zu befürchten habe. Russland ist mich ja bald los. Aber skandalöse, präzedenzlose Vorgänge sind Teil des russischen Alltags. In politischen Diskussionen hört man ständig, wie jemand über ein беспредел flucht. Bis zu meiner Abreise bleibe ich deshalb nervös.

Einreiseverbot

Am Bahnhof umarmt mich eine ältere Frau, die mich morgens im Radio gehört hat. Sie schenkt mir Kühlschrankmagnete mit Bildern von Petersburger Sehenswürdigkeiten und zeigt Bilder von ihrem Vater, der in deutscher Kriegsgefangenschaft war. беспредел bleibt mir erspart. Ich steige kurz vor 15.30 Uhr in den Zug nach Helsinki und passiere anderthalb Stunden später die russisch-finnische Grenze. Es ist der 17. Juni 2019 und ich habe Russland verlassen.


Eine Woche später erfahre ich über einen Internetservice des russischen Innenministeriums, dass gegen mich ein Einreiseverbot verhängt wurde. Bis Anfang August, während ich den Text schreibe, weiß ich nicht, wie lang sie gilt. Auf Nachfrage erklärt mir das Innenministerium jetzt, dass ich bis zum 06. Juni 2023 nicht einreisen darf.

Die Auskunft des Innenministeriums lässt anklingen, dass die russischen Behörden mich schon sehr sehr viel länger im Blick hatten, als ich dachte.

In der Erklärung wird auf das Gesetz über die "Ein- und Ausreiseordnung" verwiesen. Demzufolge wird einem Ausländer die Einreise fünf Jahre lang verboten, wenn er "im Laufe eines Jahres zweimal oder häufiger zu einer administrativen Strafe verurteilt wurde (...)."

Allerdings wird mir auch mitgeteilt, die Einreisesperre gelte bereits seit dem 12. September 2018. Zu dem Zeitpunkt war ich aber gerade zwei Wochen im Land. Es ist mir ein Rätsel, welche Ordnungswidrigkeiten ich bis dahin begangen haben soll. Verurteilt wurde ich auf jeden Fall nicht. Oder man hat es mir nicht mitgeteilt. Kurioserweise erhielt ich trotz angeblichem Einreiseverbot später eine reguläre Verlängerung meines Visums.

Die einzige mögliche Erklärung für das Datum, die mir einfällt: Am 9. September war ich auf einer nicht genehmigten Demonstration gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Allerdings hatte ich während und nach der Demo keinen Kontakt zur Polizei.

So oder so: Ich darf fünf Jahre lang nicht nach Russland einreisen. Sollte ich es trotzdem tun, drohen mir eine Geldstrafe von circa 4.000 Euro oder bis zu vier Jahre Gefängnis.

Offenlegung: Lukas Latz, 26, arbeitet als Journalist und war vor seiner Zeit in St. Petersburg studentischer Mitarbeiter von t-online.de.

Verwendete Quellen
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